„Aus der deutschen Schuld erwächst Verantwortung bis zum heutigen Tag“
Gedenkfeier aus Anlass des 80. Jahrestags des Beginns der Aussiedlung der Einwohner aus der Region Zamość
Skierbieszów, 27. November 2022
I. [Begrüßung, Dank und Rückblick auf den ersten Besuch in Skierbieszów]
Für die Einladung zu dieser Gedenkfeier aus Anlass des 80. Jahrestags des Beginns der „Aktion Zamość“, wie es die deutschen Besatzer damals nannten, also der Vertreibung polnischer Bauernfamilien der Region Zamość von ihren Höfen durch die deutsche Wehrmacht und SS und die Einweisung deutscher Bauernfamilien in diese Höfe, bedanke ich mich herzlich. Sie ist nicht selbstverständlich. Ich bin sehr dankbar dafür. Aus einer solchen deutschen Bauernfamilie stamme ich selbst. Hier in Skierbieszów kam ich am 22. Februar 1943 in der zum Krankenhaus umgewidmeten Schule zur Welt. An diesem Tag schrieb der polnische Chronist Zygmunt Klukowski in sein „Tagebuch aus den Jahren der Okkupation 1939-1944“: „Die Bevölkerung verfolgt gespannt den Verlauf der militärischen Operationen im Osten [die Kapitulation der deutschen 6. Armee in Stalingrad]. […] Die Deutschen jedoch handeln hier nach wie vor ,auf ihre Art‘. Vorgestern wurde Grabowiec ausgesiedelt, in Zamość beschlagnahmen sie vereinzelt Wohnungen […].“Ich war kein Täter, aber ich weiß um die deutsche Schuld und die daraus erwachsene Verantwortung für Deutsche bis zum heutigen Tag.
Sehr gern erinnere ich mich an meinen ersten Besuch, zusammen mit meiner Frau, in Skierbieszów im Mai 2011 zurück. Das ist nun über zehn Jahre her, aber mir steht der freundliche Empfang, der mir damals bereitet wurde, noch immer vor Augen: Das Gespräch mit Bürgermeister Barton, den Besuch dieser Schule und den Austausch, den ich hier mit polnischen und deutschen Schülern hatte, die Gastfreundschaft beim Mittagessen im Pfarrhaus, die Begegnung mit Frau Kropornicka, die mir sagte, wie sie mir beim Laufen lernen half.
II. [Blick zurück: Die „Aktion Zamość“]
Meine Rückkehr nach Skierbieszów bedeutete aber schon damals nicht nur die Rückkehr an den Ort, wo ich geboren wurde, sondern auch die Rückkehr an den Ort eines der schlimmsten Verbrechen, die Deutsche in jener Zeit auf polnischem Boden verübten.
Die Täter der „Aktion Zamość“ folgten einem an Berliner Schreibtischen perfide ausgearbeiteten Plan. Sie überfielen die Dörfer, vertrieben ihre Bewohner oder sortierten sie für Zwangsarbeit aus. Diese Verbrechen und gerade auch die Verbrechen an den „Kindern von Zamość“ dürfen nicht vergessen werden. Sie dürfen niemals vergessen werden!
Historiker schätzen, dass von der „Aktion Zamość“ zwischen November 1942 und August 1943 insgesamt etwa 110.000 Polen, darunter 30.000 Kinder, betroffen waren. Etwa 7.000 Menschen wurden im Zuge der Aktion an Ort und Stelle erschossen.
Ich begrüße diese Gedenkfeier sehr, weil ich glaube, dass in Deutschland immer noch zu wenige über die „Aktion Zamość“ wissen. Und ich bitte Sie, liebe Mitglieder der Delegation aus dem Partnerlandkreis Schwäbisch Hall, dass Sie Ihr Wissen über die hier von Deutschen verübten Verbrechen und Ihre Eindrücke von diesem gemeinsamen Gedenken zu Hause auch weitertragen. Wir werden das gemeinsam machen! Es ist überfällig, dass auf Beschluss des Deutschen Bundestages jetzt auch in Berlins Mitte ein Ort geschaffen wird, der an das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung, die Polen im Zweiten Weltkrieg erlitten hat, erinnert.
[III. Blick in die Gegenwart: Krieg in der Ukraine, Bewährung bestehender Partnerschaften]
Wer glaubte, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende des Kalten Krieges zu keinen Versuchen mehr kommen sollte, die Grenzen in Europa durch Krieg und Gewalt zu verändern, der wird durch den russischen Angriff auf die Ukraine auf brutale Weise belehrt. Wieder versucht eine aggressive Propagandamaschinerie Rechtfertigung für Gewalt zu liefern, für die es keinerlei Rechtfertigung gibt.
Wieder wird eine Zivilbevölkerung zum Ziel von staatlichem Terror. Polnische Stimmen haben nicht erst seit dem 24. Februar dieses Jahres, sondern schon lange davor und immer wieder, auf die von Putins Russland ausgehenden Gefahren für die Sicherheit und Ordnung Europas hingewiesen. Deutschland muss sich jetzt selbst fragen, wie die Torheit von „Nord Stream 2“ angesichts eines zunehmend aggressiv und unbeherrscht auftretenden Russlands passieren konnte. Es war nicht falsch, bessere Beziehungen zu Russland anzustreben. Tatsächlich wurden aber klare Warnzeichen übersehen und die Erfordernisse für Wehrfähigkeit und Energiesicherheit in Deutschland eklatant vernachlässigt. Dafür bezahlen wir jetzt einen hohen Preis.
