„Afrika und Europa – eine neue Partnerschaft für die Zeit nach COVID 19?“

Videotalk mit Marco Vollmar und Eka Neumann, Internationale Journalisten-Programme e.V., aus der Reihe „Africa Talks“ der IJP Southern African Journalists’ Programmes
Berlin, 26. Februar 2021



Das Austauschprogramm „Südliches Afrika“ des IJP richtet sich an Journalistinnen und Journalisten aus Ländern des südlichen Afrika und aus Deutschland. Da dieses Jahr aufgrund der COVID-19-Pandemie kein physischer Austausch stattfinden konnte, wurde eine zehnteilige Reihe der „Afrika Talks“ ins Leben gerufen. Themen hierbei waren aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen, Digitalisierung, Armutsbekämpfung, Bildung, Landwirtschaft, Gesundheit und Medien. In einer Sonderausgabe der „Afrika Talks“, die live auf Facebook und YouTube übertragen wurde, hielt der frühere Bundespräsident Horst Köhler eine kurze Eröffnungsrede. Die Sprechpunkte des anschließenden Interviews sind im Folgenden ebenfalls dokumentiert.
Vielen Dank, Marco Vollmar und Eka Neumann, dass Sie bei den „IJP Southern African Journalists’ Programmes“ diese schwierigen Zeiten, in denen keine persönlichen Treffen möglich sind, mit den „Afrika Talks“ überbrücken. Ein herzliches Willkommen an alle derzeitigen und ehemaligen Stipendiatinnen und Stipendiaten von beiden Kontinenten.
Mit Ihrer Arbeit helfen Sie, das Bild zu prägen, das wir voneinander entwerfen – und helfen so auch, unser Handeln zu gestalten. Und das ist dringend notwendig, denn Afrika verändert sich viel schneller als unser Bild von ihm.
Der Titel unseres Gesprächs deutet eine „neue Partnerschaft für die Zeit nach COVID-19“ an. Noch befinden wir uns mitten in der Pandemie, die überall auf der Welt verheerende Schäden angerichtet hat. Ich hoffe, sie ist ein Weckruf, der uns eines verdeutlicht: Interdependenz, also gegenseitige Abhängigkeit, ist die politische Realität des 21. Jahrhunderts.
Der wichtigste Schritt für mich ist es, Afrika als echten Partner zu begreifen, nicht als Objekt der Fürsorge oder Angst. Afrika und Europa sind durch ihre Geschichte und Geographie besonders eng miteinander verbunden. Europa sollte endlich die Haltung überwinden, im Hinblick auf Macht oder Wohlstand überlegen zu sein. Wir sollten unsere Unterschiede genauso anerkennen wie unsere gemeinsamen Interessen – und damit eine Grundlage für Solidarität und hoffentlich auch gemeines Lernen schaffen. Wir brauchen jeden einzelnen wohlwollenden, innovativen und engagierten Menschen, um Lösungen für all die großen Herausforderungen zu finden, die uns alle bedrohen. Europa muss endlich begreifen, in welchem Ausmaß die Zukunft unserer beiden Kontinente miteinander verwoben ist. Ich freue mich, dass die EU-Kommission und ihre Präsidentin Ursula von der Leyen offensichtlich entschlossen sind, sich mit den Erfordernissen, Herausforderungen und Vorteilen einer neuen Partnerschaft auseinanderzusetzen.
Afrika verfügt über enormes Potenzial für Wohlstand und Wohlergehen seiner Bevölkerung. Doch viel zu lange haben Regierungen nur über dieses Potenzial geredet anstatt es wirklich auszuschöpfen. Um der schnell wachsenden Bevölkerung Afrikas angemessene Lebensbedingungen und Perspektiven zu bieten, braucht es deshalb vor allem mutige und ehrliche Führungspersönlichkeiten.
