Europa voranbringen

Dom zu Speyer
Speyer, 14. November 2012



I.

Es ist gerade jetzt wichtig, über Europa zu reden, aber es ist auch schwierig. Als mich Herr Bundeskanzler a.D. Dr. Kohl bat, heute hier im Dom zu Speyer über Europa zu reden, wusste ich, was dagegen spricht, und habe sofort und gerne zugesagt.

Dagegen spricht vor allem, dass mich eigenes vorangegangenes Tun mit der Lage verbindet, in der sich die Europäische Union (EU) und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion heute befinden. Ich bin kein unbefangener, neutraler Betrachter. Ich bin zudem nicht vertraut mit dem genauen Stand der Verhandlungen und Beschlüsse in den europäischen und internationalen Institutionen, die an den komplexen Ursachen und Folgen der jetzigen Lage arbeiten. Einen Vorteil habe ich aber vielleicht: Wer den Vertrag von Maastricht mitverhandelt hat, der ist vielen Fragen schon begegnet, die heute wieder anstehen; und wer keine operative und politische Verantwortung trägt, der kann ohne Taktik sprechen. Also probiere ich mein Glück und hoffe auf Ihr Interesse. Europa ist den Versuch wert.

Meine Damen und Herren,

Albert Einstein hat gemahnt: Man soll die Sachen so einfach wie möglich machen – aber nicht einfacher. Ich werde darum Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld heute Abend länger in Anspruch nehmen müssen, als ich es mir ursprünglich vorgenommen hatte.

Ich gehe in fünf Schritten vor: Als erstes lege ich die Logik dar, die dem Vertrag von Maastricht zugrunde liegt. Dann spreche ich zweitens darüber, wie schlecht der Vertrag angewendet wurde und welche weiteren Ursachen die jetzige Krise in Europa hat. Aus diesen Ursachen leite ich drittens ab, welche politischen Aufgaben erledigt werden müssen. Viertens frage ich: Was kommt nach der Krise, jenseits der Krise? Haben Europa und die Europäische Union jenseits des Gebotes der Selbsterhaltung eine Mission? Alle vier Schritte oder Kapitel habe ich so angelegt, dass das Gesagte immer für alle Staaten und Nationen der EU gelten soll. Zuguterletzt frage ich fünftens: Welchen spezifischen Beitrag können einzelne Mitgliedstaaten und können speziell Deutschland und die Deutschen für die EU und Europa leisten?

 

II.

Erster Schritt: Pardon – der Vertrag von Maastricht ist besser als sein gegenwärtiger Ruf. Die Wirtschafts- und Währungsunion war und ist als Ziel wirtschafts-, währungs- und europapolitisch vernünftig. Sie war und ist eine zeitgemäße Antwort auf die Globalisierung und auf die Herausbildung neuer großer Wirtschafträume und Machtstrukturen und das Grundgefüge der geltenden Bestimmungen zur Wirtschafts- und Währungsunion ist ordnungspolitisch stimmig.

Die Wirtschafts- und Währungsunion soll den Europäischen Binnenmarkt, die eigentliche Grundlage für die wirtschaftliche Stärke Europas, ergänzen und vertiefen. Dieser Binnenmarkt ist ein Raum des freien und fairen Wettbewerbs. Auf ihm konkurrieren die Unternehmen in Europa, gestützt auf die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter, gestützt auf die Güte der jeweiligen öffentlichen Infrastruktur vom Verkehrsnetz bis zur Qualität von Verwaltung und Rechtsprechung, gestützt auf den jeweiligen Mix von Kosten wie zum Beispiel Steuer- und Abgabenlast, Lohnhöhe, Regeln über Kündigungsschutz und Rentenalter. Über alle diese Faktoren wird von den Mitgliedstaaten und in den Mitgliedstaaten entschieden. Niemand wollte je alle diese Bestimmungsfaktoren für den freien und fairen Wettbewerb europaweit vereinheitlichen. Niemand sollte es auch nur versuchen, denn das würde die heutige Freiheit der demokratischen Selbstbestimmung und der Grundrechtsausübung in den Mitgliedstaaten dramatisch verkürzen. Die nationalen Parlamente, die Tarifparteien und die Bürger würden einen Großteil ihrer Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume verlieren. Obendrein lehrt die Erfahrung mit zentralisierten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialordnungen: Sie kosten nicht nur Freiheit, sondern auch Wohlstand.

Die europäische Integration stellt aber die Freiheit der Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt, selbst darüber zu bestimmen, wie hoch die Steuern sein sollen und wie ausgebaut der Sozialstaat, wie effizient die Verwaltung und wie stark die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Jede Nation soll die heimischen Verhältnisse so gestalten können, wie es ihrem Lebensgefühl am besten entspricht. Freilich muss dann auch jede für die Ergebnisse verantwortlich sein. Sie kann dafür nicht die anderen in Haftung nehmen. Das schließt Hilfe zur Selbsthilfe wie etwa die Struktur- und Kohäsionsfonds nicht aus. Aber an der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung jedes einzelnen Mitgliedstaates, jeder einzelnen Nation ändert das nichts. Und Staaten und Nationen werden die Grundlage der Europäischen Union bleiben, so weit das Auge reicht.

Diesen Binnenmarkt als Raum der Freiheit und des Wettbewerbs kann nur eine Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen, die ebenfalls auf die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ihrer Mitglieder gebaut ist. Darum ist die Wirtschafts- und Währungsunion entworfen als eine Gemeinschaft von Staaten, die für ihre Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik selber verantwortlich sind und die diese Verantwortung mit dem gleichen Stabiliätsbewußtsein wahrnehmen. Darum gibt es das Erfordernis der Konvergenz als Eintrittsvoraussetzung und unbefristete Auflage für die Mitgliedschaft in der Wirtschafts- und Währungsunion. Darum wurde ein Verfahren zur Überwachung der dauerhaften Einhaltung dieser Konvergenz vorgesehen. Und darum ist der Haftungsausschluss in der Wirtschafts- und Währungsunion keine willkürliche und nebensächliche Bestimmung, sondern ein Eckstein der ganzen Konstruktion und die Gewähr dafür, dass auch wirklich alle ihre Freiheit verantwortlich gebrauchen.

So ist die Wirtschafts- und Währungsunion von Maastricht entworfen. So haben sie alle Unterzeichnerstaaten akzeptiert.

