Ansprache anlässlich der Veranstaltung zum Abschluss der Initiative Pro Helvetica

Zürich, Schweiz, 23. Oktober 2015



I.

Eine Reise nach Zürich braucht nicht weiter begründet zu werden. Die herrliche Lage und die urbane Lebensqualität der Stadt sind Grund genug, sie zu besuchen. Rings um den Zürichsee und an der Limmat ist gut Sein. Hier trifft man ungewöhnlich viele Menschen, die ihr Leben verstehen und daraus etwas zu machen wissen; hier ist eine der besten Zeitungen der Welt zuhause; und hier gedeiht eine Bürgerlichkeit, die so weltoffen und freisinnig ist wie geschichtsbewusst und kultiviert.

Eine Reise in die Schweiz braucht auch nicht eigens begründet zu werden. Sie ist seit je ein Sehnsuchtsort der Deutschen, und das nicht nur gemessen an den Zweitwohnsitzen, Einbürgerungsgesuchen und Bankkonten meiner Landsleute hierzulande. Wir sind hingerissen von der landschaftlichen Schönheit der Schweiz; wir bewundern die einzigartig tiefen Wurzeln der Gemeindeautonomie, der Landsgemeindedemokratie und der Stadtrepubliken hier bei Ihnen – ohne die damit auch verbundenen historischen Konflikte und tagespolitischen Spannungen verniedlichen zu wollen; und wir sind durchaus ein wenig stolz darauf, dass dem Gründungsmythos des Schweizertums, jener Szene auf einer Bergwiese der Urner Gemeinde Seelisberg, gerade Friedrich Schiller klassischen Ausdruck verliehen hat. Das ist für uns übrigens keine ferne Erinnerung an irgendwelche Lektüren im Deutschunterricht: Wir feiern in diesem Jahr den 25. Jahrestag der Deutschen Einheit. Sie ist vom Volk erkämpft worden, auch mit Wilhelm Tell: Den hat Anfang 1989 Christoph Schroth in Schwerin inszeniert und dann sogar in Ost-Berlin aufgeführt. Bei ihm stand der Landvogt Gessler auf einem Balkon, der dem Balkon des SED-Staatsratsgebäudes verteufelt ähnlich sah, und bei allen Sätzen wie „Fort muss er, seine Uhr ist abgelaufen!“ „Reißt die Mauern ein!“ „Wir haben’s aufgebaut, wir wissen’s zu zerstören“ gab es tosenden Szenenapplaus. Das Schweizer Vorbild hat damals den Menschen in Ostdeutschland Mut gemacht.

Uraufgeführt worden ist der „Tell“ 1804 in Weimar. Das ist eine von ungezählten schönen Begebenheiten, die unsere beiden Nationen auf ihrem Weg durch die Geschichte verbinden. Die Schweizer und die Deutschen sind einander mehr als nur geographisch nah: Wir nehmen seit Jahrhunderten tiefen Anteil aneinander, in Freud und Leid.

II.

Das beweist wieder der heutige Tag, und auch wenn eine Reise in die Schweiz und nach Zürich eigentlich keine Begründung braucht, so kann ich mir doch keinen schöneren Reiseanlass denken als den, der uns heute hier zusammenführt: Die Initiative „Pro Helvetica in Weimar“ feiert ihren erfolgreichen Abschluss. Sie hat es vermocht, der Anna Amalia Bibliothek das Schweizer Geisteserbe zu erhalten, das durch die Brandkatastrophe im Jahr 2004 ausgelöscht zu werden drohte. Die unermüdlichen Werber von „Pro Helvetica“, die hochherzigen Spender und die brillanten Schweizer Fachleute für Restaurierung haben erreicht, was in jener furchtbaren Brandnacht unmöglich schien: Sie haben einen unschätzbar wertvollen Teil unseres gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses an die Zeit der Aufklärung und der Klassik gerettet. Dafür danke ich Ihnen allen von Herzen, auch im Namen meiner Landsleute.

Was Pro Helvetica geleistet und bewirkt hat, das hätte ich selbst noch an jenem Tage vor fast genau acht Jahren nicht zu hoffen gewagt, als wir in Weimar die Wiedereröffnung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gefeiert haben. Natürlich waren wir alle glücklich und froh darüber, das Gebäude in seinem neuen Glanz wiedererstanden zu sehen. Aber in die Freude mischte sich auch Sorge, ob sich die beschädigten Bücher würden retten, die vernichteten würden ersetzen lassen. Uns allen war bewusst: Es lag mit dem Wiederaufbau erst die erste Etappe des Weges hinter uns.