An dieser Stelle noch eine kleine Warnung: Ich werde oft als Afrika-Experte befragt. Doch das bin ich nicht und kann es auch nicht sein, denn es gibt nicht das eine „Afrika“. Afrika ist ein unglaublich diverser Kontinent mit entsprechend vielschichtigen Herausforderungen. Sollte ich in der nächsten Stunde dennoch von „Afrika“ sprechen, nehmen Sie es bitte als einen Akt der Verwegenheit…
Aber im folgenden Punkt bin ich mir sicher, generalisieren zu können: Die Afrikaner müssen – wie alle Menschen auf der Welt – die Möglichkeit haben, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen. Es wurde viel über Impfstoffe als „globales öffentliches Gut“ gesprochen. Nun müssen wir eine globale Kooperation für deren Produktion schaffen. Ich kann mich hierbei dem jüngsten Statement der afrikanischen Mo-Ibrahim-Stiftung nur voll und ganz anschließen, in dem es heißt: „Es wird keine wirtschaftliche oder soziale Erholung geben, wenn wir nicht auch einer gleichberechtigten gesundheitlichen Erholung überall auf der Welt Priorität geben. Das ist eine Frage des gemeinsamen Interesses, keine Frage der Wohltätigkeit.“ Solange nicht alle geschützt sind, ist niemand geschützt.
Liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, liebes Publikum, ich freue mich, all diese Themen nun ausführlich zu erörtern!
Frage: Welche Schritte hin zu einer neuen Partnerschaft sind besonders wichtig?
Ich sehe drei wesentliche Schritte – und einige äußerst dringende Maßnahmen:
• 1) Europa muss seine Wahrnehmung von Afrika ändern und seine Einstellung anpassen.
• 2) Beide Seiten müssen ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen (Afrika: gute Regierungsführung und strukturelle Reformen; Europa: keine doppelten Standards und entsprechende strukturelle Veränderungen).
• 3) Wir müssen eine strategische Wirtschaftspartnerschaft aufbauen, damit Afrika sich zu einem globalen Wachstumszentrum entwickelt.
• Dringende Maßnahmen: Afrika Zugang zu Impfstoffen, monetärer Liquidität und Schuldenerleichterungen verschaffen.
Frage: Was meinen Sie mit „Wahrnehmung ändern“ und „Einstellungen anpassen“?
Unsere europäische Sicht auf Afrika verrät mehr über uns als über die afrikanische Wirklichkeit.
• Es wurde davor gewarnt, dass Afrika mit der COVID-19-Pandemie überfordert sein würde. Tatsächlich jedoch schien vielmehr Europa unvorbereitet und überfordert, während die Maßnahmen der afrikanischen Staaten zur Bekämpfung von COVID-19 von Reaktionsfähigkeit, Zusammenarbeit und Innovation zeugten, insbesondere dank der neuen „Africa Centres for Disease Control“ unter der Leitung von John Nkengasong.
• Natürlich ist Vorsicht angebracht. Die zweite Welle trifft die Länder Afrikas stärker als die erste. Und auch in Afrika gibt es Staats- und Regierungschefs, die die Gefahr durch das Coronavirus herunterspielen.
Europa muss endlich aufhören, Afrika als Objekt zu betrachten. Afrika sollte als ein politisches Subjekt mit eigenen Vorstellungen, eigener Handlungsfähigkeit und eigenen Handlungsmöglichkeiten verstanden werden.
• Afrika ist handlungsfähig nach innen (vgl. Agenda 2063 der Afrikanischen Union „The Africa we want“ mit ihren 15, über den ganzen Kontinent verteilten Flagschiff-Projekten, etwa die panafrikanische Freihandelszone (AfCFTA) oder ein afrikanischer Pass).
• Afrika entwickelt Handlungsfähigkeit auf internationaler Ebene (etwa durch gemeinsame Standpunkte der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union auf der Klimakonferenz in Kopenhagen, womit erfolgreich den Interessen Afrikas Ausdruck verliehen wurde).
• Es ist gut, dass Europa und Deutschland sich mit Nachdruck für eine kooperative Weltpolitik einsetzen. Doch wer will, dass Multilateralismus gelingt, der muss auch bereit sein, politische Energie in die längst überfällige Reform des VN-Sicherheitsrats zu investieren – und Afrikas Stimme dort zu stärken.
Die europäische Politik sollte die Entwicklungen in Afrika anerkennen.