Bundeskanzler Helmut Kohl und ungezählte andere in Deutschland und Europa haben die Wirtschafts- und Währungsunion und den Euro darüber hinaus um ihres integrationspolitischen Mehrwerts willen gewollt, und das war legitim. Es ging darum, Deutschland noch fester in der Mitte der Europäischen Union zu verankern. Es ging darum, der Europäischen Union noch mehr Anziehungskraft und Tragkraft für die Staaten in Mittel- und Osteuropa zu geben, die in das neu entstehende europäische Staatensystem als Mitglieder der EU integriert werden wollten und sollten. Es ging darum, ein buchstäblich handgreifliches Symbol für das gemeinsame Europa zu schaffen. Das Ziel war, eine Erfolgsgeschichte zu krönen: Jahrhundertelang haben wir Europäer uns bekämpft, jahrzehntelang haben wir endlich zusammengearbeitet, seht her, jetzt zahlen wir mit dem gleichen Geld. Das war und das ist die friedenspolitische, die europapolitische, die integrationspolitische, die ideelle Seite des Euro und der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich könnte auch sagen: Das ist die Vision, für die zuerst vor allem wirkliche Staatsmänner und Staatsfrauen einen Blick haben. Helmut Kohl hat als ein solcher Staatsmann gehandelt.

 

III.

Wahr ist aber auch, und damit bin ich beim zweiten Schritt heute: Die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen – selbst die, die sich stolz als „Hüter der Verträge“ verstehen – haben es von Anfang an und bis in die jüngere Vergangenheit versäumt, dem nach Buchstaben und Geist anspruchsvollen Konvergenzregime der Wirtschafts- und Währungsunion die nötige Aufmerksamkeit zu geben.

Nach Vorschriften des Maastrichter Vertrages, die heute in den Artikeln 119 bis 121 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union stehen, sollte die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union enger koordiniert werden. Ab 1993/94 gab es auf Gemeinschaftsebene ein Verfahren zur Entwicklung wirtschaftspolitischer Grundsätze mit länderspezifischen Empfehlungen. Doch die Auswirkungen dieses Verfahrens und dieser Empfehlungen auf die nationalen Wirtschaftspolitiken blieben gering, weil es keine effektive Überwachung der Wirtschaftspolitiken gab. Die im Vertrag vorgesehene regelmäßige Berichterstattung über die Umsetzung von Empfehlungen wurde sträflich vernachlässigt. Niemand hat für die notwendige Konvergenz gekämpft, auch Deutschland nicht. Hier erging man sich noch lange nach Ausbruch der internationalen Finanzkrise in der reflexartigen Ablehnung der von Frankreich geforderten „Wirtschaftsregierung“, ohne nennenswerte eigene Vorstellungen zu entwickeln, wie den – schon länger sichtbar – strukturell auseinanderlaufenden ökonomischen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion entgegenzuwirken ist. Mich erstaunt, mit welcher Leichtigkeit heute in der Politik über den angeblichen „Konstruktions“- oder „Geburtsfehler“ des Maastrichter Vertrags räsoniert wird. Aus der heutigen Sicht ist der Vertrag sicherlich nicht perfekt. Aber ich finde, Theo Waigel kommt der richtigen Analyse der Schwachstellen schon näher, wenn er – auch selbstkritisch – sagt: Der heutigen Situation in der Wirtschafts- und Währungsunion liegt kein Geburtsfehler zugrunde, sondern ein Erziehungsfehler. Man könnte es auch in der Fußballersprache sagen: Das Team hat sich von Anfang an nicht genug konzentriert. Ein verheerendes Signal war dann die Behandlung des Stabilitäts- und Wachstumspakts durch Deutschland und Frankreich als bloße Frage der politischen Opportunität. Davor hatten die Kritiker des Vertrags von Maastricht immer gewarnt. Und auch über die mögliche Spannung zwischen zentralisierter Geldpolitik, für die die Europäische Zentralbank (EZB) verantwortlich ist, und der weitgehend nationalen Zuständigkeit für die Wirtschafts- und Finanzpolitik gab es von Anfang an kein Erkenntnisproblem. Deutschland hat Mitverantwortung für den laxen, ja respektlosen Umgang mit Buchstaben und Geist des Maastrichter Vertrags.

Das führt mich zu einer ersten grundsätzlichen Schlussfolgerung für das, was künftig auf europäischer Ebene nötig ist: Die Europäische Union wird nur als eine Gemeinschaft des Rechts eine gute Zukunft haben. Die Missachtung des Rechts bedeutet immer eine Missachtung dessen, was vorher nach gemeinsamen Regeln für recht befunden und als Recht festgesetzt wurde. Sie bedeutet einen Einbruch der alten Machtpolitik. Sie zerstört das Vertrauen auf das Recht und das Vertrauen zwischen den Rechtsgenossen. Sie wirkt zersetzend, sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch im Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu Europa.

Darum sollten alle, die in der Europäischen Union Verantwortung tragen, den Buchstaben und den Geist des europäischen Rechts achten und schützen. Sie sollten bei seiner Auslegung und Anwendung auf jeden Husarenritt verzichten und bei der Gesetzgebung auf jeden geheimen Vorbehalt, sich am Ende doch nur dann an das Beschlossene zu halten, wenn das den eigenen Interessen nützt. Die Bürger sind aufmerksam geworden. Sie schauen genau hin, welche Rechtskultur in der Europäischen Union herrscht, welche Verstöße toleriert werden. Es ist viel davon die Rede, die Bürger neu zu begeistern für das europäische Projekt, sie auf den Weg der Integration wieder mitzunehmen. Dabei ist Achtung vor dem Recht die erste Voraussetzung.

Meine Damen und Herren,

Rechtstreue ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den dauerhaften Erfolg der Wirtschafts- und Währungsunion und des Euro. Wir müssen auch der Frage auf den Grund gehen, was die Wirtschafts- und Währungsunion wirtschaftlich bewirkt und welche Fehlentwicklungen das bisher begünstigt hat. Darüber brauchen wir Klarheit, weil nur dann klar wird, was vorrangig geändert und verbessert werden muss.

Es gibt unterschiedliche Erzählungen darüber, wie die übermäßige Verschuldung einiger Mitgliedstaaten entstanden ist, unter der inzwischen die ganze Eurozone leidet. Die meisten Erklärungen sind interessengeleitet. Manche sollen die eigene Verantwortlichkeit herunterspielen und fremde Verantwortung begründen. Andere nennen aus falscher Rücksichtnahme selbst grobe Fahrlässigkeit nicht beim Namen, ganz als könnte man einander nicht die Wahrheit zumuten. Wir erleben zu viele Versuche, sich auf Kosten Dritter aus der Verantwortung zu stehlen, und zu viel routiniertes Drüberwegreden im europäischen Politikbetrieb. Die Bürger registrieren auch das genau und fühlen sich eingesponnen in einen Kokon von Halbwahrheiten, diplomatischer Semantik und medialer Inszenierung. Aber es muss möglich sein, die Dinge beim Namen zu nennen.