Mit großer Anerkennung schauen die Deutschen auf die Unterstützung und Hilfe, die Polen seinen Nachbarn in der Ukraine seit Kriegsbeginn zuteil werden lässt. Und wie mich Herr Landrat Bauer informierte, haben die Stadt und der Landkreis Zamość einen großen Anteil daran. Ich finde es bewundernswert, wie sich die Verantwortlichen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger in der Region hierbei einbringen. – Respekt und Dank allen Menschen von Zamość! Szacunek i podziękowanie dla Zamościan!
Da freut es mich natürlich besonders, dass sich in dieser Krisensituation auch die bestehenden Partnerschaften zwischen dem Kreis Zamość und dem Landkreis Schwäbisch Hall, zwischen der Stadt Zamość und den Städten Schwäbisch Hall und Weimar, zwischen den Gemeinden Braunsbach und Zwierzyniec, zwischen Bühlertann und Skierbieszów bewähren. Zur Unterstützung für die unter dem Krieg leidende Bevölkerung in der Ukraine gibt es ein vertrauensvolles Miteinander: Transporte mit Sachspenden aus Schwäbisch Hall und Weimar zum Beispiel kamen nach Zamość, halfen den Geflüchteten vor Ort, fanden dort aber auch ihren Weg weiter in die ukrainische Partnerstadt von Zamość nach Schowkwa. Dort erhält mit gemeinsamer Hilfe aus Zamość und Weimar auch bald ein Kindergarten dringend benötigte Ausstattung. Es gibt also schon Brücken zwischen Polen und Deutschland, die so tragfähig sind, dass sie nun weiter bis in die Ukraine führen können. Europa hat sich durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht auseinanderdividieren lassen, im Gegenteil. Stärken wir solche Brücken weiter und schaffen wir noch mehr davon! Die positiven Beispiele deutsch-polnischer Partnerschaften auf kommunaler und regionaler Ebene zeigen, wie wir lernen können, einander zu vertrauen. Wo wir einander begegnen, uns in die Augen blicken, miteinander ins Gespräch kommen, gemeinsam etwas bewegen, da wachsen solide Beziehungen!
Am 25. Oktober riefen der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj zur Bildung deutsch-ukrainischer Städtepartnerschaften auf. Sie stellten dabei fest, dass kommunale Partnerschaften „eine Grundlage für gelebte Solidarität im Angesicht des Krieges“ bilden und „das Fundament für eine gemeinsame Zukunft“ legen. In Zamość und in Schwäbisch Hall wird dies schon lange praktiziert.
Stellvertretend für die vielen Menschen, die mit Engagement und Tatkraft daran mitarbeiten, dass die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland wachsen und gedeihen, möchte ich den Landräten von Schwäbisch Hall und Zamość, Herrn Bauer und Herrn Grześko, von Herzen Dank sagen.
IV. [Blick nach vorn: Ein starkes Europa braucht eine starke deutsch-polnische Partnerschaft]
Ich glaube, dass die Partnerschaftsgeschichte zwischen Zamość und Schwäbisch Hall auch eine Botschaft für das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland insgesamt bereithält: Wagt einander zu vertrauen und miteinander voran zu gehen, stützt euch gegenseitig, wo es dem einen oder anderen einmal an Mut und Entschlossenheit fehlt. Schaut nach vorn: Europa ist unsere gemeinsame Zukunft – in Zamość und Schwäbisch Hall, in Polen und Deutschland.
Deutschland hat mit Polen einen europäischen Partner, der durch vielerlei Herausforderungen an Selbstvertrauen und Kraft gewonnen hat und noch immer gewinnt. Ohne den Freiheitskampf der Solidarność hätte es keine deutsche Wiedervereinigung gegeben. Heute ist ganz Polen – wie es schon die Festungsstadt Zamość vor 450 Jahren war – ein europäisches Bollwerk für Freiheit und Selbstbestimmung.
Gemeinsam sollten wir überlegen und diskutieren, wie sich die Kluft zwischen den Bürgern Europas und seinen Institutionen schließen lässt, wie sich nationale Identitäten besser zu europäischer Handlungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit bündeln lassen, wie Europa an politischer Strahlkraft gewinnen kann, wie also die Vision einer europäischen politischen Union Wirklichkeit werden kann.
So selbstverständlich, meine Damen und Herren, wie der Austausch mit Frankreich für Deutschland in europapolitischen Fragen geworden ist, muss auch der Austausch zwischen Berlin und Warschau werden. Er ist ebenso offen wie respektvoll zu pflegen. Dass es dabei nicht immer gleich Einigkeit gibt, dass um Standpunkte und Positionen mitunter kräftig gerungen werden muss, ist normal und gelebte Demokratie.
Putins Terror hat uns aber auch wieder neu ins Bewusstsein gebracht, wie notwendig ein einiges und starkes Europa ist, um unsere Freiheit und Demokratie zu sichern. Die Jugendlichen, auf die ich 2011 hier in der Schule von Skierbieszów traf, die mir ebenso aufgeschlossen wie neugierig begegneten, sind heute junge Erwachsene. Ich glaube, dass die ganz große Mehrheit der polnischen Jugend wie auch der deutschen Jugend ein starkes Europa will. Ein starkes Europa wird es aber nur mit einer starken deutsch-polnischen Partnerschaft geben. Lassen Sie uns gemeinsam entschlossen – und mit Freude – diese Partnerschaft weiter voranbringen! Sie bietet die sicherste Gewähr für das, wonach sich so viele Generationen vor uns schon sehnten: Frieden, Freiheit und Wohlstand für alle, in Polen, in Deutschland, in ganz Europa. Ich danke Ihnen.