Grußwort

Parlamentarischer Abend Deutscher Behindertensportverband
Berlin, 17. Oktober 2023



Auch wenn wir noch 75 Tage von Silvester entfernt sind und die Saison für den Wintersport gerade erst anbricht, erlauben Sie mir bitte heute schon einen persönlichen Rückblick auf das Sportjahr 2023:
Von meinem Wohnzimmer aus verfolgte ich übers Fernsehen eine ganze Reihe von Großveranstaltungen aus der weiten Welt des Spitzensports. Das war manchmal mit großer Freude, aber auch mit mancher Enttäuschung verbunden. Für die Frauen-Weltmeisterschaft im Fußball hatte sich die deutsche Nationalmannschaft hohe Ziele gesteckt, schied aber schon in der Vorrunde aus. Die Reaktionen in der Heimat fielen teils ungläubig und verständnislos, manchmal sogar wütend und verärgert aus. Und ganz ähnlich schauten Sportinteressierte im August nach Budapest: Von der dortigen Leichtathletik-WM kehrte das deutsche Team ohne eine einzige Medaille zurück. So etwas gab es noch nie.
Aber auch das Positive sei nicht vergessen: Die Männer sicherten sich bei der Handball-WM im Januar in Polen und Schweden einen respektablen fünften Platz. Bei der Nordischen Ski-WM in Planica war Deutschland die dritterfolgreichste Nation hinter Norwegen und Schweden. Und ein wahres Spätsommer-Märchen bescherten die deutschen Basketballer bei der WM auf den Philippinen, in Japan und Indonesien, als sie ein fulminantes Turnier mit dem Titelgewinn krönten.
War es das? Nein, das war es nicht! So unvollständig mein sportlicher Rückblick auf das Jahr auch bleiben mag, zwei weitere herausragende Sportveranstaltungen verdienen unbedingt Beachtung:
Ein großes Fest des Sports erlebten wir in Gestalt der Special Olympic World Games, die im Juni erstmals in Deutschland stattfanden. Etwa 7.000 Athletinnen und Athleten mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderung kamen nach Berlin und trafen hier auf über 330.000 Zuschauer. Die Leistungen der Sportlerinnen und Sportler begeisterten an den Sportstätten in Berlin und fanden darüber hinaus im Fernsehen ein Millionenpublikum.
Ein zweiter Wettbewerb begeisterte im September: In Düsseldorf kamen 21.800 Athletinnen und Athleten aus 21 Nationen zusammen, die im Dienst für ihr Land an Körper oder Seele verletzt wurden. Sie fanden dort „A Home for Respect“ – so das Motto der Spiele – und zeigten sportliche Höchstleistungen. Auch hier übertraf die Resonanz die Erwartungen der Veranstalter: 140.000 Zuschauer kamen zu den Spielen in die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt.
Zugegeben: Mein persönlicher Rückblick auf die bisherigen Highlights des Spitzensports im Jahr 2023 fällt sehr lückenhaft aus. Aber er zeigt: Special Olympics und Invictus Games gehören sichtbar zu den Mega-Events des internationalen Sports. Und das ist auch gut und richtig so!
Ob meine Wahrnehmung repräsentativ ist, weiß ich nicht, aber ich glaube, es ändert sich etwas in unserer Gesellschaft: Sportereignisse mit Menschen mit Behinderung, mit Erkrankung oder in der Rehabilitation laufen im Jahr 2023 nicht mehr nur „unter ferner liefen“. Special Olympics und Invictus Games zeigten, dass Inklusion ankommt: Teilnehmerzahlen und Zuschauerzahlen sowie ein breites Interesse der Medien bestätigten dies. Der Behindertensport verdient nicht länger nur unsere Aufmerksamkeit. Der Behindertensport schafft Aufmerksamkeit!
Über diese Entwicklung freue ich mich. Aber ich weiß auch, dass sie nicht vom Himmel gefallen ist. Die Geschichte des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) zeugt davon, wieviel Kraft und Energie über Jahrzehnte nötig war, um den Behindertensport – in den Anfangsjahren des Verbands noch „Versehrtensport“ genannt – in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Es waren Jahrzehnte, in denen der Verband kontinuierlich an Mitgliedern, aber auch an Aufgaben hinzugewonnen hat. Heute zählt der DBS mit seinen 17 Landes- und 2 Fachverbänden sowie 6.127 Vereinen 510.000 Mitglieder. Damit gehört der DBS zu den weltweit größten Sportverbänden für Menschen mit Behinderung. Das Spektrum an Sportarten, die unter dem Dach des DBS versammelt sind, beeindruckt: Es reicht von Blindenfußball bis Sitzvolleyball, von Para Badminton bis Para Triathlon, von Rollstuhlbasketball bis Rollstuhltennis. Neben den gängigen paralympischen Disziplinen bietet der Verband auch nicht-paralympischen Sportarten ein Zuhause, etwa dem Para Kegeln oder dem Rollstuhltanzen.