Wir – die Deutschen, aber, wie sich schnell zeigte, eben auch unsere Schweizer Vettern – sind damals entschlossen gewesen, auch die zweite Etappe zu gehen, allen Mühseligkeiten zum Trotz. Warum eigentlich? Kam es denn so sehr darauf an, wieder möglichst nahe heranzukommen an den ursprünglichen Bestand der Bibliothek? Mussten denn unbedingt die Originalbände gerettet werden, selbst schwerstbeschädigte? Genügte denn nicht das Vorhandensein anderer Exemplare dieser Ausgaben in anderen Bibliotheken irgendwo auf der Welt, genügten nicht auch spätere Auflagen davon oder gar Digitalisate, wie sie so schön heißen, die man doch noch dazu ganz einfach nach Weimar hätte schicken können, mit einem Mausklick nur?

III.

Nein, das alles wäre kein vollwertiger Ersatz gewesen. Das wissen alle, die je ein Buch geliebt haben in ihrem Leben, und das haben wir wohl alle – ob es nun das Buch über die Fahrt zur Schatzinsel war oder eine zerlesene Ausgabe klassischer Sagen, ob uns das Buch nun gelehrt hat, dass auch andere manchmal unter Liebeskummer leiden müssen, oder ob es uns den Weg wies, was wir studieren, welcher Aufgabe wir unser Leben widmen, wofür wir politisch kämpfen sollten. Solche Bücher verwandeln uns, darum behalten wir sie im Gefühl und im Gedächtnis, bis hinein ins Körpergedächtnis, wenn wir an ihr Gewicht zurückdenken, an die Textur ihres Papiers, selbst an ihren Geruch. Wir möchten nicht, dass ein solches für uns besonderes Buch verbrennt, zerstört wird, unwiederbringlich dahin ist. Wir wissen, wie sich das für uns anfühlen würde, und darum betrauern wir den Verlust einer Bibliothek voller Bücher, die alle für irgendeinen Menschen besonders sind oder gewesen sind, und wir wollen den Verlust nicht wahrhaben, wir wollen ihn ungeschehen machen.

Hinzu kommt: In der Anna Amalia Bibliothek waren und sind Bücher versammelt, denen wir alle gemeinsam viel verdanken, die unser aller Weltsicht mitgeformt haben, auch wenn wir das im einzelnen gar nicht mehr wissen können. In dieser Bibliothek erklang und erklingt ein Gespräch durch die Jahrhunderte, auch und gerade ein deutsch-schweizerisches, das Streitgespräch der Zürcher Bürger Johann Jacob Bodmer und Jacob Hermann Obereit mit dem Preußen und Wahl-Sachsen Johann Christoph Gottsched zum Beispiel. Unsere Vorfahren haben im Wortsinne über Gott und die Welt nachgedacht, und darüber, wie wir mit beiden ins Reine kommen, und die Früchte dieses Nachdenkens sind in der Anna Amalia gespeichert. Und diese Früchte trugen weiter Frucht, denn die Bibliothek sammelte die Werke nicht nur, sie lieh sie fleißig Menschen, die ihrerseits kritische Köpfe waren und etwas zu sagen hatten, ich nenne nur den Namen von Christoph Martin Wieland und den eines langjährigen Bibliothekars der Anna Amalia: Johann Wolfgang von Goethe hat er geheißen. Da ging denn so mancher Band von Hand zu Hand, und das vermehrte noch seinen Wert, weil es so manche Lektürespur hinterließ in Gestalt von Anstreichungen und Anmerkungen. So mancher Wissenschaftler, der sich heute darüber beugt, mag sich ähnlich fühlen wie Tatjana, wenn sie im Haus des Eugen Onegin dessen Bücher liest. Am besten lasse ich das Puschkin selber beschreiben:

„Auf vielen Seiten waren Stellen

Vom Fingernagel angemerkt,

Und Tanja ward in solchen Fällen

Im Eifer nur noch mehr bestärkt.

So wird sie voll Bewundrung inne,

An welchem Ausdruck, welchem Sinne

Sich einst Eugen betroffen stieß,

Und was er schweigend gelten ließ;

Wird seiner scharfen Bleistiftzüge

Mit Staunen überall gewahr:

Aus allem spricht unmittelbar

Sein Geist in Urteil, Lob und Rüge,

Bald durch ein Kreuz, ein kurzes Wort,

Bald Fragezeichen hier und dort.“

Hand aufs Herz: Kann das ein E-Book bieten?

