Globale Partnerschaft – Gedanken zu einem neuen Leitmotiv der internationalen Politik

Eberhard Karls Universität Tübingen
Tübingen, 13. Dezember 2013



I.

Eine Woche nach dem Tod Nelson Mandelas ist es unmöglich, eine Rede über die internationale Politik zu halten, ohne an diesen, ja, Helden der Menschheit zu erinnern. Mandela hat der Welt gezeigt, wie friedlicher Wandel gelingt, und was eine Haltung der Wahrhaftigkeit, des gegenseitigen Verständnisses und der Versöhnung bewirken kann. Mich haben die Begegnungen mit ihm darin bestärkt, dass die Welt eine allseitige Besinnung darauf braucht, wie die gemeinsamen Interessen der Menschheit lauten und wie sich gemeinsam an ihnen arbeiten lässt, verbunden durch gemeinsame Ziele, Werte und Regeln. Gäbe es mehr Nelson Mandelas in der Welt, müsste ich heute nicht so viele Worte über Partnerschaft verlieren. Kofi Annan hat Nelson Mandela mit den folgenden Worten gewürdigt: „As we mourn his passing and honor his memory, the task for leaders and citizens alike is to dare to follow his example – in every corner of Africa and across the world.“ Und so frage ich mich heute auch: Was kann uns das Beispiel Mandelas lehren? Widmen wir unsere Diskussion heute Abend in diesem Sinne Nelson Mandela.

Erst bei der Vorbereitung für diese Vorlesung ist mir aufgefallen, dass ich vor ziemlich genau zehn Jahren, im Oktober 2003, meine Antrittsvorlesung hier an der Universität Tübingen hielt. Mein Thema damals war: „Orientierungen für eine bessere Globalisierung“. Seitdem ist viel passiert. Zum Beispiel hat die Insolvenz einer einzigen internationalen Bank eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst, die noch nicht ausgestanden ist. Und es wird immer deutlicher, dass der Klimawandel menschengemacht ist und schon jetzt verheerende Folgen hat: Die Schäden, die seit Beginn dieses jungen Jahrhunderts durch Naturkatastrophen hervorgerufen wurden, belaufen sich auf über 2,5 Billionen Dollar.

So möchte ich heute wieder über diese interdependente Welt sprechen, aber unter anderen Vorzeichen. Ich bin heute deutlich ungeduldiger als damals. Ich komme auch nicht mehr, wie noch 2003, als Chef des IWF oder wie später als Bundespräsident nach Tübingen, sondern als Bürger, dem seine Arbeit in Deutschland und im Ausland eine klare Erkenntnis vermittelt hat: Die Schicksale der Weltgemeinschaft haben sich in einem solchen Maße und in einer solchen Geschwindigkeit miteinander verwoben – ökonomisch, ökologisch, sozial, und auch moralisch – dass wir dringend einen Paradigmenwechsel brauchen, der dieser Wirklichkeit endlich auch politisch Rechnung trägt. Die internationale Politik braucht einen neuen Geist des Miteinanders und ein neues Leitmotiv der Zusammenarbeit. Sie braucht den Geist und das Leitmotiv der Partnerschaft. Und ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nur nötig, sondern auch möglich ist.

Betrachten wir die Wirklichkeit am Anfang des 21. Jahrhundert: 1943, das Jahr in dem ich geboren bin, betrug die Weltbevölkerung 2,3 Milliarden. Innerhalb meines Lebens hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht, es gibt jetzt über 7,1 Milliarden Menschen auf der Welt. Wenn mein Sohn so alt sein wird wie ich es heute bin, in der Mitte dieses Jahrhunderts, dann werden es über 9 Milliarden Menschen sein. Und wir werden nicht nur immer mehr, wir werden auch immer älter: 1950, da war ich gerade in die Schule gekommen, hatten nur 1% der Weltbevölkerung eine Lebenserwartung von über 70 Jahren, heute sind es 57%, also über die Hälfte aller Menschen, die so alt werden. Diese Entwicklung ist Ausdruck einer unglaublichen wirtschaftlichen und sozialen Dynamik: 2 Milliarden Menschen gehören weltweit schon zur globalen Mittelschicht, und bis im Jahr 2030 werden voraussichtlich noch einmal 3 Milliarden Menschen diesen wirtschaftlichen Aufstieg schaffen. Das ökonomische Netz der Welt ist immer enger geknüpft und hat in den letzten Jahrzehnten den größten Wohlstandsschub in der Menschheitsgeschichte ermöglicht.

Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Seinen Roman „A tale of two cities“ begann Charles Dickens mit den mittlerweile legendären Worten “It was the best of times, it was the worst of times“. Ist das das Motto dieses Millenniums? Denn auch diese Zahlen und Fakten gehören zum großen Weltpanorama Anfang des 21. Jahrhunderts: Insgesamt leben heute immer noch rund eine Milliarde Menschen in absoluter Armut, noch immer geht weltweit jeder achte Mensch hungrig zu Bett, noch immer ist fast jedes sechste Kind unterernährt. Die globale Schere zwischen den extrem Armen und den extrem Reichen klafft immer weiter auseinander. Im Jahr 2011 hatten 1400 Milliardäre, also nur etwas mehr Menschen, als in diesen Festsaal passen, dasselbe Einkommen zur Verfügung wie die ärmsten 1,9 Milliarden Menschen zusammen. Kann irgendjemand glauben, dass eine solche Entwicklung Bestand haben kann?

Jetzt könnte man sagen: Was ist das Problem, Armut und Ungleichheit hat es doch schon immer gegeben, freuen wir uns über die Fortschritte, drehen wir hier und da an der ein oder anderen entwicklungspolitischen Schraube, und weiter zieht die Karawane…

Dieser Haltung will ich zwei grundlegende Punkte entgegenstellen.

Erstens erleben wir einen technologischen Wandel, der, angetrieben vom Internet, den Zugang zu Informationen weltweit erleichtert. Die Armen dieser Welt sind über Fernsehen und Internet mit dem Globus besser vernetzt als je zu vor. Zwar haben nur 4,5 Milliarden Menschen Zugang zu einer Toilette – aber 6 Milliarden Menschen haben Zugang zu einem Mobiltelefon. Die globalen Unterschiede und die Vorteile des komfortablen westlichen Lebensstils sind also für alle sichtbar und für die meisten wohl auch attraktiv. Auch umgekehrt können wir plötzlich vieles deutlicher sehen: Wenn in Bangladesh, wie im April dieses Jahres, beim Einsturz einer Fabrik 1129 Menschen sterben müssen, die dort für Hungerlöhne und unter unmenschlichen Bedingungen Kleider für uns westliche Konsumenten genäht haben, dann flimmern die Bilder der Leichen über unsere Flachbild-Fernseher und die Hintergründe über das Unglück werden auf Facebook geteilt, und keiner kann mehr sagen, er hätte davon nichts gewusst; und wenn vor Lampedusa 359 Menschen tot aus dem Meer gefischt werden, die auf dem Weg ins verheißene Europa ertrunken sind, dann kann man zwar auf den Bildschirmen nicht die Schamesröte erkennen, welche diese unterlassene Hilfeleistungen unseren europäischen Großkopferten ins Gesicht hätte treiben müssen, aber die Leichen, die kann man sehen, und keiner kann mehr sagen, er hätte davon nichts gewusst. Der technologische Wandel macht die grellen Kontraste auf diesem Planeten für jeden offensichtlich, und zwar für Profiteure und Notleidende zugleich. Das technologische und soziale Netz der Welt ist immer enger geknüpft.

Und zweitens: Der Aufstieg der globalen Mittelschicht bringt den Planeten an den Rand des Kollapses, wenn er nach dem alten Wachstumsmuster verläuft. Der Hunger nach Rohstoffen ist so groß wie nie zuvor. Um die wachsende Weltbevölkerung zu versorgen, wird bis 2030 30% mehr Wasser, 40% mehr Energie und 50% mehr Nahrungsmittel nötig sein. Pro Jahr gehen etwa 13 Mio. Hektar Waldfläche verloren, v.a. weil sie in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt werden, was die globale Ökobilanz massiv verschlechtert. Der historisch einmalige Verlust der Biodiversität birgt noch ungeahnte Risiken. Und wenn die Begrenzung der Erderwärmung auf 2 Grad Celsius gelingen soll, dürfen bis 2050 nur noch etwa 750 Milliarden Tonnen CO2 aus fossilen Quellen in die Atmosphäre gelangen. Aber diese Grenze wäre selbst dann schon 2040 überschritten, wenn die Menschheit auch nur weiterhin so viel CO2 emittiert wie heute. Wir müssten die Emissionen also rasant reduzieren, statt sie wie bisher weiter zu erhöhen.

Alles läuft auf die Frage hinaus: Von welcher Substanz soll sich eigentlich das Wachstum nähren, welches uns der Vision einer Welt des Wohlstands für alle näherbringt?

Der Lebensstil der Moderne stößt an seine Grenzen. Der Klimawandel, das vielleicht größte Problem, das wir unseren Kindern vererben, ist vor allem eines: das gigantischste Marktversagen in der Geschichte der Menschheit, weil Menschen und Firmen nicht bezahlen müssen für die Schäden, die sie verursachen. In der kleiner werdenden Welt gibt es immer weniger Möglichkeiten, die negativen Konsequenzen unseres Handelns abzuwälzen auf andere Länder oder zukünftige Generationen. Würde man den heutigen Ressourcen- und Energieverbrauch von uns Europäern globalisieren, bräuchte man vier Planeten als Reserve. Und genau so, wie die Entscheidungen der USA oder Europas ökologische Auswirkungen auf den Rest der Welt haben, so werden die Entscheidungen Chinas, Indiens, oder Brasiliens in naher Zukunft immense Auswirkungen auf uns haben. Das ökologische Netz der Welt ist immer enger geknüpft.