• Zu viele Menschen hierzulande wissen noch immer nichts über Afrikas wachsende Megastädte (mit all ihren Möglichkeiten und Problemen), über die boomende Digitalwirtschaft mit ihren wegweisenden Dienstleistungen, über die florierende Design- und Filmindustrie oder über die Erfolge im Bildungsbereich.
• Sie wissen wenig über das wachsende Selbstbewusstsein der Jugend, die einen immer größeren Anteil an der Bevölkerung ausmacht – oder über ihren wachsenden Frust und Ärger angesichts von Langzeitmachthabern und fehlender menschenwürdiger Arbeit.
• Und zu viele Menschen haben noch immer keine Vorstellung davon, was diese Veränderungen für Europa bedeuten.
Zu dieser neuen Wirklichkeit gehört auch, dass Europa nicht länger per se Partner der Wahl für Afrika ist.
• Afrikanische Staats- und Regierungschefs haben mir schon vor rund zwei Jahrzehnten gesagt: „China ist eine Option“. China hat eine Menge Infrastruktur in Afrika aufgebaut. Außerdem sollte Europa den afrikanischen Staats- und Regierungschefs nicht die Fähigkeit (und Verantwortung!) absprechen, auch die Kehrseiten dieses erheblichen Engagements Chinas zu bedenken.
• Europa sollte – allein schon aus eigenem Interesse – die bessere Partnerschaft anbieten, und dazu zählen auch stärkere Investitionen in die afrikanische Infrastruktur.
• Europa und Afrika verbindet vieles: die geographische Nähe, Werte, historische Bande (wenn auch keine einfachen) – und Interessen: Beide Kontinente müssen sich in einer Welt behaupten, in der neue Großmächte miteinander konkurrieren. Beide brauchen den Multilateralismus als Antwort auf globale Probleme. Beide haben ein Interesse daran, sich neue Märkte zu erschließen und neue Handelspartner zu gewinnen.
Eine neue Generation von Afrikanerinnen und Afrikanern ist auf der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln – und nach etwas Neuem, das daraus erwachsen kann. Europa sollte über das wachsende Selbstbewusstsein Afrikas hocherfreut sein.
• Das diesjährige Sondermotto der Afrikanischen Union lautet „Arts, Culture and Heritage: Levers for Building the Africa We Want“ (Mit Kunst, Kultur und Erbe zu dem Afrika, das wir wollen). Das scheint angesichts vieler drängender Probleme aus der Zeit gefallen zu sein. Doch ich glaube, es ist eine gute Wahl, denn sich seiner eigenen Wurzeln und Kultur bewusst zu sein, ist ein wichtiger Bestandteil von Selbstbewusstsein – und Selbstbewusstsein ist die beste Grundlage für eine echte Partnerschaft.
Frage: In einer Rede haben Sie einmal gesagt, dass wir ein Bewusstsein für unsere lang unterdrückte koloniale Vergangenheit entwickeln müssen. Wie könnte das gelingen?
• Wir können begangenes Unrecht nicht ungeschehen machen, aber wir müssen besser darin werden, uns damit auseinanderzusetzen. Es ist noch längst nicht allgemein bekannt in Europa, dass schätzungsweise 90 % des künstlerischen Erbes Afrikas in französischen, britischen und deutschen Museen lagern. Heute Nachmittag wird der Deutsche Bundestag über mehrere Anträge im Zusammenhang mit der ehemaligen deutschen Kolonialherrschaft und unserem kolonialen Erbe beraten. Ich hoffe sehr, dass dies ein Anlass ist, Demut und Offenheit im Hinblick auf die Frage der Rückgabe kolonialer Kulturgüter zu zeigen.
• Ich bin überzeugt: Wenn es Europa gelingt, sich auf ehrliche Weise mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wird es die nötige Glaubwürdigkeit erlangen, um den afrikanischen Machthabern entgegenzutreten, die ihre eigene Verantwortung kaschieren, indem sie alle Schuld auf die koloniale Vergangenheit schieben.
Frage: Ihre erste Auslandsreise als Präsidentin der Europäischen Kommission führte Ursula von der Leyen zum Hauptsitz der Afrikanischen Union in Addis Abeba. Die Europäische Kommission hat im März 2020 einen Entwurf für eine „umfassende Strategie mit Afrika“ vorgestellt. Ist das die Chance für einen Neustart?
