Der kreative Kontinent – Kann Europa von Afrika lernen?
Konferenz „Africa and Europe Moving Forward“
Leuphana Universität Lüneburg, 24. Januar 2019
I.
Eine gute Rede beginnt seit der Antike meistens mit einer sogenannten „captatio benevolentiae“, der „Erheischung des Wohlwollens“ des Publikums, indem der Redner irgendetwas Schmeichelhaftes über seine Zuhörer sagt. Wenn ich Ihnen jetzt also sage „Ich freue mich immer sehr, wenn ich nach Lüneburg komme“, dann müssen Sie mit gutem Grund annehmen, dass es mir nur darum geht, Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit für diesen langen Vortrag zu bekommen, und dass ich ähnliches auch sagen würde, wenn ich heute Abend in, sagen wir, Castrop-Rauxel sprechen würde. Dass ich mich aber wirklich immer sehr freue, wenn ich nach Lüneburg komme, das sollten Sie mir deshalb glauben, weil erstens mein Vaterherz immer höher schlägt, wenn ich meine hier lebende Tochter besuche. Und zweitens bekomme ich eben durch Ulrike, die an der Leuphana als Literaturwissenschaftlerin lehrt und forscht, stets auch ein wenig Einblick in diesen besonderen Geist, der hier herrscht: diese Beweglichkeit und Neugier und Experimentierfreudigkeit, die ja dem Wissenschaftsbetrieb nicht überall zu eigen ist, die prägt jede Generation von Studierenden an der Leuphana aufs Neue. Auf mich wirkt das immer wieder ansteckend; mir gibt das Zuversicht, dass unsere jungen Leute gut auf die Zukunft vorbereitet werden, und deshalb, meine Damen und Herren, glauben Sie mir, wenn ich sage: Ich freue mich immer sehr, wenn ich nach Lüneburg komme.
Und natürlich freue ich mich ganz besonders, dass ich im Rahmen der in diesen Tagen stattfindenden Konferenz „Africa and Europe moving forward“ sprechen darf. Ich bin sehr froh über das in den letzten Jahren gestiegene Interesse am afrikanischen Kontinent. Gleichzeitig muss ich aber auch ehrlich zugeben, dass ich manchmal innerlich zusammenzucke, wenn ich Einladungen für solche Vorträge erhalte, und zwar dann, wenn ich als sogenannter „Afrika-Experte“ angefragt werde. Ich habe vor einigen Jahren eine Rede gehalten mit dem Titel „Von der Unmöglichkeit, über Afrika zu sprechen“, da begründe ich, warum ich nicht glaube, dass es so etwas wie einen alles überblickenden „Afrika-Experten“ geben kann, denn dafür ist dieser Kontinent viel zu groß und komplex und widersprüchlich. Unsere Ehrfurcht vor der Vielfalt dieses Kontinents muss unserem Sprechen über Afrika Demut lehren. Mehr und mehr stört mich an dem Begriff des Afrika-Experten zudem, dass er die Afrikapolitik an die Experten delegiert und damit suggeriert, die wirklich relevante Politik spiele woanders. Ich gebe also zu, dass ich den Titel des „Afrika-Experten“ nur mit einem gewissen Widerwillen trage, nicht weil er mich kleiner machen würde, sondern weil er Afrika kleiner macht, diesen großen, stolzen, wichtigen Kontinent. Das Nachdenken über Afrika gehört nicht in die Nische der Experten, sondern in die Breite der Gesellschaft, und auch deshalb bin ich dankbar, dass wir diesen Abend miteinander ins Gespräch kommen.
II.
Meine Damen und Herren,
es gibt derzeit in der öffentlichen Diskussion, in Medien und Politik, eigentlich weiterhin nur zwei Geschichten, die über Afrika erzählt werden: die eine ist eine Geschichte des Leids, die Mitleid hervorruft, also das uns vertraute Afrika des Hungers, der Armut und der Kriege. Die andere ist eine Geschichte der Bedrohung, die Angst hervorruft; im Grunde auch dies ein jahrhundertealtes Motiv der Furcht vor dem schwarzen Mann, der Europa überrennt, das jetzt im Zuge der alles dominierenden Migrationsdebatte wieder stark wird. Beide Diskurse, der des Mitleids und der der Angst, verengen unseren Blick auf die afrikanische Wirklichkeit, und sie produzieren Lösungen, die ebenso verengt und damit irreführend sind.