Die Weltbevölkerung ist also, so drückt das Jürgen Habermas aus, längst zu einer „unfreiwilligen Risikogemeinschaft“ verurteilt. Und bei allen ökonomischen, technologischen und ökologischen Konvergenzen ist offensichtlich, dass die politische Reaktion darauf hinterherhinkt, dass die Politik nicht nachkommt, diese globalisierte Welt zu managen und zu gestalten.

II.

So sieht sie aus, die Welt. Und was machen wir jetzt damit? Da sind ja verschiedene Möglichkeiten im Angebot: Da sind zunächst diejenigen, die die Augen verschließen und mit einem jovial-rheinischen „Et hett noch immer jot jejange“ oder auch einem schulterzuckend-schwäbischen „S’isch halt wie’s isch“ alles einfach hinnehmen. Andere wiederum versuchen, sich unter die vermeintlich warme Decke des Lokalen oder Nationalen zu verkriechen, sich einzuigeln und abzugrenzen; und nicht ohne Sorge schaue ich auf die nächsten Europawahlen, wo politische Extremisten und Volksverführer angesichts der weltweiten und der europäischen Unsicherheiten mit furchtbaren Vereinfachungen werben und die Illusion verbreiten, ein Land könnte besser abschneiden, wenn es aus der Globalisierung aussteigt und anderen die Partnerschaft und Solidarität aufkündigt. Da wird aus Furcht vor Veränderung schnell Aggression gegen Vielfalt, und aus Selbstzweifel Nationalismus. Diesen Anti-Reflex gibt es mit anderem Zungenschlag auch in anderen politischen Lagern. Da haben wir zum Beispiel den „ökologischen Calvinismus“, wie Peter Sloterdijk das spöttisch nannte, also den Traum der radikalen Abkehr von der Moderne, der Entsagung von den Freuden und Sünden des Fortschritts. Diese Art, sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, grassiert fast nur im satten Norden der Welt, wo der Verzicht aufs Zweitauto und den Zweiturlaub gepredigt werden kann. Für viele Menschen im globalen Süden dagegen liefe diese Form von Heuchelei darauf hinaus, dass sie die tägliche Zweitmahlzeit verlieren oder die Aussicht auf ein zweites Paar Schuhe oder die Möglichkeit, auch das zweite Kind auf eine weiterführende Schule zu schicken.

Und dann gibt es natürlich die Flucht in die Resignation, die Kapitulation vor dem unvermeidlichen Ende der Menschheit wie wir sie kennen, quasi das große mephistophelische Seufzen „Auf Vernichtung läuft’s hinaus“. Diese Reaktion gibt es in zwei Varianten, der fröhlich-zynischen und der depressiv-zynischen: Fröhlich-zynisch kapituliert vor der Zukunft haben jene, die die Party feiern wollen solange es noch geht: „Nach uns die Sintflut“ im Wortsinn. Die depressiv-zynische Variante der Resignation findet man beispielsweise in dem Buch des britischen Wissenschaftlers Stephen Emmott, der sich viele berechtigte Gedanken darüber macht, was ein Bevölkerungswachstum auf 10 Milliarden Menschen mit sich bringt – um dann schulterzuckend im letzten Satz des Buches einen befreundeten Wissenschaftler zu zitieren mit dem Rat, angesichts dieser Herausforderungen seinem Kind beizubringen, wie man mit einem Gewehr umgeht. Zurück zum bellum omnium contra omnes, wie Thomas Hobbes den menschlichen Naturzustand charakterisierte, zum Krieg aller gegen alle? Schießen lernen für die Zukunft?

Es wird Sie nicht überraschen, dass ich Einspruch erhebe gegen solche Szenarien, und zwar entschiedenen und leidenschaftlich. Es gibt ihn, den Weg zu einer besseren, gerechteren, umweltfreundlicheren, kurz: lebenswerten und zukunftsfähigen Welt, und zwar für alle, im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen.

III.