Der politische Wille ist auf beiden Seiten definitiv vorhanden. Und die Pandemie ist der jüngste Weckruf dafür, wie dringend eine „Politik der Interdependenz“ ist. Wir brauchen gemeinsame Lösungen, die uns allen helfen.
• Doch die Pandemie hat den dafür notwendigen Prozess verzögert: Der für den Herbst 2020 geplante EU-AU-Gipfel wurde verschoben. Wenn man optimistisch sein möchte, könnte man sagen, dass dies beiden Seiten mehr Zeit für Überlegungen und Vorbereitungen verschafft.
Beide Seiten müssen klarstellen, welche ihre obersten Prioritäten sind, und festlegen, wie der Weg hin zur Zusammenarbeit aussehen soll.
• Ich begrüße es, dass die neue Stiftung Afrika-Europa (die kürzlich gemeinsam vom Thinktank Friends of Europe und der Mo-Ibrahim-Stiftung gegründet wurde) hierfür ihre Hilfe angeboten hat – und dass die Europäische Kommission und die Kommission der Afrikanischen Union dieses Angebot angenommen hat. Die Stiftung Afrika-Europa hat fünf sogenannte Strategiegruppen eingerichtet, die in fünf Schwerpunktbereichen der Partnerschaft gemeinsame Ansätze erörtern soll: 1. Gesundheit; 2. Digitales; 3. Landwirtschaft und nachhaltige Lebensmittelsysteme; 4. Energie und grüner Wandel; 5. Verkehr und Konnektivität.
• Ein Neustart der Zusammenarbeit erfordert auch eine bessere Abstimmung der unterschiedlichen Afrika-Politik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Und es ist notwendig, dass die AU – trotz aller Schwierigkeiten – eine eigene Position entwickeln muss.
Frage: Was sollten die obersten Prioritäten der Zusammenarbeit sein?
Abgesehen von den unmittelbaren Notwendigkeiten (wir werden auf das Thema Impfstoffe noch zurückkommen) sollte eine neue Partnerschaft den institutionellen Rahmen der AU berücksichtigen und auf die Prioritäten Afrikas zugeschnitten sein.
• Erstens: In Bildung und Austausch investieren: China bietet Zehntausenden afrikanischen Studierenden Stipendien an. Deutschland und Europa sollten ihre Austausch- und Stipendienprogramme ausbauen. Was wir brauchen, ist nicht die Abwanderung der talentiertesten Fachkräfte, sondern der gegenseitige Austausch. Die Internationalen Journalisten-Programme e. V. sind ein wunderbares Beispiel hierfür.
• Zweitens: Schnelleren und effizienteren Technologietransfer: Hierbei gibt es auch Raum für gemeinsame Versuche – und damit für große Win-win-Projekte. Die Bundesregierung legt daher im Rahmen ihrer Nationalen Wasserstoffstrategie zu Recht einen Fokus auf die Zusammenarbeit mit Afrika.
• Drittens: Die panafrikanische Freihandelszone ist ein Projekt, das für die wirtschaftliche und politische Integration Afrikas von wesentlicher Bedeutung ist. Damit werden Wachstum angekurbelt und Arbeitsplätze geschaffen. Doch sie erfordert auch harte Arbeit, die nicht immer einfach ist.
• Europa sollte für ihre Umsetzung auch weiterhin alle erdenkliche technische Unterstützung anbieten: von der Harmonisierung des Steuerrechts und der Herabsetzung der Zölle über die Angleichung von Normen, Tarifverträge mit externen Akteuren bis hin zum Austausch in den Bereichen Fachwissen, Ausbildung und Dienstleistungen.
Und Europa sollte Ideen vorlegen, wie in Infrastruktur und lokale Produktion investiert werden kann, wie der Aufbau von Industrieclustern unterstützt und Berufsausbildung ermöglicht werden kann.
Frage: In mehreren Erklärungen und Reden haben Sie darauf hingewiesen, dass Afrika und Europa eine gemeinsame Verantwortung haben. Was meinen Sie damit?