Dabei gäbe es auch andere Geschichten. Vorgestern wurden die Nominierungen für die diesjährigen Academy Awards, die Oscars, bekanntgegeben. Der Film „Black Panther“ wurde dabei als bester Film des Jahres nominiert. „Black Panther“, ein Superhelden-Epos aus dem Universum des Comic-Verlags Marvel, war letztes Jahr der Film mit dem zweitbesten Einspielergebnis weltweit und zählt jetzt schon zu den 10 kommerziell erfolgreichsten Filmen der Kinogeschichte. Das ist deshalb eine Sensation, weil die Hauptdarsteller ausschließlich schwarz sind, und das galt in Hollywood bisher nicht gerade als Erfolgsrezept. „Black Panther“ spielt im fiktionalen afrikanischen Staat Wakanda, einem Land, das nie kolonialisiert wurde, das aber dank des dort vorhandenen Supermetalls Vibranium die technisch höchstentwickelte Nation der Welt ist, also zum Beispiel voller fliegender Fahrzeuge, geräuschabsorbierender Schuhe und regenerativer Medizin. Aus Selbstschutz versteckt Wakanda jedoch seinen Fortschritt vor der Welt hinter einer Kulisse eines armen, ländlichen, kaum entwickelten afrikanischen Staates.
Ich weiß, es ist eigentlich ein absolutes No-Go, aber ich möchte Ihnen dennoch gerne die Schlussszene des Filmes erzählen. (Wenn Sie das Ende nicht verraten bekommen wollen, halten Sie sich bitte jetzt die Ohren zu. „Spoiler Alert“ nennt man das heutzutage, glaube ich.) In der Schlussszene also hält der König von Wakanda eine Rede vor den Vereinten Nationen und verkündet, dass Wakanda sein Wissen und seine Ressourcen von nun an mit den anderen Ländern der Welt teilen werde. Er erhofft sich dadurch, die Menschheit zu einen und denen zu helfen, die in Not sind. Da meldet sich ein Vertreter aus einem anderen Land – ein weißer Mann – und fragt in einem ungläubigen, herablassenden Ton, was ein Ort wie Wakanda dem Rest der Welt denn überhaupt bieten könne. Und langsam zoomt die Kamera in das Gesicht des Königs, der einfach nur wissend lächelt.
Was an dieser Szene, ja an dem ganzen Film, so spannend ist, das ist nicht einfach nur, dass hier die kulturell tief verwurzelte Hierarchie zwischen Afrika und dem Rest der Welt, wonach Afrika ja klar die Rolle des Hilfsempfängers innehat, einfach auf den Kopf gestellt, umgekehrt wird. Nein, bezeichnend ist vor allem auch die Frage des westlichen UN-Botschafters, denn sie entlarvt, dass diese Umkehr der Verhältnisse, dass ein positives Angebot Afrikas an die Welt offenbar außerhalb seiner Vorstellungskraft liegt.
Und genau aus diesem Grund habe ich als Frage für den heutigen Vortrag formuliert „Kann Europa von Afrika lernen?“. Ich habe nicht gleich gefragt „Was kann Europa von Afrika lernen?“, denn dann könnte man etwas allzu schnell bei einer mehr oder weniger überzeugenden Liste von Dingen landen, die Europäer an Afrika faszinierend finden, die Lebensfreude etwa oder das Rhythmusgefühl oder die Naturverbundenheit. Und schon wäre man in die Falle getappt; schon hätte man Afrika auf seine Erfüllung europäischer Phantasien reduziert.
Nein, mich interessiert zunächst nicht die Frage nach dem Was, sondern die Frage nach dem Ob. Ich frage „Kann Europa von Afrika lernen?“, weil das den Blick weglenkt von Afrika auf uns selbst, auf die Lernfähigkeit Europas. Können wir das, von Afrika lernen? Es ist die Frage, ob wir Europäer überhaupt die Vorstellungskraft entwickeln können, Afrika in einer anderen Rolle zu sehen, als die, welche wir unserem Nachbarkontinent über die Jahrhunderte hinweg zugewiesen haben.
Wir werden also heute Abend, um noch einmal bei Black Panther zu leihen, nicht nur über Wakanda zu sprechen haben, sondern mindestens genauso viel über diesen weißen Botschafter und seine arrogante, ignorante Frage. Wir werden fragen müssen, ob wir überhaupt ein Bewusstsein dafür haben, wie sehr die Geschichte, die wir seit Generationen über Afrika erzählen, unsere Geschichte ist; wie sehr das Bild, das wir von Afrika haben, viel mehr über uns aussagt als über Afrika. Wir werden fragen müssen, ob wir schon ausreichend erkannt haben, wie sehr unser eigenes Schicksal mit der afrikanischen Zukunft zusammenhängt. Und dann werden wir hören, welche Chance darin läge, wenn die Afrikaner endlich ihre eigene Geschichte erzählen könnten, und welch große Hoffnung wir hegen dürfen, wenn es uns gelänge, Afrika und Europa als voneinander Lernende zu begreifen.
III.