Über diesen Weg habe ich mir im vergangenen Jahr Gedanken gemacht, zusammen mit 26 anderen Persönlichkeiten aus der ganzen Welt. Wir alle waren vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, im August 2012 in eine Arbeitsgruppe berufen worden, dem sogenannten „High Level Panel on the Post-2015 Development Agenda“. Unsere Aufgabe war, einen ersten Vorschlag für eine „kühne und zugleich praktikable“ Entwicklungs-Agenda für die Zeit nach 2015 zu machen (daher: post-2015), also darüber nachzudenken, welche gemeinsamen Ziele sich die Weltgemeinschaft für die nächsten Dekaden setzen sollte. Schon im Jahr 2001 hatte es einen gemeinsamen Zielkatalog gegeben, der unter dem Namen „Millennium-Entwicklungsziele“, kurz: MDGs, weltberühmt wurde. Darin geht es vor allem um die Bekämpfung von Armut und um die Verbesserung des Gesundheitsniveaus und der Schulbildung. Das wohl bekannteste dieser Ziele ist das Ziel eins, nämlich den Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen weltweit um die Hälfte zu reduzieren. Die acht MDGs sollten bis 2015 erreicht werden, und auch wenn das MDG eins v.a. dank des Aufstiegs Chinas wahrscheinlich ein Erfolg wird, ist die Bilanz doch ziemlich gemischt. –Was soll also nach 2015 passieren?

Nach monatelangen Beratungen, Diskussionen, und viel Austausch mit Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft, hat unsere Gruppe im vergangenen Mai dem VN-Generalsekretär ihren Bericht über eine Entwicklungs-Agenda für die Zeit nach 2015 vorgelegt. Trotz manch unterschiedlicher Auffassung im Detail waren wir uns einig, dass eine Politik des „business as usual“ nicht ausreicht, sondern dass die gigantischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine tiefgreifende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft an allen Enden unseres Planeten erforderlich machen. Das heißt, dass die Post-2015 Agenda eine universelle Agenda sein muss, also eine, deren Ziele für alle Staaten relevant sind, für Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer zugleich.

Wir halten fünf transformative Veränderungen im Denken und Handeln für erforderlich, um den globalen Wandel voranzubringen.

I. Niemand darf zurückgelassen werden.

Wir waren uns einig: Ein Ende der Armut ist möglich. Das Ziel muss sein, nicht nur irgendwelche Anteile zu verringern, sondern bis zum Jahr 2030 die extreme Armut auszurotten. Und mehr noch: in der Vision unseres Panels muss es um nachhaltigen Wohlstand für alle Menschen gehen, um ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht. Dafür brauchen wir überall eine Grundversorgung mit Trinkwasser und Bewässerung, mit Verkehrswegen und Energienetzen, mit Bildungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung. Dafür brauchen wir überall die Gleichberechtigung der Geschlechter, den Schutz von Minderheiten und die Durchsetzung von Menschenrechten.

II. Nachhaltigkeit muss zum Rückgrat aller Entwicklung werden.

Ich verstehe unter Nachhaltigkeit vor allem, dass wir unseren Kindern eine Welt überlassen, die ihnen mindestens dieselben Freiheitsgrade bietet, wie wir sie haben. Das lässt sich mit den heute vorherrschenden Konsum- und Produktionsmustern nicht erreichen. Die Politik darf auch vor Regulierung nicht zurückschrecken, wenn das bedeutet, die Rahmenbedingungen für den Markt so zu gestalten, dass sich ökologisch verantwortbares Wirtschaften lohnt und die Kosten der Umweltverschmutzung nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Das Verursacherprinzip muss global konsequent durchgesetzt werden. Und es muss massiv investiert werden in die Entwicklung technisch revolutionärer Lösungen, die den Ressourcen- und Energieverbrauch drastisch senken.

III. Die Volkswirtschaften müssen transformiert werden hin zu inklusivem, arbeitsintensivem und umweltverträglichem Wachstum

Das Panel ruft dazu auf, die Nützlichkeit von Wachstum besonders daran zu messen, dass es Einkommen und Arbeit für alle schafft. Bis 2030 wird es weltweit 600 Millionen mehr Menschen als heute geben, die auf den Arbeitsmarkt drängen und nach Perspektiven suchen.

Die Bausteine für quantitatives und qualitatives Wachstum, das den Menschen in der Breite zu Gute kommt, sind bekannt: das sind vor allem Bildung, Forschung und Entwicklung, Investitionen in die Infrastruktur und insgesamt die Transformation der Volkswirtschaften auf die umweltverträgliche Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen. Rohstoffreiche Länder müssen endlich ihr Geld nicht allein mit Rohstoffexporten verdienen, sondern selber verarbeitende Industrien aufbauen. Arbeit schaffendes Wachstum verlangt Freiraum für den privaten Sektor, Rechtsstaatlichkeit und die energische Bekämpfung von Korruption

IV. Für Frieden, gute Ordnung und nachhaltige Entwicklung brauchen wir effiziente und rechtstreue Regierungen und Verwaltungen, die ihren Bürgern verantwortlich sind.