Die Verantwortung für die Entwicklung in Afrika liegt zuallererst bei den Afrikanerinnen und Afrikanern selbst. Und sie erfordert zunächst einmal verantwortungsvolle Regierungsführung.
• Anhand des „Ibrahim-Index für afrikanische Regierungsführung“ (IIAG) werden Fortschritte in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Teilhabe, Bildung oder Gesundheit bewertet. Seit Beginn des 21. Jahrhundert wurden hierbei langsame, aber stetige Entwicklungen registriert. In den letzten beiden Jahren wurden jedoch Rückschritte verzeichnet.
• So wurden beispielsweise Verfassungen dahingehend geändert, dass Präsidenten nunmehr länger im Amt bleiben können. Damit wird ein grundlegendes Prinzip von Demokratie untergraben, nämlich dass Macht nur für eine begrenzte Zeit verliehen wird.
• Die Pressefreiheit ist eine weitere Grundlage, die in letzter Zeit infrage gestellt wird. Auf der Weltkarte zur Rangliste der Pressefreiheit sind 21 Staaten in Afrika rot oder schwarz eingefärbt, was bedeutet, dass dort die Menschen, die Nachrichten und Informationen veröffentlichen, unter schwierigen und teils sogar lebensgefährlichen Bedingungen arbeiten.
• Das sind beunruhigende Entwicklungen. Es ist notwendig, das anzusprechen, doch ohne Selbstgerechtigkeit. Auch Ereignisse in anderen Teilen der Welt haben gezeigt, wie fragil Freiheit und Demokratie sind.
• Die Afrikanerinnen und Afrikaner selbst sprechen dies klar und deutlich an. Jakkie Cilliers zum Beispiel, Gründer des Instituts für Sicherheitsstudien in Südafrika, stellt in seinem Buch „Africa first“ die Forderung nach „ehrlicher und verantwortungsvoller Führung“ auf. Die mutigsten Proteste gegen Korruption und schlechte Regierungsführung kommen aus den Reihen der afrikanischen Zivilgesellschaft selbst. Und eine vom Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer durchgeführte Umfrage hat gezeigt, dass eine Mehrheit der Afrikanerinnen und Afrikaner demokratische Rechenschaftspflicht als wichtiger erachtet als die reine Effizienz ihrer Regierung.
Der politische Wille und die Verantwortung Afrikas sind von entscheidender Bedeutung. Doch auch Europa trägt eine Verantwortung:
• Erstens: Illegale Finanzströme haben auch europäische Bankkonten zum Ziel. Die für Transparenz notwendigen Instrumente und Rechtsvorschriften bereitzustellen ist auch die Pflicht der Industrienationen. Und Europa sollte sich für eine neue, globale Steuerstruktur einsetzen, die afrikanischen Ländern Zugang zu einem gerechten Anteil an Steuereinnahmen gewährt und Gewinnkürzungen und -verlagerungen durch internationale Unternehmen einschränkt.
• Zweitens: Handelsregeln und Subventionen müssen überprüft werden, um afrikanischen Volkswirtschaften die Möglichkeit zu geben, sich zu diversifizieren und in den globalen Wertschöpfungsketten aufzusteigen (auf dieses Thema werden wir später noch einmal zurückkommen).
• Drittens: Landwirtschaft ist wichtig, nicht nur für Ernährungssicherheit, sondern auch für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Zweifellos sind Hunger und die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten in Afrika in erster Linie auf innenpolitisches Versagen zurückzuführen. Doch das Agrarsystem Europas mit seinen Verordnungen und Milliarden an Subventionen macht es für Afrika noch schwerer, eine wettbewerbsfähige Agrarwirtschaft aufzubauen. Gleichzeitig besteht inzwischen kein Zweifel mehr daran, dass unsere europäische industrielle Landwirtschaft zu Lasten von Boden, Grundwasser und Biodiversität geht. Eine gemeinsame „Landwende“, wie sie vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) vorgeschlagen wurde, könnte für beide Kontinente Vorteile mit sich bringen. Europa sollte seine industrielle Agrarwirtschaft in eine ökologische Landwirtschaft umbauen und öffentliche Mittel dazu verwenden, ökologische Wertschöpfung statt Landbesitz zu honorieren. Afrika wiederum hätte so mehr Raum für eine eigene produktive Agrarwirtschaft, die Millionen von Menschen Arbeitsplätze und Einkommen bietet.