Die Wirtschafts- und Währungsunion hat einigen ihrer Mitgliedstaaten anfangs ungewohnt niedrige, geradezu traumhaft niedrige Zinsen beschert. Warum war das so? Weil diese Staaten, die eine Geschichte hoher Inflationsraten und häufiger Abwertungen ihrer Landeswährung hatten, dank ihrer Mitgliedschaft in der Wirtschafts- und Währungsunion in den Genuss der Stabilitätsvermutung kamen, deren Kurzfassung hierzulande lautet: Der Euro – stark wie die Mark. Diese plötzlich verminderte Zinslast hätte für den Schuldenabbau und für produktive Investitionen genutzt werden können. Stattdessen wurden der öffentliche und der private Konsum ausgeweitet. Das hat viel mit einer Strukturschwäche unserer Demokratien zu tun: Um Wähler wird weithin vor allem mit eher kurzfristigen Versprechungen geworben, die Bezahlung wird durch Staatsverschuldung gedeckt und damit künftigen Generationen auferlegt. Diesem Laster haben die meisten europäischen Demokratien gefrönt.

Während manche Mitgliedstaaten das dank Wirtschafts- und Währungsunion billigere Geld genossen, blies der Wind der Globalisierung immer stärker und kühler: Aus Asien und Lateinamerika traten seit 1990 viele neue Wettbewerber auf die Weltmärkte und auf den Europäischen Binnenmarkt und überzeugten dort mit niedrigen Preisen und steigender Qualität. Darin lag eine große Herausforderung für die europäischen Unternehmen, Arbeitnehmer und Regierungen. Diese Herausforderung ist durchaus erkannt worden. Vor zwölf Jahren zum Beispiel beschloss der Europäische Rat, die Europäische Union solle bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt werden (Lissabon-Strategie). Doch europäisches Papier ist anscheinend besonders geduldig. Nur einige Mitgliedstaaten haben ihre Wettbewerbsfähigkeit wirklich konsequent weiterentwickelt, darunter auch Deutschland. Andere fielen schon früh zurück. Ihre Unternehmen haben Kunden und Marktanteile verloren. Ihre Arbeitsmärkte blieben verriegelt, zum Teil fast wie bei mittelalterlichen Gilden und Zünften, während die Jugendarbeitslosigkeit stieg. Und diese Länder haben seit Jahren viel mehr an Waren und Dienstleistungen eingeführt, als sie mit dem Geld bezahlen konnten, das sie selber erwirtschaften. Ihre Verschuldung wuchs immer weiter – unbehelligt von den Verfahren zur Überwachung und Sanktionierung der Konvergenzkriterien. Ihr Wirtschaftspotential reichte immer weniger aus, um die Schulden zu bedienen, die da angehäuft wurden. Und anders als früher konnten diese Staaten ihre nationalen Währungen nicht mehr abwerten, um dadurch wieder wettbewerbsfähiger zu werden – denn sie haben jetzt den Euro.

Das alles ist den Kreditgebern erst seit der internationalen Finanzkrise ab 2007 so richtig klar geworden. Diese Krise wiederum ist eingetreten, weil Banken und Finanzakteure der westlichen Industriestaaten absurd hohe Risiken eingehen konnten. Sie haben dadurch ihre eigene Existenz, das Geld ihrer Sparer und das gesamte Finanzgefüge der Volkswirtschaften aufs Spiel gesetzt. Die USA und viele europäische Staaten mussten einheimische Banken retten und riesige Konjunkturprogramme auflegen, um den Absturz in eine große Depression zu vermeiden. Das hat die öffentliche Verschuldung schwindelerregend erhöht. Manche europäische Staaten sind erst dadurch in eine finanzielle Schieflage geraten: Sie hatten ihre Wirtschaft auf die internationalen Finanzmärkte und auf besonders risikofreudige Banken gebaut und wurden mit ihnen in die Tiefe gerissen.

Zusammengefasst: Drei Entwicklungen haben sich zu einem „perfekten Sturm“ vereint. Erstens haben einige Länder der Eurozone wegen der Stabilitätsvermutung der Wirtschafts- und Währungsunion und trotz des wachsenden globalen Wettbewerbsdrucks mehr konsumiert, als sie aus eigener Kraft erwirtschaften und bezahlen konnten. Sie sind in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zurückgefallen und haben sich übermäßig verschuldet. Das geschah zweitens gegen den Buchstaben und den Geist des Maastrichter Vertrages, aber der wurde geringgeschätzt. Dann hat drittens die weltweite Finanzkrise die staatlichen Haushalte zusätzlich belastet und den Kredit für unstabil wirkende Schuldner verteuert.

 

IV.

Aus dieser Entwicklung folgen vier Aufgaben (mein dritter Schritt):

Erste Aufgabe: Jeder Mitgliedstaat muss sich darüber ehrlich machen, wie sich seine wirtschaftliche Leistungskraft entwickelt hat. Wer zurückgefallen ist, muss entweder aufholen oder sich einschränken. Und das heißt auch: Der Kern des Problems liegt in den einzelnen Mitgliedstaaten, und dort liegt auch der Schlüssel zur Lösung, denn wirtschaftlich aufholen und sozialverträglich sparen können freie Nationen nur aus eigener Anstrengung und aus eigenem Willen. Niemand kann und darf ihnen das im Einzelnen vorschreiben, und erst recht kann es ihnen selbst bei allergrößter Solidarität niemand abnehmen.

Zweitens: Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion muss wieder aufgerichtet und stärker befestigt werden, ohne ihr auf Freiheit und fairen Wettbewerb abgestimmtes Wesen zu verändern.

Drittens: Die Staaten müssen den Banken und Finanzmärkten gegenüber wieder frei werden. Das verlangt die Rückführung der Staatsverschuldung. Und manche Banken sind so groß und eingeflochten in das Wirtschaftsleben, dass der Staat sie selbst bei krassem Fehlverhalten nicht untergehen lassen darf, sondern retten muss. Sie hängen an ihm wie ein Mühlstein. Diese Last muss er abwerfen.

Viertens: Die drei Aufgaben müssen gelöst werden, ohne die bestehenden Probleme noch erheblich zu verschlimmern. Sparprogramme und Strukturreformen dürfen nicht zu sozialen Flächenbränden führen. Ein Schuldenschnitt für das eine Land darf nicht bei den Gläubigern eines anderen zur Panik führen. Strengere Auflagen für Banken sollen nicht deren Kreditvergabe austrocknen lassen, weil dann die Bürger und Betriebe keine Darlehen mehr bekommen. Es geht also in vielen Bereichen um so etwas wie eine kontrollierte Bremsung. Das Tempo soll gedrosselt werden, aber ohne dass sich der Wagen überschlägt. Er soll lenkbar und spurtreu bleiben. Das verlangt hohe Ingenieurkunst und gute Nerven.

Vier Aufgabenfelder also. Welche Lösungswege versprechen Erfolg?