Die Bedeutung solider Institutionen für den friedlichen Fortschritt ist lange unterschätzt worden. Und Freiheit von Gewalt und Konflikt ist nicht nur ein grundlegendes Menschenrecht, sondern auch das Fundament, auf dem jeder Wohlstand beruht. Gleichzeitig verlangen viele Menschen weltweit immer lauter nach transparenten Regierungen, die ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen. Zugang zur Justiz, Freiheit von Diskriminierung und unrechtmäßiger Verfolgung, und gehört zu werden bei Entscheidungen, die die Menschen betreffen – das sind sowohl Entwicklungsziele im eigentlichen Sinne wie auch Voraussetzungen dafür, um überhaupt Entwicklung zu erreichen.

V. Wir müssen eine neue globale Partnerschaft für die Entwicklung unseres Planeten schmieden.

Damit bin ich nun auch endlich bei dem im Titel versprochenen Thema angelangt. Wir haben uns gefragt: Brauchen wir nicht ein neues Paradigma für die internationale Politik, brauchen wir nicht ein Leitmotiv für die Post-2015 Agenda, das endlich der starken Interdependenz auf unserem Planeten Rechnung trägt? Unsere Antwort war am Ende eindeutig und einmütig: Ja, wir brauchen diesen Paradigmen-Wechsel in der internationalen Politik. Das heißt wir brauchen mehr als nur eine neue oder andere Liste von Entwicklungszielen. Das Panel war sich einig, dass die Post-2015 Agenda von einem neuen Geist der Solidarität, der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht getragen sein muss. Dieser Geist muss sich auf einem gemeinsamen Verständnis auch des globalen Gemeinwohls und globaler Ethik entwickeln. Die politische Verwirklichung dieses Geistes nennen wir „globale Partnerschaft“. Sie beruht auf zwei Prinzipien: Erstens muss nationale Politik unter Berücksichtigung des globalen Gemeinwohls gestaltet werden – also das bekannte Motto „global denken, lokal handeln“. Es braucht aber auch, zweitens, die umgekehrte Richtung: Nationale Regierungen müssen multilaterale Lösungen für die vielen Probleme finden, die sie lokal betreffen, aber die nur international lösbar sind – also quasi „lokal denken, global handeln“. Diese beiden Prinzipien bilden den Faden, der sich durch alles politische Handeln im 21. Jahrhundert ziehen muss, eben als neues Leitmotiv der internationalen Politik, als globale Partnerschaft.

Auf der Grundlage der 5 vom Panel beschriebenen transformativen Veränderungen haben wir 12 beispielhafte Ziele entwickelt, die konkret beschreiben, was die Staatengemeinschaft bis zum Jahr 2030 erreichen soll, und jedes Ziel wiederum hat bestimmte Unterziele, die mit verschiedenen Indikatoren hinterlegt worden sind, anhand derer die Zielerreichung überprüft werden kann. Soweit unser Panel-Report, der als Diskussionsimpuls für die zwischenstaatlichen Verhandlungen zur Post-2015 Agenda gedacht ist (er ist im Internet abrufbar). Die Beschlussfassung in der VN-Generalversammlung ist für September 2015 vorgesehen.

IV.

Wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind, dann sagen Sie jetzt vielleicht – das ist ja schön, dass Horst Köhler und das High Level Panel so viel politische Phantasie haben, dass sie an das Gute im Menschen glauben und daran, dass eine bessere Welt möglich ist. Aber ist die „globale Partnerschaft“ nicht trotzdem nur eine Utopie, eine schöne Vision, ein Zwangsoptimismus, alles in allem jedenfalls völlig unrealistisch und damit letztendlich nichts, was uns weiterbringen würde? Oder, noch schlimmer, kaschiert eine solche Rhetorik nicht die realen Asymmetrien in der Welt und ist dann doch nur das verbale Feigenblättchen der Stärkeren zur ungestörten Durchsetzung ihrer alten Machtpolitik? Ich gebe zu: dieses Unbehagen ist mir nicht fremd. Deshalb habe ich mir ein paar Gedanken notiert zu diesem neuen Leitmotiv und ich freue mich, dass ich diese Gedankenskizze im Rahmen dieser Vorlesung mit Ihnen teilen darf. Das Ergebnis kann ich Ihnen jetzt schon verraten: Die globale Partnerschaft ist in meinen Augen kein naiver Idealismus, sondern sie ist wahre Realpolitik, weil wir anders unsere Probleme gar nicht lösen können.