Verstehen Sie mich bitte recht: Ich habe nichts gegen E-Books und iPads und Lese-Apps für den Computer. Die sind eine für unsere Lesegewohnheiten oft sehr nützliche Ergänzung und Lebenserleichterung, denken Sie nur daran, wie leicht sich nun ganze Regalmeter Lesestoff in die Westentasche stecken lassen, und wie angenehm es ist, die Buchstabengröße einfach um zwei Stufen nach oben zu regeln.

Aber „High Tech“ darf nicht „Low Touch“ bedeuten. Wir dürfen uns beim Blick aufs Display nicht gegenseitig aus den Augen verlieren. Eine ausschließlich digitalisierte „Gutenberg-Galaxis“ droht ortlos zu sein. Jedenfalls kommt sie technisch ohne Bibliotheken aus – der Lektürenachschub kann ja genausogut allein über die Internetverbindung fließen. Genausogut? Eben nicht!

Bibliotheken sind nämlich viel mehr als Lektürespeicher. Sie sind Orte der Begegnung und der Berührung, des Human Touch in seiner besten Bedeutung. Ich habe über die Jahre viel von dem gesehen und gelernt, was Bibliotheken und Bibliothekarinnen – meist sind sie es ja – leisten. Sie beraten bei der Lektüreauswahl, sie haben ein gutes Wort auf den Weg für die Büchereibesucher, und sie kümmern sich um unseren Lesernachwuchs. Selbst die Jüngsten stöpseln sich heutzutage schon im Internet ein; aber zusammen mit acht oder neun Altersgenossen in der Leseecke der Stadtbibliothek sitzen und beim Vorlesen zuhören, sich gemeinsam gruseln und freuen, sich gegenseitig eine schwer verständliche Stelle erklären oder je für sich schmökern und später beteuern, dass die Eselsohren aber vorher schon drin gewesen sind, das ist etwas ganz Anderes, das lässt sich nicht virtualisieren, niemals! Es ginge zwischenmenschlich sehr viel verloren mit der völligen Entkörperlichung des Lesens, mit der Entkörperlichung des Buches.

Ich frage mich außerdem, ob die Flüchtigkeit des Virtuellen, dieses Fluide, nicht auch die Lesegewohnheiten und Lesefähigkeiten mehr und mehr unterspült. Natürlich sind diese Gewohnheiten seit Jahrhunderten im Wandel: Es ist ein weiter Weg gewesen von der intensiven, oft wiederholten, laut gesprochenen Lektüre der Hausbibel als einzigem Buch und einziger Quelle der Wahrheit bis zum zerstreuten, stillen, Unterhaltung suchenden, einmaligen Lesen des angesagten Moderomans, unter energischem Überblättern aller Landschaftsbeschreibungen. Und doch verändert es, wie mir scheint, die Wahrnehmung und die Wirkung des geschriebenen Wortes nochmals erheblich, wenn es einfach im selben Fenster an- und ausgeknipst wird wie die Wetterkarte und der Samstagskrimi. Es verliert dadurch an Dauer, an Präsenz, es verliert die bleibende Gegenwart des Buches, das ich aus der Hand lege. Es wird ein flüchtiger Gast mehr unter vielen Inhalten und Angeboten in unseren Zeiten der Zerstreutheit und des Multi-Tasking, es erhebt nicht mehr den stummen Anspruch auf Aufmerksamkeit, macht mir nicht den stillen Vorwurf mehr, noch nicht ausgelesen zu sein. Und noch etwas Wichtiges: Ich halte es für ausgeschlossen, dass es zur Vorbereitung auf eine Klassenarbeit taugt, über Nacht ein nur virtuelles Schulbuch unters Kopfkissen zu legen!

Das klingt jetzt vielleicht insgesamt alles etwas zu pessimistisch; aber so meine ich es gar nicht. Mir liegt nur daran, dass wir bei aller Freude über den technischen Fortschritt die guten Bücher auch physisch nicht völlig aus der Hand geben, denn wir brauchen nicht allein ihre Nährstoffe, wir brauchen auch ihre Ballaststoffe!

IV.

Nun habe ich mich wohl tatsächlich ein wenig verplaudert. Als gelernter Schwabe hätte ich mit Worten haushalten und mich viel kürzer fassen und einfach meinen Landsmann Friedrich Hölderlin zitieren können:

„Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

Und hätte nur anzufügen brauchen: Die Freunde und Förderer von „Pro Helvetica“, sie stiften Bleibendes auch.

Herzlichen Dank.