Meine Damen und Herren,
wer der Norm entspricht, der kann es sich leisten, die Existenz dieser Norm zu bezweifeln. Deshalb bin ich mir manchmal nicht sicher, ob wir, die weißen Europäer, uns überhaupt bewusst sind, wie belastet, wie verengt unser Blick auf Afrika ist; ob wir überhaupt noch wahrnehmen, wie sehr die Welt nach unserer Norm, der Norm des weißen Europäers, strukturiert ist. Nein, ich korrigiere mich: wie sehr wir sie nach unserer Norm strukturiert haben, in einem jahrhundertelangen, oft brutalen Prozess der Unterdrückung und Ausbeutung.
Der heutige Reichtum des Westens, der USA und Europas, basiert nicht zuletzt auch auf der langjährigen systematischen Ausbeutung afrikanischer, schwarzer Ressourcen und Menschen, auf Sklaverei, Kolonialismus und Rassentrennung. Einige von Ihnen wissen sicherlich, dass in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal ein kleines Örtchen namens Lüneburg existiert, das 1854, also vor 165 Jahren, von Lutheraner Missionaren gegründet wurde. Die Tatsache, dass es ein Lüneburg in Südafrika gibt, aber kein Lilongwe in Niedersachsen, auch sie weist uns darauf hin, dass die afrikanisch-europäische Geschichte eine klare Richtung, Hierarchie hat, ein Oben und ein Unten, dass sie von Norden nach Süden strukturiert ist. Als in den Jahren 1884/85 die Kolonialmächte bei der Berliner Konferenz den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, da war das ein Akt der Strukturierung der Welt nach der Norm des weißen Mannes, eine Strukturierung, die sich um die afrikanische Realität nicht kümmerte. Die Folgen halten bis heute an, nicht nur in Form von Grenzen auf Landkarten, sondern auch in Form von Zuschreibungen in unseren Köpfen, und die Afrikaner kämpfen bis heute mit der Lücke zwischen den stereotypen Zuschreibungen von außen und ihrer eigenen vielfältigen Realität. Der Nullmeridian verläuft durch Greenwich, London, und bis heute nehmen wir Europäer die Welt, und vor allem Afrika, fast ausschließlich in ihrem Bezug auf Europa wahr – übrigens vor allem in ihrem defizitären Bezug auf Europa. Die grundlegende Frage ist: Wer hat eigentlich die Deutungshoheit? Wer hat die Deutungshoheit darüber, was Mensch sein bedeutet, darüber, was Entwicklung bedeutet, darüber, was Afrikanisch ist?
Lassen Sie mich das an drei konkreten Beispielen illustrieren, aus der Mode, aus der Entwicklungspolitik, und aus der Welt der Kunst und Kultur.
Deutungshoheit, erstes Beispiel: es gibt in Afrika einige Länder mit einer aufstrebenden Modedesign-Industrie, in Westafrika etwa im Senegal, in Ostafrika zum Beispiel in Kenia. Die dortigen Designerinnen sind auf dem internationalen Modemarkt zunehmend erfolgreich, sehen sich aber oft mit einem absurden Vorwurf konfrontiert: dass ihre Mode nämlich nicht afrikanisch genug sei. Offenbar sucht die globale Modeindustrie zwar gerne nach Inspiration vom Kontinent, will aber andererseits möglichst – Achtung! – „authentisch afrikanische“ Mode haben. Authentisch afrikanisch, das heißt natürlich vor allem: konform mit den Klischeebildern, die wir im Westen von afrikanischer Mode haben. Die kenianische Designerin Katalungu Mwenda fragt in einem Interview entnervt: „Warum möchten Sie meine Kreativität eingrenzen? Meinen Sie etwa, dass meine Mode immer bunt und gemustert sein muss, nur weil ich von diesem riesigen und unglaublich diversen Kontinent komme?“
Deutungshoheit, zweites Beispiel: Ich habe in meiner Zeit als Bundespräsident eine Initiative ins Leben gerufen, die hieß „Partnerschaft mit Afrika“. Bis heute bekomme ich Presseanfragen hierzu, die das als „Partnerschaft für Afrika“ betiteln. Die Definition von oben und unten, die Unterscheidung zwischen Handelnden und Behandelten, sie schlummern offenbar tief in unserem europäischen Bewusstsein. Wer sich mit der Sprache des zivilisatorischen Eifers auseinandersetzt, mit dem unsere kolonialen Vorfahren ihre Unterdrückungskampagnen in Afrika rechtfertigten, der merkt schnell, dass das nicht weit entfernt ist von so manchem gutgemeinten Sprechen über Afrika heute. Mit welcher Sprache, welchem Afrikabild machen wir eigentlich Entwicklungspolitik? Schauen Sie sich mal den Text des bekannten Charity-Popsongs von Bob Geldof’s „Band Aid“ aus dem Jahr 1984, „Do they know it’s Christmas?“ an, da heißt es (ich habe das für Sie auf Deutsch übersetzt):
Es gibt eine Welt vor deinem Fenster
Und es ist eine Welt der Angst und Furcht
Wo das einzige Wasser, das fließt,
Der bittere Strom der Tränen ist
Und die Weihnachtsglocken, die dort läuten, sind die klirrenden Glockenschläge des Untergangs
Nun, heute Nacht, danke Gott dafür, dass sie es sind und nicht du!