Mein Ausgangspunkt ist folgender: Ich glaube, dass die Politik – in Deutschland, Europa, und der Welt – immer noch von einer politischen Konzeption der Welt ausgeht, die nur noch wenig mit der Realität zu tun hat, und dass diese grundlegenden Missverständnisse eine echte kooperative Politik verhindern. Mein Nachdenken über die globale Partnerschaft habe ich daher auf vier Schlüsselbegriffe der Politik konzentriert. Demnach verlangt globale Partnerschaft als orientierendes Leitmotiv internationaler Politik erstens eine neue Befassung mit dem Souveränitätsprinzip, sie muss zweitens die Frage nach der Legitimität eines neuen Souveränitätsverständnis beantworten, sie muss drittens nationale Interessen im Lichte des globalen Gemeinwohls beurteilen und sie muss viertens die Frage nach einer gemeinsamen Wertegrundlage stellen. Das klingt alles sehr abstrakt. Ich will diese vier Schlüsselfragen etwas aufdröseln, will mich herantasten an einige Paradoxien, die mit einem solchen Leitmotiv verbunden sind – durchaus in der Hoffnung, dass Leute, die klüger sind als ich, dem noch einiges hinzuzufügen haben.

Zur Souveränität: Auch die machtpolitischen Muskelspiele, mit denen uns erschöpfte und neu erstarkende Weltmächte auf der globalen Bühne regelmäßig quälen, können kaum darüber hinwegtäuschen: Nationalstaatliche Souveränität, definiert als absolutes staatliches Gewaltmonopol über ein bestimmtes Territorium verbunden mit absoluter Freiheit vor der Intervention anderer Staaten, wird immer mehr zur Illusion. Offene Märkte, offene Gesellschaften und offene Technologien überwinden auch die stärksten Ländergrenzen. Pandemien, Naturkatastrophen, internationaler Terrorismus, Migration, Klimawandel, internationale Finanzkrisen, Welthandel…you name it… Die großen globalen Probleme sind nur jenseits der Handlungsmacht einzelner Nationalstaaten bearbeitbar. Die große Ironie dieser Entwicklung bringt Peter Sloterdijk auf den Punkt: „Die Globalisierung wird paradox gegen ihre eigene Grundtendenz wirksam: Indem sie auf der ganzen Linie Expansionen durchsetzt, erzwingt sie Beschränkungen auf der ganzen Linie“.

Neben dem empirischen Blick gibt es auch noch eine normative Perspektive. Die beobachtbare Erosion nationalstaatlicher Souveränität ist nämlich nicht nur die Manifestation wachsender globaler Verflechtungen, sondern auch Folge des moralischen Drucks, unter den das Souveränitätsprinzip zunehmend kommt. Wir erinnern uns an Ruanda und Srebrenica, wo Souveränität als Recht auf Nichteinmischung von außen zum Deckmäntelchen für Völkermord verkommen war und zur billigen Ausrede für die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft. Aus dieser schmerzhaften Erfahrung hat sich ein Verständnis von Souveränität als Verantwortung entwickelt (die Vordenker bei den Vereinten Nationen nannten das „responsible sovereignty“) das auf zwei Grundgedanken beruht: Danach können erstens nur jene Staaten sich auf ihre vollen Souveränitätsrechte berufen, die auch die grundlegenden Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger achten und schützen, und zweitens geht diese Schutzverantwortung gegenüber der Bevölkerung auf die internationale Staatengemeinschaft über, wenn ein Staat ihr nicht mehr nachkommen kann oder will – die sogenannte responsibility to protect, die als ultima ratio auch die Pflicht zu militärischem Eingreifen begründen kann. 2005 wurde dieses Konzept von den anwesenden Staats- und Regierungschefs in der Generalversammlung der Vereinten Nationen anerkannt. Das markiert eine durchaus einschneidende Veränderung im Souveränitätsverständnis von Staaten – auch wenn sich gerade an diesem Punkt die meisten Kontroversen entzünden und längst nicht alle Fragen beantwortet sind, wie etwa die Gefahr von Willkür oder machtpolitischen Interessen, die mit militärischen Eingriffen verbunden sind. Ich kann mich mit dem Thema der responsibility to protect heute nicht vertieft auseinandersetzen, aber so viel steht für mich fest: Diese Diskussion ist nötig, und sie kann wichtige Impulse geben für die Frage nach staatlicher Souveränität in diesem Millennium.

„Souveränität als Verantwortung“, muss man das nicht konsequent weiterdenken und noch umfassender betrachten? Verantwortung haben die Staaten in der vernetzten Welt von heute nicht nur für ihre eigenen Bürger, sondern auch gegenüber der Weltgemeinschaft. Sie wären demnach verpflichtet, ihre Souveränität so auszuüben, dass sie die Souveränität bzw. Freiheit anderer Staaten nicht negativ beeinflussen. Das impliziert dann auch, dass Souveränität zum Schutz und zur Bereitstellung globaler öffentlicher Güter wie Umweltschutz oder Sicherheit beitragen muss, anstatt diese zu unterminieren. „In der interdependenten Weltgesellschaft“, schreibt Jürgen Habermas, „besteht immer seltener eine Kongruenz zwischen Beteiligten und Betroffenen“. Anspruch auf volle Souveränität kann es vielleicht nur dort geben, wo diese Kongruenz voll hergestellt ist. Dort, wo sie nicht existiert – also etwa in der Klimapolitik – kann auch die alte Logik von Souveränität als Blankoscheck für den Nationalstaat nicht mehr gelten.