Als Bundespräsident besuchte ich dreimal paralympische Spiele: Die Sommer-Paralympics 2004 in Athen und 2008 in Peking sowie die Winter-Paralympics in Turin 2006. Zugegeben: Das ist nun schon eine ganze Weile her. Aber in meiner Erinnerung sind mir diese Besuche immer noch sehr präsent. Fröhlich und unbeschwert war die Stimmung an den Wettkampforten und besonders beeindruckte mich die geradezu familiäre Atmosphäre, die das Miteinander der Athletinnen und Athleten prägte.
In der Politik wird nicht selten vom „Miteinander“ gesprochen. „Miteinander statt Gegeneinander“ – Diese Formel klingt zwar immer gut, aber erscheint sie im Zusammenhang mit sportlichem Wettkampf, mit Leistungsschau und Kräftemessen nicht daneben? – Doch wer einmal den paralympischen Geist geatmet hat, weiß, dass die Spiele weit mehr vom Miteinander als vom Konkurrenzkampf leben. Auf den „wahren Geist der Sportlichkeit“ werden die Athletinnen und Athleten durch den Paralympischen Eid verpflichtet. Und für mich ist klar: Der wahre Geist der Sportlichkeit kreist niemals allein um den einzelnen Sportler oder die einzelne Sportlerin, sondern dieser Geist der Sportlichkeit hebt Grenzen auf, verbindet Menschen untereinander und stärkt den Zusammenhalt.
Solch ein Geist der Sportlichkeit tut freilich nicht nur den Spitzensportlerinnen und -sportlern gut. Er ist für unsere Gesellschaft insgesamt wichtig. Und wenn ich auf die großen Herausforderungen blicke, die aktuell außen- und innenpolitisch zu bewältigen sind, dann denke ich: Jetzt brauchen wir alle diesen Geist der Sportlichkeit ganz besonders. Jetzt brauchen wir Kraft und Ausdauer und uns muss klar werden, dass wir nur gemeinsam in unserem Land und mit unseren Partnern weltweit die großen Herausforderungen der Gegenwart meistern können. Wir alle gehören auf den Platz.
Der DBS hat in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht. Er ist der Motor der paralympischen Bewegung in Deutschland. Für viele Spitzensportlerinnen und Spitzensportler ist die Unterstützung durch den DBS unverzichtbar. Bei der Förderung des Paralympics-Kaders weiß der DBS die Bundesministerien des Innern, der Verteidigung und der Finanzen, aber auch die Allianz Deutschland AG, die Sparkassen-Finanzgruppe und die Toyota Deutschland GmbH sowie die Stiftung Deutsche Sporthilfe unterstützend an seiner Seite. Gemeinsam schaffen sie eine Athletenförderung, die sich sehen lassen kann und die den Sportlerinnen und Sportlern ermöglicht, Spitzensport und Beruf oder Ausbildung bestmöglich miteinander zu vereinbaren.
Dem DBS und seinen Partnern gebührt Dank für diese wichtige Förderung des Spitzensports.
Sie schaffen damit auch Vorbilder. Und diese Vorbilder haben alle Gesicht und Namen. Ich nenne nur einige wenige: Anja Adler (Para Kanu), Sebastian Dietz (Para Leichtathletik), Lisa Bergenthal (Rollstuhlbasketball), Johannes Floors (Para Leichtathletik), Linn Kazmaier (Para Ski nordisch), Valentin Luz (Para Rudern), Regine Mispelkamp (Para Dressursport), Lennart Sass (Para Judo), Verena Schott (Para Schwimmen), Thomas Ulbricht (Para Radsport), Juliane Wolf (Para Tischtennis). – Sie und andere stehen mit ihren Disziplinen für die Vielfalt des Behindertensports. Sie sind dabei Vorbilder nicht allein im Bereich des Spitzen- und Leistungssports, sondern auch im Breitensport. Und der Breitensport wiederum legt bekanntlich die Basis für die Helden von morgen.
Daher freue ich mich sehr, dass der DBS immer wieder auch die Bedeutung des Breitensports für Menschen mit Behinderung, mit drohender Behinderung oder mit chronischer Erkrankung hervorhebt und dass der Verband dafür kämpft, ihnen den Einstieg in den Sport so leicht wie möglich zu machen. Dafür ist ein flächendeckendes und vielfältiges Sportangebot in den Vereinen der Schlüssel. Spiel- und Sportfeste, Fun- und Trendsportarten runden ein breites Angebot, das zum lebensbegleitenden Sporttreiben einlädt, ab. Und es braucht auch qualifizierte Trainerinnen und Übungsleiter, die die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung kennen und ihnen gerecht zu werden verstehen. Für all dies steht die Arbeit des DBS. In meinen Augen ist sie eine Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und verdient darum die Förderung durch die Politik. Im Koalitionsvertrag haben sich die Ampel-Parteien auf eine „Offensive für Investitionen in Sportstätten unter Beachtung von Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit und Inklusion“ sowie die Berücksichtigung des besonderen Bedarfs von Behindertensport verständigt. Ich hoffe heute zu erfahren, ob und wie diese „Offensive“ angelaufen ist.