Und diese Weihnacht wird es keinen Schnee geben in Afrika
[…]
Wo nichts jemals wächst
Kein Regen oder Fluss fließt
[…]
Unter dieser brennenden Sonne
Wissen sie überhaupt, dass die Weihnachtszeit angebrochen ist?
Da gruselt’s einen, oder? Und nein, das ist kein Relikt aus den Achtzigern: Das Lied wurde erst 2014 zum 30. Jubiläum wieder neu eingesungen, in Großbritannien gab’s dafür die goldene Schallplatte. Haben wir den Paternalismus gegenüber Afrika wirklich hinter uns gelassen? Könnte es sein, dass sich nicht zuletzt dort, wo man es besonders gut meint, das Klischee der hilflosen Afrikaner auf der einen und der rettenden Europäer auf der anderen Seite besonders hartnäckig hält?
Deutungshoheit, drittes Beispiel: 90% aller afrikanischen Kunstschätze befinden sich außerhalb von Afrika, vor allem in französischen, britischen und deutschen Museen. Fast alle dieser Kunstwerke – Schmuck, Statuen, Masken, Schwerter, Türen, Throne – wurden von den Kolonialherren entweder geraubt oder zu lächerlichen Preisen gekauft. Mit der Plünderung seiner Kunst wurde der afrikanische Kontinent massiv in seiner kulturellen Identität geschwächt, und das setzt sich bis in die Gegenwart fort, solange die Auseinandersetzung mit diesen Objekten und ihrer Geschichte von den Europäern gesteuert wird. Vor wenigen Monaten hat eine vom französischen Präsidenten eingesetzte Kommission empfohlen, dass Frankreich alle afrikanischen Kunstwerke in seinem Besitz an die afrikanischen Staaten zurückgeben sollte. Hier in Deutschland keimt diese Restitutionsdebatte ebenfalls auf, nicht zuletzt im Kontext des neuen Humboldt Forums in Berlin. Das Thema erhitzt die Gemüter der Kunst- und Museumswelt, und manche tun sich schwer dabei, etwas von ihrer gewohnten Deutungshoheit abzugeben. Ein bekannter französischer Kunsthistoriker erklärte vor einigen Wochen im Fernsehen, dass die Schätze von den Afrikanern ja gar nicht als Kunst gemeint worden waren – und erst dadurch zur Kunst geworden sind, dass die Europäer sie zur solchen erklärt haben und sie in ihren Museen ausgestellt haben. Und auch von so mancher deutscher Edelfeder konnte man lesen, dass man den Afrikanern lieber nichts ihrer Kunst zurückgeben sollte, denn die könnten ja sowieso nicht ordentlich damit umgehen. Der südafrikanische Satiriker Trevor Noah, der in den USA die „Daily Show“ moderiert, hat dieses europäische Argument gegen die Restitution auf bissige Weise zusammengefasst (und ich zitiere, wie er die Europäer nachahmt): „Ihr Afrikaner könnt nicht auf eure Kunst aufpassen! Wir wissen das, schließlich haben wir sie von euch gestohlen!“.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Mir geht es mit diesen Beispielen nicht um europäische Selbstgeißelung. Es geht auch nicht um Schuldzuweisungen. Es geht darum, dass wir den Knick in unserer Optik erkennen, dass wir zumindest anerkennen, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, die Deutungshoheit zu besitzen, den Diskurs nach unserer Perspektive zu strukturieren. Wie groß die Lücke zwischen unseren Zuschreibungen und eben der afrikanischen Realität ist.
Es geht darum, dass die Perpetuierung kolonialer Denkweisen, so subtil sie auch sein mögen, eben auch die Probleme perpetuiert, welche durch diese Denkweisen erzeugt wurden.
IV.