Ist der Abschied von der klassischen nationalstaatlichen Souveränität aber nicht gleichzeitig die Kapitulation staatlichen Handelns? In die Knie gezwungen von der Dynamik der Globalisierung begeht der Staat nun quasi Selbstmord aus Angst vor dem Tod? Nein. Es geht nicht um „weniger Staat“. Das Paradox der „Souveränität im 21. Jahrhundert“ könnte sein, dass der Staat gerade dadurch seine Handlungsfähigkeit bewahren kann, indem er bestimmte souveräne Aufgaben abgibt oder sie mit anderen Staaten teilt. Die Klimapolitik ist das beste Beispiel dafür. Jede Diskussion um ein neues Souveränitätsverständnis muss allerdings auch der kulturellen Andersartigkeit von Völkern Raum und Respekt geben.

Die vielleicht kniffligste Frage, die ein neues Souveränitätsverständnis aufwirft, ist die nach der Legitimität von politischen Entscheidungen im internationalen Kontext und ich gebe gerne zu, dass ich hier selbst auch um eine gute Antwort ringe. Für die Lösung unserer globalen Probleme wird jedenfalls in diesem Jahrhundert keine Weltregierung zur Verfügung stehen, kein globaler Leviathan, und ich wehre mich auch gegen die autoritären Phantasien so mancher Wachstumskritiker, die meinen, eine globale Transformation unserer Gesellschaften hin zu Nachhaltigkeit könne nur durch Zwang funktionieren. Nein, wir müssen das Völkerrecht ernst nehmen, stärken und letztlich weiterentwickeln, denn die globale Partnerschaft wird langfristig umso tragfähiger, je mehr sie auf einer Herrschaft des Rechts zwischen den Völkern beruht. Darüber hinaus müssen wir klüger und innovativer werden bei der Entwicklung von Lösungen, wo internationale Kooperation und nationale Politik ineinandergreifen und sich gegenseitig die Bälle zuspielen – die Post-2015 Agenda als Zielrahmen der Staatengemeinschaft, in den sich substantielle freiwillige nationale Beiträge einordnen, das könnte ein Ansatz sein. Und nicht zuletzt können wir Legitimität globaler Politik auch dadurch erhöhen, dass wir die Qualität des globalen Diskurses verbessern, dass wir mehr Menschen einbeziehen und die verschiedenen Beratungs- und Entscheidungsprozesse transparenter machen.

Zudem ist Legitimität eine Frage nicht nur des Prozesses – also wie eine Entscheidung zustande kommt – sondern auch des Inhalts. Was genau dient eigentlich dem Wohl und Nutzen des Volkes, das etwa deutsche Minister, Kanzler und auch Bundespräsidenten zu mehren versprechen? Hier sind wir in meinem Nachdenken über das Leitmotiv der globalen Partnerschaft bei einem weiteren Schlüsselbegriff angekommen: dem nationalen Interesse.

Eines der größten Hindernisse für eine Welt, in der kooperative Lösungen die Zukunft gestalten, ist meiner Ansicht nach ein falsches, oder zumindest veraltetes Verständnis des nationalen Interesses, welches von selbsternannten Realisten als treibende produktive Kraft hinter egoistischem staatlichen Handeln gesehen wird. Demnach ist die Welt ein Meer, in dem jeder Staat in seinem eigenen Boot rudert, und die Aufgabe der internationalen Politik ist es, dafür zu sorgen, dass jeder freie Fahrt hat und die Boote nicht aneinander stoßen.

Ich glaube aber: In Wahrheit sitzen wir längst in einem einzigen Boot. Und doch sind in diesem einen Boot so viele mit der Pflege und Verteidigung ihrer einzelnen Ruder beschäftigt, dass sich keiner mehr um das Leck kümmern will oder kann, welches für alle sichtbar in der Mitte des Bootes klafft…