Erste gute Nachricht: Es sind gerade in den Ländern, die derzeit große Probleme haben, inzwischen schon viele Strukturreformen angepackt worden, die deutlichen Erfolg versprechen. Beispielsweise untersucht die Weltbank jährlich in mehr als 180 Staaten, wie gut sich dort ein Betrieb gründen, bauen und betreiben lässt. Dazu werden viele Faktoren gemessen, von der Qualität der Verwaltung über den Zugang zu Krediten und die Steuerlast bis hin zur Stromversorgung. Dänemark liegt, als erstes europäisches Land, auf Platz 5, Deutschland auf Platz 19 der Rangliste. Manche Staaten der Eurozone schaffen es aber nicht einmal unter die ersten 35. Das deutet darauf hin, dass es dort Vieles gibt, was sich mit überschaubarem Aufwand erheblich verbessern lässt, um den einheimischen Unternehmen und potentiellen Investoren die Arbeit zu erleichtern und Wirtschaftskraft zu gewinnen. Ähnliches gilt für manche Arbeitsmärkte und für manche Branchen zum Beispiel im Einzelhandel und bei den freien Berufen, die bisher gegen Konkurrenz abgeschottet sind, so dass Neugründer und junge Arbeitsuchende kaum Chancen haben. Solche Reservate kosten Wohlstand, und sie widersprechen den Grundfreiheiten des Binnenmarkts. Darum lautet eine zentrale Forderung angesichts der Krise: Wir sollten endlich ernst machen mit der vollständigen Verwirklichung der Freiheiten des Binnenmarktes. Die Europäische Kommission sollte nicht ruhen, ehe sie nicht diese Freiheiten in allen dafür vorgesehenen Bereichen restlos durchgesetzt hat. Da bleibt übrigens auch in Deutschland Manches zu tun…

Wie schnell einzelstaatliche Reformen für mehr Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung wirken, das hat jüngst die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD untersucht. Ihr Ergebnis, und das ist eine weitere gute Nachricht: Die Reformen zeigen zwar erst nach einigen Jahren ihre volle Wirkung, aber die strukturellen Verbesserungen für Wachstum und Beschäftigung zeichnen sich recht schnell ab. Ähnliche Erfahrungen haben wir Deutsche mit den sogenannten Hartz-Reformen gemacht: Die Medizin war bitter, aber sie hat binnen weniger Jahre Deutschland vom „Kranken Mann Europas“ wieder zu einem Leistungsträger gemacht. Und eine Reihe von aktuellen Zahlen zeigt, dass die Länder der Eurozone, in denen jetzt Hilfs- und Reformprogramme laufen, in der Tat Fortschritte bei der Konsolidierung ihrer Haushalte und bei der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu machen beginnen.

Zwischenfrage: Ließe sich nicht auch auf umgekehrtem Wege die innere Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion erhöhen? Könnten nicht einige Länder, zum Beispiel Deutschland, ihre Produktivität vernachlässigen, ihre Löhne erhöhen, die Exporte drosseln und mehr bei ihren europäischen Nachbarn einkaufen? Könnte nicht außerdem die Europäische Zentralbank dauerhaft für mehr Liquidität sorgen, auch um den Preis von etwas mehr Inflation? Und könnten nicht einfach die europäischen Transfers, wenigstens die aus den Struktur- und Regional- und Kohäsionsfonds, wesentlich erhöht werden, aus Solidarität der wirtschaftlich Stärkeren mit den Schwächeren?

Antwort: Wer so denkt, der betrachtet die Europäische Union, den Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion als abgeschlossenes System. In einem solchen System ließen sich vielleicht alle hinunterregeln auf ein niedrigeres Niveau an Produktivität, an Wirtschaftskraft und Einkommen. Aber Europa steht im weltweiten Wettbewerb und profitiert als ganzes davon. Auch deshalb haben wir Europäer uns ja immer enger zusammengeschlossen. Wenn wir nun beginnen würden, unser Tempo an den Volkswirtschaften auszurichten, die zur Zeit weniger gut zurechtkommen, weil sie den möglichen Aufholprozess aus eigener Kraft scheuen, dann geriete allmählich die ganze EU in eine Abwärtsspirale. Dann würden die Europäer weltweit Marktanteile und Einkommen verlieren und auf niedrigerem Niveau miteinander Handel treiben. Ein billiger Euro und mehr Inflation würden dann die Neigung, sich nicht zu sehr anzustrengen, noch verstärken. Vermutlich würden dann auch die Stimmen immer lauter, die Europa vor der unbequemen auswärtigen Konkurrenz schützen wollen. Am Ende säßen wir unbeachtet in einer Festung Europa, und Schmalhans wäre für alle Küchenmeister.

Meine Damen und Herren,

das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion wieder aufrichten und es verstärken: Die Arbeiten daran haben begonnen und machen Fortschritte. Das Verfahren zur Überwachung der Einhaltung der Konvergenz ist präzisiert und intensiviert worden und hat mehr Zähne und stärkere Muskeln bekommen. Gut ist, dass jetzt auch die Prüfung der Wettbewerbsfähigkeit und die Untersuchung zwischenstaatlicher Ungleichgewichte anhand konkreter Kriterien einbezogen sind. Das geht in die richtige Richtung, genau wie die Schuldenbremse, zu der sich die nationalen Haushaltsgesetzgeber verpflichtet haben. Es bleibt aber auch noch viel zu tun, und zwar gewissermaßen über die gesamte Strecke einer jeden Staatsschuldenkrise.

Ich denke, man sollte der Europäischen Kommission und dem Ministerrat in jedem Fall eine unabhängige, fachlich wirklich unerbittliche Warninstanz für realistische mitgliedstaatliche Budgetplanungen und für die Einhaltung des Fiskalpakts zur Seite stellen. Und ich finde es richtig, der Eurozone für den Notfall das Recht einzuräumen, einem Mitgliedstaat verbindliche Obergrenzen für die Verschuldung aufzuerlegen – wie seine Parlamente diese Grenzen dann politisch ausfüllen, das ist Angelegenheit ihrer demokratischen Selbstbestimmung und muss ihre Sache bleiben. Dem Recht der Union, im Interesse der Stabilität der Eurozone Verschuldungsgrenzen und Sparziele festzulegen, sollte ein klar geregeltes Austrittsrecht aus der Wirtschafts- und Währungsunion korrespondieren.

Wenn aber ein Land in der Wirtschafts- und Währungsunion bleiben und auf den Stabilitätspfad zurückkehren will, dann kann es sein, dass es dabei Hilfe braucht. Darum ist es richtig, dass die Eurozone für solche Fälle nun den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen hat. Auch dessen Hilfen werden ausschließlich unter strikten wirtschafts- und finanzpolitischen Auflagen gewährt werden. Der ESM wird Strukturreformen finanziell erleichtern können und kann außerdem Staaten und Banken helfen, Kreditklemmen von vornherein zu vermeiden.