Lassen Sie uns kurz über Probleme sprechen. Ja, in Afrika gibt es korrupte Präsidenten und Regierungen. Viel zu viele. Um es ganz klar zu sagen: Die Verantwortung für die Zukunft Afrikas tragen in allererster Linie die Afrikaner selbst. Doch die Klage über die endemische Korruption in Afrika, die hierzulande ein beliebtes Totschlagargument zu sein scheint, sie ist in der Sache sicherlich nicht falsch, ich halte sie im Tonfall aber auch für wenig hilfreich, bisweilen gar für verräterisch: weil sie verschweigt, dass oft nicht nur afrikanische Eliten, sondern auch Akteure von außen massiv an der Korruption beteiligt sind; weil sie oft nur eine Ausrede für die eigene strategische Rat- und Tatenlosigkeit gegenüber Afrika ist; weil die lautesten und mutigsten Proteste gegen die Korruption aus der afrikanischen Zivilgesellschaft selbst kommen; und weil sie den Blick verstellt auf die vielen Fortschritte, die es in vielen Teilen des Kontinents unbestreitbar gibt: Im „Doing Business“ Index der Weltbank liegt das bestplatzierte afrikanische Land, Mauritius, vier Plätze vor Deutschland; Ruanda liegt vor Frankreich und Kenia vor Griechenland. Im Korruptionsindex von Transparency International ist Botswana besser platziert als Polen, und Namibia besser als Italien. Das alles macht die herrschende Korruption in vielen Ländern Afrikas nicht besser, rückt aber so manches Pauschalurteil in Perspektive.
Und auch bei der politischen Entwicklung muss man differenzieren: Der von der Mo Ibrahim Stiftung erarbeitete, umfangreiche Index für gute Regierungsführung in Afrika stellt fest, dass es in den vergangenen zehn Jahren bei Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit klare Verbesserungen gegeben hat – wenn auch in den letzten fünf Jahren verlangsamt. Müssen wir uns über die Zukunft der Demokratie aber nicht auch bei uns Sorgen machen, wenn wir den global aufkommenden Autoritarismus beobachten, oder von den Möglichkeiten der Manipulation von demokratischen Wahlen im Zeitalter der Digitalisierung erfahren? Vielleicht sollten wir die Diskussion um die afrikanische Demokratie mit etwas weniger Selbstgerechtigkeit führen, sondern in einen größeren Kontext stellen, was eigentlich die Voraussetzungen von Demokratie sind und wie sie zu erhalten ist, bei uns und woanders.
Könnten wir den Dialog über die Probleme Afrikas, die es ja unbestreitbar gibt, nicht tatsächlich mit einem neuen Bewusstsein unserer eigenen Unzulänglichkeiten führen? Ach, es würde unsere Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Demokratie so viel glaubwürdiger machen. Die Afrikaner wissen ja längst, welche Probleme auch wir in Europa haben. Kofi Annan hat mich immer gerne aufgezogen mit der Unfähigkeit, den Berliner Flughafen fertigzustellen. Früher wurde ich in Afrika immer viel nach der europäischen Integration und der Schaffung einer gemeinsamen Währung, dem Euro, gefragt, weil man darin ein mögliches Modell für sich selbst sah, aber die Nachfrage hat da merklich abgenommen. Und der Diesel-Täuschungsskandal hat auch in Afrika Fragen über „Made in Germany“ aufgeworfen. Vielleicht liegt darin ja eine Chance. Vielleicht hilft uns das, wegzukommen von der unterbewussten Vorstellung von Entwicklung als rein linearem Prozess des Aufholens, mit uns als Vorbild und den Afrikanern als Nachzüglern, Nachahmern. Können wir uns eine afrikanische Moderne vorstellen, die sich nicht an uns orientiert, sondern die etwas Eigenes ist, etwas pluralistisches, sich in viele Richtungen entfaltendes, als ein Nebeneinander von Lokalem und Globalen, von Tradition und Innovation, kurz: eine afrikanische Moderne sui generis? Und dann, weiter noch, könnte daraus vielleicht ein Entwicklungsbegriff entstehen, der nicht mehr einteilt in „Entwicklungsländer“ und „entwickelte Länder“, sondern der deutlich macht, dass wir im 21. Jahrhundert überall eine Entwicklung brauchen, eine Große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen? Eine Transformation, in der wir alle, egal wie arm oder reich, in einem Suchprozess sind; eine Transformation, die der unentrinnbaren Interdependenz auf diesem Planeten Rechnung trägt – ich nenne nur die Stichworte Ressourcenknappheit, Klimawandel, Terrorismus, Pandemien.
Aus einem solchen neuen Entwicklungsbegriff entstünde dann auch ein neuer Blick auf das Verhältnis Europas mit Afrika. Ein Verhältnis, das trotz aller bestehenden Asymmetrien Augenhöhe ermöglichte, ganz ohne Mitleid und ohne Angst, nur mit Neugier und ein wenig Demut, weil wir uns als gemeinsam Lernende begriffen. Dann, dann endlich lautete die Frage nicht mehr einfach „Was kann Afrika von den Europäern lernen?“ sondern auch „Was kann Europa von den Afrikanern lernen?“
V.