Sehr zufrieden kann der DBS auf die von ihm Ende September erstmals initiierte „SportWoche für Alle“ schauen. Die mehr als 180 inklusiven und spezifischen Sportangebote im gesamten Bundesgebiet boten vor allem Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich sportlich auszuprobieren und neue Sportarten zu entdecken.
Jedes Kind, das sich für Sport begeistern lässt, ist ein Gewinn! Denn Sport bedeutet aktive Gesundheitsvorsorge, aber auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Freude an Bewegung sowie Begegnungen und Gemeinschaftserlebnisse in den Vereinen vor Ort stehen beim Breitensport im Vordergrund. Das gilt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen.
Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft ist der Breitensport für Menschen mit Behinderung ein wesentlicher Baustein. Zu Recht stellt auch die UN-Behindertenrechtskonvention den Breitensport besonders heraus, wenn sie in Artikel 31 als Ziel formuliert, Menschen mit Behinderung „zu ermutigen, so umfassend wie möglich an breitensportlichen Aktivitäten auf allen Ebenen teilzunehmen“ (Art. 31 Ziff. 5 UN-BRK).
Die Behindertenrechtskonvention wurde im Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen. In Deutschland trat sie zum 1. Januar 2009 in Kraft. Wo stehen wir heute mit der Umsetzung ihres 31. Artikels?
Zu denken geben die Zahlen aus dem 3. Teilhabebericht der Bundesregierung vom April 2021, wonach die Mehrheit (55 Prozent) der Menschen mit Behinderungen angaben, nie Sport zu treiben. In der übrigen Bevölkerung sind es 33 Prozent, die dies von sich sagen. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein, aber sicher scheint, dass es unserem Land nach wie vor an barrierefreien Sportstätten, aber auch an geeigneten Sportangeboten für Menschen mit Behinderung mangelt. Trotz mancher Fortschritte, bleibt hier noch jede Menge zu tun. Die Stimme des DBS, der für die Selbstbestimmung und die Mitbestimmung der Menschen mit Behinderung im Sport eintritt, ist dabei wichtig.
Die eingangs erwähnten Special Olympics in Berlin waren ein großer Erfolg, aber sie zeigten auch: Selbst in unserer Hauptstadt muss noch viel passieren, damit Menschen mit Behinderung ohne größere Probleme Sportstätten erreichen können. Es mangelt noch immer an Barrierefreiheit und die Zahl geeigneter Plätze für Rollstuhlfahrer etwa ist sehr begrenzt.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir an dieser Stelle die freundliche Erinnerung, dass die Umsetzung einer UN-Konvention politisches Handeln verlangt. Der Appell „Leave no one behind!“ aus der 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung formuliert ein Gebot der Solidarität und der Menschlichkeit. Daran muss sich politisches Handeln immer wieder neu messen lassen. Der Appell gilt aber auch jedem einzelnen von uns.
Für heute Abend hat der Deutsche Behindertensportverband unsere Aufmerksamkeit gewonnen. Doch seine Anliegen und die seiner Mitglieder wollen auch morgen noch achtsam gehört und vor allem engagiert unterstützt werden.
Werte Damen und Herren Abgeordnete, bitte bleiben Sie im hektischen Alltag des Parlamentsbetriebs offen für Lob und Kritik, Ideen und Ratschläge, Bitten und Forderungen aus den Reihen des Behindertensports.
Sie, lieber Herr Beucher, stehen nun seit über 14 Jahren an der Spitze des DBS und werden nicht müde, Ihre Stimme für den Verband und die Sportlerinnen und Sportler, die Sie vertreten, einzubringen. Für ihr herausragendes Engagement haben Sie Dank und Anerkennung verdient.
Mit einem sportlichen Rückblick habe ich begonnen, mit einem Ausblick möchte ich schließen: Im August kommenden Jahres werden rund 4.400 der weltbesten paralympischen Athletinnen und Athleten zu den Paralympischen Sommerspielen in Paris erwartet. Eine große deutsche Mannschaft ist hoffentlich auch mit dabei und ebenso eine Nation, die die Wettkämpfe gespannt mitverfolgt, mitfiebert und Daumen drückt.
Dem Deutschen Behindertensportverband, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, vor allem aber den Sportlerinnen und Sportlern, die der Verband vertritt, wünsche ich alles Gute und viel Erfolg im Zugehen auf die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024!