Ich halte es aber auch für wichtig, zwischen Zahlungsproblemen und der Zahlungsunfähigkeit von Staaten zu unterscheiden. Eine Insolvenz verliert viel von ihrem Schrecken, wenn sie sorgfältig vorbereitet und sozial gerecht durchgeführt wird, und beides ist möglich. Dann treffen ihre Lasten vor allem diejenigen im In- und Ausland, die sich professionell verspekuliert haben, während die Guthaben von Sparern und Kleinanlegern geschützt bleiben. Dann kann sie einen raschen wirtschaftlichen Wiederaufstieg bewirken. Ich bedauere mehr denn je, dass mein damaliger Vorschlag als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds, ein Insolvenzverfahren für Staaten auszuarbeiten, kein Gehör fand. Das Thema sollte jetzt auf die Reformagenda der Eurozone und der EU gesetzt werden.

Und nicht nur in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Europäische Union darüber nachdenkt, wie sie künftig systematisch Steuerhinterziehungen und Kapitalflucht entgegentreten kann.

Was die Wirtschafts- und Währungsunion dagegen nicht braucht und auch nicht aushalten wird, das ist ein institutioneller Umbau oder eine schleichende Veränderung zur Transfergemeinschaft. Sie würde dem europäischen Projekt seine Konsensgrundlage entziehen: die Freiheit und Selbstverantwortung der beteiligten Nationen und ihren fairen Wettbewerb miteinander. Keine Staatsnation in Europa ist bereit, fortlaufend die Rechnungen für den Konsum einer anderen zu bezahlen. Solche Transferleistungen gibt es allenfalls innerhalb einer Nation, und selbst da ist sie nicht die Regel, das zeigen beispielsweise die USA und die Schweiz, wo die Bundesstaaten und die Kantone auch nicht füreinander haften, einfach weil das die Sitten zu verderben droht. Um wie viel weniger ist eine Transfergemeinschaft in Europa vorstellbar! Das ist keine Absage an solidarische Hilfen, die dazu dienen, Mitgliedstaaten wettbewerbsfähig zu machen und besser in den Binnenmarkt zu integrieren, im Gegenteil: Zwischen den Mitgliedstaaten sind durch den Gemeinschaftshaushalt im Lauf der Jahrzehnte schon Hunderte Milliarden Euro für Aufgaben der Agrarpolitik, für Soziales, für die regionale Entwicklung und Beschäftigung, für den Umweltschutz und für den Verkehrswegebau umverteilt worden. Alles das stärkt die Gemeinsamkeit und wird fortgeführt. Die europäische Solidarität, sie ist doch kein leerer Wahn. Ein Way of Life für Bequeme ist sie aber nicht.

Meine Damen und Herren,

der mangelnde politische Wille, sich den ökonomischen Realitäten und Notwendigkeiten einer Währungsunion zu stellen, ist die Hauptursache für die Krise in der Eurogruppe. Zum heutigen, komplexen Krisengemisch im Euroraum hat aber auch eine Entwicklung beigetragen, deren wesentliche Triebkräfte außerhalb des Euroraums angesiedelt sind: Vor allem in den USA und in Großbritannien wurde die Deregulierung der Finanzmärkte als Zauberstab für mehr Wirtschaftswachstum entdeckt. Das brachte anfänglich auch gewisse Erfolge. Aber inzwischen wissen wir: Für diese Deregulierungspolitik muss die ganze Welt einen unakzeptabel hohen Preis bezahlen. Der global agierenden Finanzindustrie ging es nicht mehr darum, dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg zu finanzieren, der vielen Menschen nutzt, sondern darum, mit gepumptem Geld und hohem Risiko schnelle Gewinne zu machen und die möglichen Verluste auf andere abzudrücken – am Ende auf den Steuerzahler. Ralf Dahrendorf hat das „Pumpkapitalismus“ genannt.

Diese Art von Finanzkapitalismus hat sich als brandgefährlich erwiesen. Sie hat „weapons of mass destruction“ geschaffen, wie Warren Buffett das ausgedrückt hat. Diese Waffen müssen entschärft werden. Wir brauchen einen neuen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte, einen Ordnungsrahmen, der diese in ihrer Gänze erfasst und wieder in eine dienende Funktion gegenüber der Wirtschaft und der Gesellschaft bringt. Das verlangt die Rückkehr zu einer Kultur des Sparens und der soliden Finanzierung, zu einer Kultur der sorgfältigen Hegung von Risiken und der Haftung für getroffene Entscheidungen, zu einer Kultur der Stabilität und des Respekts vor den Sparern und vor den Unternehmern und Unternehmen der Realwirtschaft. Ralf Dahrendorf hat das „Sparkapitalismus“ genannt. Von einem solchen Kulturwandel sind wir noch weit entfernt.

Meine Damen und Herren,

an allen drei Aufgaben – als Mitgliedstaat wettbewerbsfähiger und stabilitätsbewusst werden, das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion stärken, den Finanzsektor bändigen – wird gearbeitet.

Aber auch die vierte vorhin genannte Aufgabe ist enorm wichtig: ein Krisenmanagement, das die nötige Zeit für Reformen in den Mitgliedstaaten und in der Gemeinschaft gewinnt, das die Reformen auch wirklich sicherstellt und das nicht selber zu Maßnahmen greift, die das Reformwerk erschweren.

Vor allem über dieses Krisenmanagement berichten die Medien Tag für Tag, vor allem darüber wird diskutiert. Viele Bürgerinnen und Bürger machen sich Sorgen: Die Krise dauert nun schon Jahre, und ein gutes Ende ist noch nicht gesichert. Gipfelbeschlüsse werden von den Beteiligten immer wieder als Durchbruch gefeiert und dann doch wieder sehr unterschiedlich interpretiert. Was ist von alledem zu halten?

Zunächst: Die meisten Krisen bringen Ungewissheit. Die jetzige Krise ist aber von einem bisher ungekannten Grad an Komplexität gekennzeichnet. Waren Finanzmärkte bisher auf Krisen und Probleme in Schwellen- und Entwicklungsländern eingestellt, so haben sie es jetzt mit einer fast flächendeckenden Krise der Staatsfinanzierung von westlichen Industrieländern, von westlichen Demokratien zu tun. Das ist neu, und es gibt noch keine nennenswerten früheren Erfahrungen mit solchen Schocks. Das hat diese Krise in so besonderem Maße unberechenbar gemacht. Deshalb gibt es auch keinen Königsweg aus der Krise. Eine gute Nachricht gibt es aber auch hier: Das Moment der Überraschung klingt für die Finanzakteure mit der Dauer der Krise ab. Auch deshalb empfiehlt sich jetzt eine gewisse Grundgelassenheit im Krisenmanagement.