Die Schlussfolgerung lautet also: Der notwendige strukturelle Wandel in Afrika muss durch Veränderungen in den Industrienationen unterstützt werden. Hierin liegt die eigentliche Bewährungsprobe für eine neue Partnerschaft!
Frage: Einige afrikanische Länder und Ländergruppen haben Wirtschaftspartnerschafts-Abkommen (WPA) mit der EU ausgehandelt. Wie ist Ihre Meinung zu solchen WPA?
Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen sollten überarbeitet werden. Ziel muss eine schnellere Diversifizierung der afrikanischen Volkswirtschaften sein. Hierbei stellen sich mir vor allem drei Fragen:
• Erstens: Bieten sie den afrikanischen Staaten ausreichend Unterstützung für die Entwicklung der landwirtschaftlichen und industriellen Wertschöpfung?
• Zweitens: Bieten sie ausreichend Schutz für die jungen Industrien? Und drittens: Sind sie hilfreich für die Umsetzung der panafrikanischen Freihandelszone oder behindern sie diese?
Frage: Die panafrikanische Freihandelszone (AfCTFA) ist letzten Monat in Kraft getreten. Sie wird 1,3 Milliarden Menschen in 54 afrikanischen Ländern miteinander verbinden – gemessen an der Anzahl der beteiligten Länder ist sie die größte Freihandelszone der Welt seit der Gründung der Welthandelsorganisation. Damit einher gehen hohe Erwartungen an Wachstum, Wohlstand und ein höheres Einkommen für Millionen Menschen. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der afrikanischen Freihandelszone?
Die panafrikanische Freihandelszone (AfCFTA) ist ein wichtiges strategisches Instrument, um das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Afrika anzukurbeln. Sie kann dazu beitragen, den Kontinent von postkolonialen wirtschaftlichen Strukturen zu befreien, die politische Integration vertiefen und Afrika auf internationaler Ebene verstärkt Gehör verschaffen.
• Der Binnenhandel beläuft sich in Afrika auf gerade einmal 16 % des Gesamthandels. Zum Vergleich: In Europa beträgt dieser Wert 70 %. Die AfCFTA sollte die übermäßige Abhängigkeit Afrikas von Warenexporten reduzieren. Um dies zu erreichen, muss die verarbeitende Industrie aufgebaut werden. Verstärkter Handel innerhalb Afrikas, insbesondere mit industriegefertigten Waren, würde die Beschäftigungsmöglichkeiten für qualifizierte und unqualifizierte Arbeitskräfte erhöhen.
• Derzeit haben 35 der 55 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union das Freihandelsabkommen ratifiziert. Der neue Generalsekretär der AfCFTA, Wamkele Mene aus Südafrika, hat sein Amt angetreten. Die AfCFTA steht vor enormen Herausforderungen, schon allein aufgrund der Anzahl der teilnehmenden Nationen und ihrer geographischen und historischen Vielfalt. Ihre Umsetzung wird Zeit brauchen, doch sie voranzubringen verdient jedmögliche Unterstützung.
Frage: Aufgrund von COVID-19 hat Afrika 2020 das erste Mal seit 25 Jahren eine Rezession erlebt. Die Armutsbekämpfung wird gravierende Rückschläge erleiden. Welche Entwicklung wird es aus Ihrer Sicht geben? In welchen Bereichen gibt es Hoffnung?
In vielen Ländern der Subsahara könnte die COVID-19-Pandemie dazu führen, dass über viele Jahre mühsam errungene Entwicklungserfolge zunichte gemacht und die Existenzgrundlagen von Millionen Menschen gefährdet werden.
• Laut dem jüngsten Bericht der Weltbank ist die Wirtschaft in Subsahara-Afrika 2020 um 2,8 % geschrumpft. Für 2021 wird eine Erholung in Höhe von 3,1 % erwartet. Das bedeutet dennoch einen enormen Rückschlag, wenn man bedenkt, dass ein durchschnittliches Wachstum von 5 bis 7 % notwendig ist, um die extreme Armut in Afrika zu überwinden.