Mit dieser Frage im Kopf könnten wir zuhören, wenn wir die Afrikaner endlich ihre eigene Geschichte erzählen lassen. Ihre eigene Geschichte, denn Afrikas Transformation kann nur aus sich selbst heraus kommen, nicht aus unserem Sendungsbewusstsein und nicht aus unseren Belehrungen.
Afrikas Geschichte, ich lasse sie mir am liebsten von jungen Afrikanern erzählen. Wenn es ein Pauschalurteil gibt, das über den gigantisch diversen afrikanischen Kontinent zulässig ist, dann jenes, dass dies ein Kontinent der Jugend ist. Afrika hat eine Bevölkerung, die so rasant wächst und so jung ist, dass sie zu einem ökonomischen und sozialen Faktor auf diesem Globus geworden ist, den niemand weiter ignorieren kann. Die Bevölkerung wird sich bis ins Jahr 2050 wohl verdoppeln auf 2,5 Milliarden Menschen – dann werden etwa 25% der Weltbevölkerung Afrikaner sein, nur etwa 5% Europäer. Dann wird einer alternden europäischen Gesellschaft die größte Jugendbevölkerung in der Geschichte der Menschheit gegenüber stehen: auf unserem Nachbarkontinent sind schon heute die Hälfte aller Menschen jünger als 18 Jahre. In Deutschland liegt das Median-Alter bei etwa 47. Für mich steht fest: Der Jugend Afrikas Perspektiven zu geben, das ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Hier wächst eine Macht heran, mit der zu rechnen ist, im Guten wie im Schlechten. Ich sage bewusst „Macht“ – weil ich glaube, dass genau das die richtige politisch-strategische Einordnung ist, mit der wir auf diese globale Herausforderung blicken sollten; genauso, wie wir auch den Aufstieg Chinas oder die Digitalisierung als neue Machtfaktoren in der Weltpolitik begreifen.
Aber die Zahlen alleine erzählen sie noch nicht, die Geschichte. Man muss ihnen schon zuhören, den jungen Menschen. Das gilt übrigens vor allem auch für die afrikanischen Führer selbst. Nirgendwo ist der Abstand zwischen dem Durchschnittsalter der Bevölkerung und dem Durchschnittsalter der politischen Führung so groß wie in Afrika. Dabei stellen die jungen Leute die Mehrheit! Deshalb ist die Frage der Jugendpartizipation in Afrika eine der wichtigsten Fragen für die afrikanische Demokratie überhaupt. Die Kernfrage, die über Afrikas Zukunft, aber auch über unsere eigene entscheiden wird: Schaffen wir es, die große Wagnisbereitschaft, Kreativität und Hartnäckigkeit der afrikanischen Jugend zur transformativen Kraft auf ihrem Kontinent werden zu lassen?
Wenn immer ich die Gelegenheit habe, sei es in Afrika oder in Deutschland, treffe ich mich mit Gruppen von jungen Afrikanern und frage nach ihren Geschichten. Da gibt es den jungen Mann, den ich in der Elfenbeinküste traf, der mir von seinen verzweifelten Versuchen erzählte, seinen Freund dazu zu überreden, mit ihm einen Friseursalon in Abidjan zu eröffnen, anstatt nach Frankreich auszuwandern. Da gibt es die junge Nigerianerin, die ich vor wenigen Monaten hier in Berlin traf, die ein FinTech, also ein Start-Up im Finanzbereich gegründet hat: und zwar eine App, die Menschen mit wenig Einkommen dabei hilft, Kleinstbeträge zu sparen. Und da gibt es den Rapper Thiat aus dem Senegal, der mit seiner Band die Protestbewegung „Y’en a marre“ (französisch für „Wir haben die Schnauze voll“) angeführt hat, die zur demokratischen Abwahl des letzten Präsidenten beitrug, und als er mir von der Situation in seinem Land berichtete, voller Zorn und Liebe, voller Hoffnung und Ungeduld, da ahnte ich wieder einmal, welch große Kraft in dieser afrikanischen Jugend steckt.
Ich bin immer wieder beeindruckt von der unglaublichen Energie und Kreativität dieser Generation. Da ist ein Einfallsreichtum, ein Durst auf Lernen, wie man ihn – entschuldigen Sie, liebe Leuphana-Studenten – im gesättigten Deutschland eher selten antrifft. Millionen afrikanischer Kinder gehen zu Fuß zur Schule, oft kilometerweit, in sengender Hitze und bei strömendem Regen, auf kleinen Pfaden und neben staubigen, vielbefahrenen Straßen. Ich kann mir vorstellen, dass sich da eine Widerstandsfähigkeit, ein Durchhaltevermögen entwickelt, das so manchem europäischen Kind fehlt – entschuldigen Sie, liebe Helikopter-Eltern. Und die Spannung zwischen eigenen Ambitionen und den vielen großen und kleinen Problemen im täglichen Leben gebiert einen Unternehmergeist, ein immer wieder auf Neues sich Zurechtfinden, Problemlösen, das durchaus afrikanisch genannt werden darf.