Darum gießt niemand Öl ins Feuer, der würdigt, was beim Krisenmanagement bisher gut gelang und was weniger gut, was erfolgversprechend wirkt und was eher problematisch. Dazu drei Bemerkungen:

Ad 1: Die europäische Politik – die der Einzelstaaten und die der Union – hat auf die internationale Finanzkrise schnell und entschieden reagiert, auf die Schuldenkrise einiger Mitglieder der Eurozone dagegen zunächst eher zögernd. Sie hat dann aber den für die Krise in Europa einzig richtigen Ansatz gefunden. Er lässt sich vielleicht am besten auf Englisch beschreiben: We have to be cruel to be kind. Auf Europapolitisch lautet die Übersetzung: Konditionalität, das heißt Hilfen nur Zug um Zug gegen selbstauferlegte wirksame Reformen.

Ehrlicherweise muss auch gesagt werden: Es ist ungewiss, ob dieser richtige Ansatz in allen Fällen erfolgreich sein wird. Wo nicht, gilt zweierlei: Ein Misserfolg würde den Versuch nicht im Nachhinein entwerten, er bliebe ein wichtiger Ausdruck von Solidarität. Und aber: Das Krisenmanagement muss wissen, wann ein Versuch gescheitert ist und alternative Lösungen geboten sind. Es gibt auch Helden des Rückzugs…

Ad 2: Weil die europäische Politik den beschriebenen Ansatz erst allmählich gefunden und vorangetrieben hat, kam auch die Europäische Zentralbank unter Druck. Und sie musste feststellen, dass der Transmissionsmechanismus ihrer Geldpolitik gestört war. Die Finanzmärkte schlossen ein Auseinanderbrechen der Währungsunion nicht mehr aus. Ich halte es nach Lage der Dinge für richtig, dass die EZB in einer solchen Ausnahmesituation auch zu der unkonventionellen Maßnahme greift, Staatsanleihen von Krisenländern auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen. Sie weiß genau, dass der Ankauf von Staatsanleihen nicht die Lösung des Problems ist, sondern nur Zeit kaufen kann. Der Bank muss selber dringend daran gelegen sein, in die goldene Mitte ihres Mandats zurückzukehren: um ihrer eigenen Unabhängigkeit willen, wie sie vom Maastrichter Vertrag vorgeschrieben ist; zur Vermeidung von Bilanzrisiken; und um nicht zum Vehikel eines ungewollten Umverteilungsmechanismus zu werden. EZB-Präsident Draghi hat deutlich gemacht, dass die unkonventionellen Maßnahmen der EZB vorübergehender Natur sind und nicht zu einer neuen Normalität werden, wie das manche Stimmen in der internationalen Finanzwelt insinuieren. Ich habe Vertrauen in die Führung der EZB durch Mario Draghi.

Ad 3: Damit komme ich zu den Zielen, die das Krisenmanagement nach meiner Überzeugung nicht anstreben sollte. Ein schleichender oder gar offener Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion in Richtung Umverteilung und Dauertransfers würde nicht nur das Wesen der Wirtschafts- und Währungsunion verändern und damit ihrer bisherigen Verfassung widersprechen, ein solcher Umbau fände auch in vielen Mitgliedstaaten keine demokratische Akzeptanz.

Manche sagen auch: Gerade in der Krise muss die europäische Integration erweitert und vertieft werden. Ich rate zu großer Vorsicht. Im gegenwärtigen Zeitpunkt sollte die volle politische Konzentration immer noch auf die unmittelbaren Fragen der Krisenüberwindung mit der Hauptverantwortung bei den Krisenländern gerichtet sein. Und nachdem deutsche Bundesregierungen 20 Jahre lang einer ernsthaften und öffentlichen Diskussion über die Finalität der europäischen Integration ausgewichen sind, sollte die Krise jetzt nicht „holterdiepolter“ zu neuen institutionellen Regelungen führen. Gerade in der Frage der weitergehenden Integration kommt es obendrein besonders darauf an, die Bürgerinnen und Bürger wirklich mitzunehmen.

Erfreulich ist immerhin, dass die Diskussion um institutionelle Veränderungen immer auch die weitere Stärkung der demokratischen Legitimität der Europäischen Union ins Auge fasst. Da rate ich dann aber auch dazu, die Frage nicht zu eng zu fassen: Je bedeutsamer zum Beispiel die Rolle des Europäischen Parlamentes wird, je mehr die Europäische Kommission zu einer vom Europäischen Parlament gewählten europäischen Regierung wird, je mehr der Ministerrat zu einer Staatenkammer wird, desto mehr könnte im Parlament die bündische Zusammensetzung zurücktreten. Mit anderen Worten: Das Europäische Parlament soll kein Konvent der Wählerschaften aller Staaten bleiben, sondern immer mehr zu einer homogenen Vertretung der europäischen Wählerschaft werden, die dem demokratischen Grundsatz „one person, one vote“ näher kommt.

Wie auch immer die institutionelle Zukunft der EU aussieht: Ich glaube, dass der Kreis der Fragen, die der nationalen Entscheidung vorbehalten bleiben werden, in den anderen Mitgliedstaaten der EU und der Wirtschafts- und Währungsunion ähnlich gezogen wird wie hier bei uns in Deutschland. Das hat auch seine Richtigkeit, denn es entspricht dem Subsidiaritätsgrundsatz und der demokratischen Selbstbestimmung.

 

V.

Damit komme ich zum vierten Schritt meiner heutigen Überlegungen. Die EU braucht Zukunft. Aber braucht die Zukunft EU? Wäre die Zukunft ärmer ohne unser europäisches Projekt? Davon bin ich zutiefst überzeugt. Die Welt braucht gerade das, was über alle wirtschaftlichen Aspekte der Union weit hinausreicht.

Die Vernunftgründe für die europäische Integration sind unabweisbar. Colin Crouch hat sie neulich noch einmal in aller Ruhe dargelegt: Die europäische Einigung hat Frieden gestiftet und Freiheit und Wohlstand gebracht. Nun wird sie immer wichtiger, um Europa als großen Wirtschaftsraum im weltweiten Spiel der Kräfte zu behaupten, um Netzwerke aufzuspannen und mit anderen zusammenzuarbeiten, allen voran mit den Vereinigten Staaten von Amerika, mit denen uns Europäer so viele gemeinsame Wurzeln verbinden.

Aber Europa, die schöne Königstochter, in die sich der Göttervater Zeus verliebte, sie ist ja nicht durch Vernunft unsterblich geworden, sondern durch Gefühl. Ihre Geschichte ist zugleich eine Geschichte des Über-Setzens von einem Kontinent zum anderen, von einer Kultur zur anderen. Ihre Geschichte wird seit Jahrtausenden erzählt und ist uns allen eingepflanzt. Darum leiden wir alle ein wenig darunter, wenn wir über Europa nur Vernunftgründe hören. Wir fühlen, da ist mehr.