• Eine Erholung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Überweisungen von im Ausland lebenden Afrikanerinnen und Afrikanern um bis zu 25 % und ausländische Direktinvestitionen um bis zu 40 % abnehmen könnten.
• Die Schuldenquote Afrikas wird auf rund 70 % des BIP, gemessen am heutigen Dollar-Wert, klettern, wobei die Schulden in mindestens sieben Ländern 100 % des BIP übersteigen werden.
Frage: Wo gibt es also Hoffnung?
• Afrika hat nicht tatenlos dabei zugesehen, dass die Pandemie die afrikanischen Volkswirtschaften zugrunde richtet. Die Afrikanische Union hat vier renommierte Persönlichkeiten (Ngozi Okonjo-Iweala, Donald Kaberuka, Tidjane Thiam und Trevor Manuel) zu Sonderbeauftragten ernannt, die bei multilateralen Institutionen auf Schuldenerleichterungen drängen. Die AU hat innerhalb kurzer Zeit einen afrikaweiten Fonds zur Reaktion auf COVID-19 eingerichtet. Darüber wurden 400 Millionen US Dollar für medizinische Versorgungsgüter, Tests und sozio-ökonomische Unterstützung für die Schwächsten bereitgestellt. Das sind Zeichen afrikanischer Handlungsfähigkeit und Zusammenarbeit, die Mut machen.
• Der digitale Wandel nimmt – angetrieben von der Pandemie – Fahrt auf und wird zur Modernisierung der afrikanischen Volkswirtschaften beitragen. Digitale Zahlungsmethoden haben einen Aufschwung erlebt. Afrikanische Start-ups haben digitale Lösungen zur Bekämpfung der Pandemie beigesteuert. „FabLab“ aus Kenia beispielsweise hat die App „M-Safari“entwickelt: Nutzt man den öffentlichen Nahverkehr („Matutu“), kann man sich mit Hilfe dieser App für diese Fahrt registrieren und später über mögliche Infektionsquellen informieren und Kontaktpersonen nachverfolgen. Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es über 640 Tech-Hubs. Digitale Lösungen werden in der Landwirtschaft, im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor erprobt.
• Ein weiterer Grund zur Hoffnung ist der Boom im Bereich erneuerbare Energien, ausgelöst durch sinkende Preise für Solar- und Windenergie. Das erleichtert den Zugang zu Elektrizität, der für alle wirtschaftlichen Aktivitäten dringend benötigt wird.
Ein Hoffnungssignal ist für mich auch, dass afrikanische Führungspersönlichkeiten auf der internationalen Bühne sichtbarer werden.
• Ngozi Okonjo-Iweala aus Nigeria wurde zur Generaldirektorin der Welthandelsorganisation ernannt.
• Der senegalesische Finanzminister Makhtar Diop wird die Leitung der Internationalen Finanz-Corporation der Weltbank übernehmen. Und Tedros Ghebreyesus aus Äthiopien steht an der Spitze der Weltgesundheitsorganisation.
Und nicht zuletzt ist es die Jugend in Afrika, die mir Hoffnung gibt. Mit ihrer Kreativität und Beharrlichkeit stellt sie eine gewaltige Kraft des Wandels dar.
Frage: Was sollte in den kommenden Monaten als erstes getan werden?
Oberste Priorität muss sein, zu gewährleisten, dass die Menschen in Afrika gleichberechtigen Zugang zu COVID-19-Impfstoffen haben, und zwar so schnell wie möglich. Reichere Staaten müssen hier verstärkt Hilfe leisten – in ihrem eigenen Interesse.
• Wenn sich das Virus weiter ausbreiten kann, wird es sich verändern und erneut die ganze Welt infizieren. Das Wettrennen gegen das Virus darf nicht zu einem Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern werden, sondern muss ein gemeinsamer Wettlauf gegen die Zeit sein!
• Fairerweise muss man sagen: Europa hat sowohl politische Energie als auch Geld investiert, um gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation den globalen ACT-Accelerator und die COVAX-Fazilität ins Leben zu rufen.
Damit erhalten ärmere Länder zu niedrigeren Preisen oder kostenlos Zugang zu Impfstoffen.