Wo echter Bedarf und Kreativität aufeinandertreffen, entsteht Innovation. Das ist an vielen Ecken des Kontinents zu spüren. Nirgendwo auf der Welt schreitet die Digitalisierung schneller voran. Die Elfenbeinküste hat eine bessere 4G-Netzabdeckung als Deutschland. In Ruanda werden Blutkonserven mit Drohnen verschickt. Kenia ist weltweit einer der Vorreiter beim bargeldlosen Bezahlen. Wenn wir über die Zukunft der Weltwirtschaft nachdenken, dann sollten wir vielleicht öfters nach Afrika blicken. Manchmal habe ich jedenfalls den Eindruck, dass es bei uns nur noch darum geht, Bedürfnisse der Konsumenten überhaupt erst zu wecken und zu erfinden, anstatt über echte Lösungen für echte Probleme nachzudenken.
VI.
Meine Damen und Herren,
Wer genau hinhört und hinschaut, der wird Zeuge einer Transformation von historischem Ausmaß. Das heutige Afrika ist ein Kontinent der rastlosen Bewegung, der permanenten Veränderung. Es ist deshalb eine Transformation voller Ambivalenzen. Nicht alles erschließt sich sofort, denn Afrika verändert sich viel schneller als unser Bild von ihm. Klar ist nur: Dieser Weltteil wird die Geschichte des 21. Jahrhunderts prägen. Und dieser Prägungsprozess hat längst begonnen, auch wenn wir erst allmählich begreifen, was das auch für uns bedeutet.
In dem berührenden Roman „Underground Railroad“ des afro-amerikanischen Schriftstellers Colson Whitehead, der 2017 den Pulitzer Preis gewonnen hat, gibt es einen Schlüsselmoment, der mir wie eine wundersame Bebilderung unserer heutigen Weltverhältnisse erscheint. Die aus den Südstaaten entflohene Sklavin Cora findet in den Nordstaaten Unterschlupf und arbeitet als Darstellerin in einem Völkerschaumuseum. Hinter einer Glaswand muss sie über Stunden hinweg mit anderen Schwarzen eine vermeintliche Alltagsszene in einem afrikanischen Dorf nachstellen. Die weißen Museumsbesucher gaffen und starren, machen obszöne Gesten, klopfen an die Scheibe. Und Cora beginnt, trotzig und mutig, zurückzustarren, ihren Zuschauern direkt in die Augen zu schauen, die stets erschrocken den Blick abwenden. Cora verwandelt sich plötzlich vom Objekt in ein Subjekt. Ich zitiere den Roman: “Es war eine schöne Lektion, fand Cora, zu lernen, dass der Sklave, der Afrikaner in ihrer Mitte, sie [die Menschen] ebenfalls anschaute“.
Könnte es sein, dass wir gegenwärtig so unruhige Zeiten erleben, weil sich vor unseren Augen Objekte in Subjekte verwandeln? War die Flüchtlingskrise der Moment, in dem die Welt zurückstarrte auf ein Europa, welches daran gewöhnt war, dass die Richtung unserer Beziehungen zur Welt immer von Norden nach Süden verlief? Erkennen wir vielleicht derzeit erschrocken und verunsichert, dass uns von der gemeinsamen, fragilen Menschlichkeit mit unserem Nachbarkontinenten nicht mehr trennt als ein paar Kilometer Meerenge, genauso wie zwischen Cora und ihren Gaffern plötzlich nicht mehr als eine Glasscheibe war, als sie ihren Blick erhob?