Wir alle denken ja doch beim Stichwort Europa nicht zuerst an Wirtschaftsraum und Netzwerk. Wir denken an die Schönheit und Vielfalt seiner Landschaften, an die Unverwechselbarkeit seiner Städte und Städtchen, an die Fülle seiner Traditionen und Künste. Wir denken an das Gewimmel auf Europas Wochenmärkten und Plätzen, an das tagtägliche gute Miteinander der Europäer und der vielen Menschen, die von jenseits unserer Grenzen hierher gekommen sind, angezogen von dem europäischen Traum, dem Traum, ein auf die Würde des Menschen, auf Freiheit und auf Solidarität gebautes Gemeinwesen zu schaffen.

Diesem Traum ist Europa seit 1945 gefolgt und seit 1989 näher denn je. Und dieser Traum ist aktueller denn je, weil er in der neuen Globalität, die jetzt angebrochen ist, Orientierung geben kann. Ich glaube, dieser europäische Traum von einer besseren Zukunft kann eine Fackel sein, die den Weg in die Zukunft erhellt. Sie darf nicht erlöschen, sie muss weitergetragen werden. Das ist nun wirklich eine Aufgabe, an der sich Jung und Alt und das gute Miteinander der Generationen bewähren können. Mir dominieren in den aktuellen Europadebatten die Stimmen der Älteren fast zu sehr; ich wünschte mir mehr Teilnahme auch der Jüngeren an diesem Dialog, der doch ihre Zukunft am meisten betrifft und bestimmen wird.

Wir Europäer haben nur langsam und mühsam gelernt, uns selbst zu mögen – das Eigene, die Heimat zu lieben und dabei auch das Fremde, die Heimat der Anderen, zu achten und zu schätzen. Wir haben gelernt, unsere Vielfalt als Bereicherung zu verstehen und den Dreiklang von Heimat, Vaterland und Europa als eine Erweiterung unserer Lebensqualität. Wir haben gelernt: Unser gemeinsames, jüdisch-christliches Erbe verbindet sich überall ein wenig anders mit Geschichte, Kultur und Wissenschaft, aber uns alle verbindet ein starkes gemeinsames Band, das aus Freiheit, Demokratie, Recht und Menschenwürde geknüpft ist und das bis in die Antike zurückreicht. Wir Europäer haben dank der europäischen Integration gelernt, die Grenzen zueinander nicht mehr zu verrücken, sondern immer niedriger zu machen, und wir blicken friedfertig und kooperationsbereit über diese Grenzen hinaus in alle Welt. Für unsere jungen Leute ist das alles längst selbstverständlich geworden. Sie leben es. Sie sollten es auch vernehmlich aussprechen.

Das Erreichte macht Europa nicht besser als andere Kontinente, aber es macht Europa zu etwas Unverwechselbarem, zu einer einzigartigen Einheit von wunderbarer Vielfalt. Jahrhundertelang haben sich die Europäer als etwas Besonderes gefühlt, nur meist aus viel schlechteren Gründen als denen, die heute für Europa sprechen. Heute dürfen wir uns unbedenklich bejahen und sollten frohen Herzens zu uns stehen: Ja, wir sind Europa!

Im Grunde fühlen wir alle diese neue Qualität, die wir der europäischen Integration verdanken. Ob wir sie Identität nennen oder eine unserer Identitäten, wen kümmert das? Wir sollten sie nur innig zu schätzen wissen, und wir sollten die Aufgabe und die Chance erkennen, die in dieser Qualität liegt. Wir leben in einer Welt, die zusammenwächst, aber unter großen Wachstumsschmerzen. Wer sich auf anderen Kontinenten umsieht, der erkennt: In vielen Regionen stoßen machtpolitische Interessen hart aufeinander, zwischen vielen Staaten herrscht tiefes Misstrauen, und es gibt viele Wunden, die nicht verheilt sind, und viel historisches Unrecht, das erst noch aufgearbeitet werden muss. Selbst wo es aufwärts geht, drohen Risiken, weil das die Konkurrenz um knappe Ressourcen verschärft und weil es zwischenstaatlich und innerstaatlich die Kluft zwischen Arm und Reich gefährlich vertiefen könnte.

Es ist Teil unserer Verantwortung als Europäer für unsere Eine Welt, an alledem Anteil zu nehmen. Wir können den anderen davon berichten, wie wir Feindschaft und Misstrauen überwunden haben – überwunden zuerst in unseren Staaten, wo wir an die Stelle von Bürgerkrieg und Unterdrückung den Kampf an der Wahlurne gesetzt haben und die demokratische Gleichheit bei Machterwerb und Machtverlust, und überwunden dann auch zwischen unseren Staaten, wo wir den europäischen Bürgerkrieg beendet haben durch die europäische Einigung. Wir könnten vorleben, wie sich Interessen friedlich ausgleichen lassen und warum gerade das aufgeklärte Eigeninteresse den fairen Umgang miteinander gebietet.

Das könnte, das müsste die Mission Europas im Zeitalter der Globalisierung sein. So verstehe ich auch die Auszeichnung der Europäischen Union mit dem Friedensnobelpreis – weniger als Lohn für Erreichtes denn als Ansporn zu Neuem. Die Kraft für diese Mission haben wir, wenn wir unser Haus in Ordnung bringen. Es könnte unser Beitrag zu einem neuen Weltethos sein. Und es wäre in Einklang mit der Geschichte von der schönen Europa, der Übersetzenden zwischen Kontinenten und Kulturen.

 

VI.

Damit komme ich zum fünften und letzten Schritt meines heutigen Denkweges: Können einzelne Mitgliedstaaten, kann Deutschland besonders dazu beitragen, der Europäischen Union eine gute Zukunft zu sichern und der Zukunft ein gutes Beispiel für erfolgreiche Integration?

Meine Antwort lautet: Ohne solche besonderen Beiträge wird es nicht gehen! In der Europäischen Union sind alle Mitgliedstaaten rechtlich gleich; aber sie haben sehr unterschiedliche faktische Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Einige sind größer, bevölkerungsreicher, produktiver, wohlhabender, weltpolitisch erfahrener als andere. Aus diesem größeren Potential folgt größere Verantwortung für die Europäische Union, und das nicht allein im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander, sondern auch im Verhältnis zu unseren Freunden und Partnern in aller Welt. Denn diese Freunde und Partner schauen auf die Staaten der Union und fragen: Wer von Euch hat eigentlich die Größe, das europäische Sternenbanner emporzureißen und die Menschen neu zu begeistern dafür, dass Europa allen Einsatz, alle Arbeit und manches Opfer lohnt?