Deutschland hat vor Kurzem weitere 1,5 Milliarden Euro zugesagt, und auch die Vereinigten Staaten sind unter Präsident Biden schließlich beigetreten und stellen insgesamt 4 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Ein solcher globaler Verteilungsmechanismus ist hilfreich, im Gegensatz zu politischer „Impfdiplomatie“.
• Doch da weltweit bisher 75 % der Impfungen in nur zehn Ländern verabreicht wurden und 130 Länder noch keine einzige Dosis erhalten haben, müssen wir auch bereits vorhandene Impfstoffe teilen. Bundespräsident Steinmeier hat (genau wie der französische Staatspräsident Macron) die reichen Staaten aufgefordert, einen Teil ihrer Impfdosen abzugeben. Das sei nicht einfach, aber eine „Frage der Menschlichkeit und eine Frage der Maßstäbe, an denen wir uns messen lassen“.
• Am wichtigsten ist: Durch Geld und Teilen alleine wird es nicht mehr Impfstoffe geben.
Der entscheidende Engpass liegt in der Herstellung. Ich unterstütze VN-Generalsekretär Guterres voll und ganz, der kürzlich die G20 zur Einrichtung einer Notfall-Taskforce aufgefordert hat, die alle Länder umfassen soll, die über Kapazitäten zur Impfstoffproduktion verfügen.
Um den wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwenden, ist finanzielle Unterstützung notwendig:
• Die G20 haben ihre ursprüngliche Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes bis Juni 2021 verlängert. Das ist ein guter Anfang. Doch für einige Länder werden sich weitere Schuldenerleichterungen und möglicherweise auch Umschuldungen als notwendig erweisen.
• Die afrikanischen Regierungen müssen dringend Zugang zu neuen Finanzmitteln bekommen, um den negativen Auswirkungen der Coronakrise auf die Wirtschaft etwas entgegenzusetzen. Während fortgeschrittene Volkswirtschaften rund 24 % ihres BIP für Konjunkturbelebungsmaßnahmen ausgeben, sind es in einkommensschwachen Ländern nur 2 %, wodurch diese Staaten noch weiter zurückfallen.
• Es ist deshalb eine gute Nachricht, dass US-Finanzministerin Yellen gestern Unterstützung für eine neue Zuteilung von Sonderziehungsrechten (SZR) des Internationalen Währungsfonds angekündigt hat. Vera Songwe, Leiterin der Wirtschaftskommission für Afrika (ECA) der Vereinten Nationen, stellte am selben Tag in der „Financial Times“ die Ausgabe von 500 Milliarden SZR (rund 659 Milliarden US-Dollar) in Aussicht und schlug außerdem vor, dass die G7- und G20-Staaten ihre SZR freiwillig auf verzinsliche Fazilitäten umschichten, um einkommensschwache Länder zu unterstützen. Dieser Vorschlag sollte ernsthaft in Betracht gezogen werden.
Frage: Was erwarten Sie 2021 im Hinblick auf die afrikanisch-europäische Partnerschaft?
Es ist eine Hoffnung, keine Erwartung: Dass beide Kontinente ihre jahrzehntealten Verhaltensmuster hinter sich lassen – und sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst werden. Lassen wir diese Krise ein Wendepunkt sein!
• Wir müssen die Menschen impfen, in Afrika wie in Europa, und damit die Pandemie hinter uns lassen.
• Wir müssen wirksame Möglichkeiten für Liquiditätshilfen und Schuldenerleichterungen finden und die Volkswirtschaften auf einen neuen, nachhaltigen Wachstumspfad bringen.
• Und schließlich müssen wir eine langfristige Strategie der Partnerschaft zwischen Afrika und Europa entwerfen, die auf einer neuen Kultur der Begegnungen und des gemeinsamen Lernens basiert. Die beiden Kontinente könnten mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass Zusammenarbeit im aufgeklärten Eigeninteresse beider Seiten ist und das Wohlergehen des anderen eine Investition in die eigene Zukunft darstellt.
Ich hoffe, dass Sie als Journalistinnen und Journalisten die Stimmen dieser Kultur des Voneinanderlernens sein werden – und eine transformative Kraft zum Wohle unserer beiden Kontinente.