Wenn das so ist, dann könnten wir im Einüben eines neuen, wechselseitigen Blicks zwischen Afrika und Europa auch lernen, was wir offenbar dringend lernen müssen: nämlich, uns in einer Welt zurecht zu finden, in der unsere Perspektive, die europäisch-westliche Perspektive, nicht mehr die einzige maßgebende in dieser Welt ist. Eine Welt, in der unsere Kreativität nicht mehr die allein treibende ist. Ich glaube, dass die gegenwärtigen Umbrüche die Geburtswehen eines neuen Zeitalters sind, in dem die von uns strukturierte Welt an Bedeutung verliert, in der aber gleichwohl unser Wohlstand zum global gültigen Maßstab geworden ist, an dem sich die Ambitionen einer gigantischen Jugendbevölkerung orientieren. Ein Wohlstand, der mit einem solchen Ressourcenverbrauch einhergeht, dass er angesichts der Grenzen unseres Planeten physisch nicht universalisierbar ist. Den geopolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Transformationsprozess, den dieser Widerspruch zwangsläufig auslöst, kann man betrauern, man kann ihn verleugnen, man kann auf ihn angstvoll reagieren, man kann sagen „Make America Great Again“ und sich damit eine Zeit zurückwünschen, in der weiße Männer noch alles durften; man kann auch den Zauberspruch „Let’s take back control“ vor sich hermurmeln und aus der Europäischen Union austreten – aber aufhalten kann man ihn nicht, diesen Prozess, denn weder 1,3 Milliarden Chinesen, 1,3 Milliarden Inder noch bald 2,5 Milliarden Afrikaner werden sich auf Dauer mit einer Welt abfinden, in der sie keine Perspektiven für sich sehen. Die große Ironie ist freilich, dass jene in der westlichen Welt, die sich mit dem stolzen Gestus der Abschottung dieser Realität verweigern, ihre Selbstzerstörung damit gerade beschleunigen. Das können wir derzeit ja live und in Farbe bei unseren amerikanischen und britischen Freunden mitverfolgen.
Die Alternative ist nicht, sich dieser neuen Welt einfach zu ergeben, sie ist nicht Passivität und nicht Selbstverleugnung, sondern ganz im Gegenteil: Die Alternative ist, wieder neu Lust zu bekommen, die Welt zu gestalten, zu strukturieren, und zwar so, dass es eine Vielzahl von Perspektiven zulässt. Eine Welt, in der alle Menschen ein Leben in Würde leben können, ohne den Planeten dabei zu zerstören. Diese Alternative wurde 2015 mit der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen formuliert. Wir sollten diese Agenda ernst nehmen und sie – mutig – als Hoffnungsgeschichte erzählen in diesen mutlosen Zeiten.
Vielleicht gelingt es in diesem Prozess auch, uns selbst wieder besser kennenzulernen. Vielleicht können wir die Sehnsucht nach Identität, nach Zugehörigkeit, die unsere Gesellschaften derzeit so sehr umtreibt, ja nicht durch Abgrenzung, sondern durch Zuwendung stillen. Vielleicht können wir vom afrikanischen Blick auf uns profitieren, und vielleicht können wir dadurch ein neues Kapitel in der Geschichte des Europäisch-Seins aufschlagen, eines, das nicht auf Überlegenheit, sondern auf Empathie und Neugier basiert. Überlegenheit bezieht sich auf das Gestern. Empathie und Neugier beziehen sich auf das Morgen. Worauf wollen wir uns beziehen?
Meine Damen und Herren,
Ein letztes Zitat müssen Sie heute Abend noch ertragen! In ihrem großartigen Roman „Americanah“ lässt die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie ihre männliche Hauptfigur Obinze folgendes sagen: „Als ich ins Immobiliengeschäft eingestiegen bin, habe ich daran gedacht, alte Häuser wie dieses zu renovieren, statt es abzureißen, aber es erschien mir sinnlos. Nigerianer kaufen keine Häuser, nur weil sie alt sind. Einen renovierten, zweihundert Jahre alten Getreidespeicher, wie er Europäern gefällt. Hier funktioniert das nicht. Und es erscheint mir nur logisch, weil wir Dritte Welt sind, und die Dritte Welt blickt nach vorn, wir mögen neue Dinge, weil das Beste noch vor uns liegt, während der Westen das Beste bereits hinter sich hat und sie deswegen einen Fetisch aus der Vergangenheit machen müssen”.
Könnte es tatsächlich sein, dass wir im Westen den Glauben an eine bessere Zukunft verloren haben? Fehlt uns vielleicht tatsächlich mittlerweile die Phantasie, fehlt uns, wie dem weißen UN-Botschafter im Black Panther-Film, die Vorstellungskraft, die Utopiefähigkeit, uns in ein besseres Morgen hineinzudenken, und zwar ein Morgen, in dem es allen Menschen auf der Erde gut geht? Wenn das so ist, dann könnten wir tatsächlich etwas von Afrika lernen. Dann könnten wir gemeinsam an dieser Zukunft bauen, auch ganz ohne das Supermetall Vibranium. Nicht weil Afrika uns leid tut, nicht weil wir Angst vor Afrika haben, sondern weil wir, die alternden Gesellschaften des Nordens, dringend diesen jungen Partner im Süden brauchen. Wenn Afrika und Europa es schaffen, eine gemeinsame Erzählung der Zukunft zu schreiben, dann habe ich keinen Zweifel daran: Das Beste liegt noch vor uns.
Vielen Dank.