Oft wird gesagt: Die größeren Mitgliedstaaten profitieren am meisten von der EU, darum müssen sie entsprechend mehr beitragen. Ich verstehe das Argument, und es mag oft stimmen, aber ich halte das für den falschen Ansatz, weil er bloß den eigenen Vorteil im innereuropäischen Vergleich kalkuliert und damit fast kleinkrämerisch bleibt. Die Mitgliedstaaten, die faktisch größer oder stärker oder erfahrener sind, die müssen nach meiner Überzeugung für die europäische Integration selbst dann eintreten, wenn es sich für sie einmal nicht sofort in Heller und Pfennig und Euro und Cent rechnet, wenn sie gerade einmal nicht „am meisten davon profitieren“, wenn die Lasten der Verantwortung einmal außer Verhältnis stehen zu dem Profit, der sich einfahren lässt. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Weil allein diese stärkeren Mitgliedstaaten die Verantwortung überhaupt schultern und das eine oder andere Opfer überhaupt bringen und verkraften können. Wenn sie es nicht tun, dann wird es niemand tun, und alle werden darunter leiden.

In vielen Gruppen gehen die Kleineren ganz gern hinter den Stärkeren in Deckung, das ist längst wissenschaftlich erforscht, und das erfährt jede führende Macht, man frage doch nur die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber wenn die mit den stärkeren Schultern ein Ethos der Gemeinschaft haben, wenn sie es sich zur Ehre anrechnen, im Interesse des Ganzen Impulse zu geben und Lasten zu tragen, dann birgt das seinen Lohn in sich, und dann ist das eine Investition in die gute Ordnung der Welt, ein Gemeinschaftsgut, dessen Nutzen allen zugutekommt, den Schwächeren, aber auch den Stärkeren. Bisher verhalten sich leider auch die größeren Mitgliedstaaten der EU oft so, als ginge es ausschließlich darum, materiell möglichst viel für sich selbst herauszuholen. Sollte es nicht in Europa endlich einen Wettstreit darum geben, wer die Gemeinschaft am entschiedensten voranbringt, wer am entschiedensten in die gemeinsame Zukunft investiert? Denn nur das entspricht der Logik des Aufstiegs und der Erneuerung!

Vielleicht werden die Abgeklärten müde abwinken und sagen: Ehre, Investition in die Zukunft unserer Kinder, Opfer – das sind ja Gedanken von vorgestern. Denen sage ich: Die Welt ist nicht abgeklärt und müde, die Welt ist jung und dynamisch, auch wenn Ihr es nicht merkt in Eurem Winkel. Die Welt schaut auf Europa als auf eine Wiege von Kultur und Zivilisation, von Erfindungsreichtum und Fortschritt, von Demokratie und Menschenrechten, aber die Welt beginnt sich zu fragen: Steht diese Wiege inzwischen leer? Birgt sie nur noch Spinnweben?

Darum verstehe ich gut, warum der polnische Außenminister Radek Sikorski vor einem Jahr in Berlin gesagt hat, er fürchte weniger deutsche Macht als deutsche Untätigkeit. Deutschland ist einer der starken Mitgliedstaaten der EU und der Wirtschafts- und Währungsunion. Kein europäisches Land hat mehr Nachbarn als wir, und weil unter Nachbarn immer auch wichtig ist, wie der Nachbar mit seinen anderen Nachbarn zurechtkommt, darum hat auch kein Land mehr Nachbarn von Nachbarn im Blick als Deutschland. 1945 hat der französische Dichter und Diplomat Paul Claudel mit Recht gesagt, und Hans-Dietrich Genscher hat es mit Recht 1998 im Deutschen Bundestag zitiert: „Deutschland ist nicht dazu da, die Völker zu spalten, sondern sie um sich zu versammeln. Seine Rolle ist es, Übereinstimmung zu schaffen, all die unterschiedlichen Nationen, die es umgeben, spüren zu lassen, dass sie ohne einander nicht leben können.“

Wohlan denn, lassen wir unsere Freunde jenseits des Ärmelkanals spüren: Wir fürchten britische Rabattschlachten um den EU-Haushalt weniger als den Tag, an dem es beim besten Willen nicht mehr genug politische Schnittmengen zwischen Insel und Kontinent mehr gibt. Lassen wir unsere Freunde westlich des Rheins wissen: Wir fürchten Eure merkantilistischen und sozialistischen Impulse weniger als das Versagen des deutsch-französischen Europa-Motors. Lassen wir unsere Freunde südlich der Alpen wissen: Italien ist das Land unserer Sehnsucht, und Eure neue Politik für Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit ist unsere Hoffnung. Lassen wir unsere Freunde jenseits von Oder und Neiße wissen: Gott hat die Polen und die Deutschen zu Nachbarn bestimmt, zeigen wir der Welt, wie segensreich für ganz Europa diese Nachbarschaft gedeihen kann!

Ermutigen wir alle Nationen und gerade unsere stärkeren Vettern dazu, gemeinsam etwas mehr für Europa zu tun, als es einer rein nationalen Kosten-Nutzen-Rechnung entsprechen mag. Reden wir ihnen ins Gewissen, wie wichtig das ist, und gehen wir mit gutem Beispiel voran:

Ich denke, Deutschland kann – unter der Bedingung, dass alle Staaten der Eurozone erweiterten Gemeinschaftskompetenzen zur Durchsetzung der Konvergenz zustimmen – wagen, einen Schuldentilgungspakt zu schließen, wie ihn der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im vergangenen Jahr vorgeschlagen hat, als eine Brücke zu neuem Vertrauen in Europa und zu fiskalischer Solidität.

Und wie wäre es, wenn Deutschland zusammen mit Frankreich eine kraftvolle Initiative zur Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ergreifen würde, die dann auch zu einer gemeinsamen, transparenten Beschaffung von Rüstungsgütern führt?

Würden nicht Initiativen in dieser Art der Größe der Verantwortung entsprechen, die Deutschland bei seiner geographischen Lage und seiner Stärke zufällt? Beweisen wir doch unsere Phantasie und unseren Enthusiasmus für das Europa der Freiheit und des Friedens, das wir mit aufgebaut haben! Zeigen wir doch, wie froh wir sind, in diesem Europa zu leben, umgeben von Freunden; zeigen wir es auch, indem wir Führungsverantwortung übernehmen, wo das nötig ist.

Ob es wohl genug Menschen gibt – Staatsfrauen und Staatsmänner vom Format eines Helmut Kohl und Bürgerinnen und Bürger Europas – die eine solche Vision von Europa und von Deutschlands Rolle in Europa bejahen und sich dafür einsetzen? Wünschen wir es uns!

Herzlichen Dank.