Doch genug der Metapher. Folgende simple Erkenntnis unterscheidet das 21. Jahrhundert so fundamental von allen vorangegangenen: In der vernetzten Welt gibt es immer seltener ein nationales Interesse, das sich langfristig gegen die anderen auszuspielen lohnt. Natürlich gibt es ganz reale Interessenskonflikte und es wird sie immer geben. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn wir zweierlei erkannten: Erstens verlaufen die Interessenskonflikte immer weniger entlang national definierter Konfliktlinien. Gewinner und Verlierer bestimmter Entscheidungen sind nicht ganze Staaten und deren komplette Bevölkerungen, sondern bestimmte Gruppen oder Wirtschaftszweige innerhalb dieser Staaten. Wer eine global kooperative Lösung im Namen nationaler Interessen blockiert, handelt oft auch im Widerspruch zu vielen Interessen innerhalb seiner Nation. Und zweitens, und das erscheint mir für konstruktives politisches Handeln am wichtigsten: Die meisten Konflikte des 21. Jahrhunderts bestehen nicht zwischen „uns“ und „denen“, sondern zwischen uns und unseren Enkeln, zwischen kurzfristigen und langfristigen Interessen. Auf lange Sicht sind unsere Schicksale so sehr miteinander verknüpft, dass es eine immer stärkere Konvergenz der Interessen unterschiedlicher Länder gibt, je weiter man in die Zukunft zu blicken vermag. Kein Land, so reich und mächtig es auch sein mag, kann auf Dauer seinen Wohlstand erhalten, ohne die Perspektiven und das Wohlergehen der anderen Länder zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Der britische Ökonom Sir Nicholas Stern hat ausgerechnet, dass uns ein entschlossenes Handeln gegen den Klimawandel zwar um 1% des Bruttoinlandsproduktes eines jeden Landes kosten könnte. Aber die langfristigen Kosten des Nichthandelns sind für uns alle viel höher, gigantisch höher. Darauf zu warten, bis wir aus Schaden klug werden, das kann sich die Menschheit in diesem Falle einfach nicht leisten.

Wenn ich von einem globalen Gemeinwohl, vom globalen Interesse spreche, dann meine ich keine globale Konsenssoße, keine ominöse erdumspannende volonté generale, der wir uns nur alle unterordnen müssen, und dann wird alles gut. Zielkonflikte, gerade auch Dilemmata, wird es immer geben; sie sind eine Grundkonstante von Politik. Ein Konzept der globalen Partnerschaft will diese Konflikte nicht wegreden, aber es muss darum gehen, der globalen und langfristigen Perspektive mehr Gehör und Gewicht zu verschaffen. Anders gesagt: nicht die Existenz von Zielkonflikten ist das Problem, sondern der Umgang mit ihnen. Und da wäre es schon ein riesiger Schritt nach vorne, wenn bei Entscheidungen der trade-off zwischen dem Heute und dem Morgen deutlicher benannt würde, wenn wir sowohl unsere eigenen Interessen offenlegten, als auch die Interessen der anderen als legitime Interessen wahrnähmen, und wenn wir offener mit der Frage umgingen, wer die Gewinner und Verlierer bestimmter Entscheidungen sind – und zwar auf kurze wie auf lange Sicht. In diesem Raum der Offenheit, der Ehrlichkeit und des gegenseitigen Verständnisses kann dann Kooperation, kann Partnerschaft entstehen. Darüber hinaus bin ich überzeugt: Wenn wir offener mit Zielkonflikten umgehen, dann kann der politische Einfallsreichtum und technische Erfindergeist der Menschheit viele vermeintliche Widersprüche versöhnen und Lösungen finden, die sowohl kurz- als auch langfristig Sinn machen.

Damit komme ich zum vierten meiner Schlüsselbegriffe, der globalen Wertebasis. Nun könnte man doch eigentlich nach der Diskussion der Interessen einen Punkt machen und sagen: eine Politik der globalen Partnerschaft liegt in unserem Eigeninteresse, sie ist einfach die vernünftigere Variante. Aber ich glaube, das wäre zu kurz gesprungen. Dauerhaft überlebensfähig wird das globale Gemeinwesen erst, wenn es auch eine gemeinsame Wertebasis findet. Die gigantischen politischen Herausforderungen lassen sich meiner Ansicht nach nur bewältigen, wenn wir auch über eine moralische Kraft und begriffliche Klarheit zu Grund und Ziel unseres universalen Weges verfügen. Das verlangt erstens einen fortwährenden Dialog der Kulturen über die gemeinsamen Grundlagen der Humanität, und zweitens eine größere selbstkritische Reflexion über die Werte, nach denen man vorgibt zu handeln.

Zu ersterem hat Hans Küng mit seiner Idee des Weltethos schon unglaublich wertvolle Arbeit geleistet, sodass ich mich heute dazu kurz fassen will. Ich zitiere aus der Weltethos-Erklärung des Parlaments der Weltreligionen von 1993, die ihre Anfänge hier in Tübingen nahm: „Wir bekräftigen, dass sich in den Lehren der Religionen ein gemeinsamer Bestand von Kernwerten findet und dass diese die Grundlage für ein Weltethos bilden. Wir bekräftigen, dass diese Wahrheit bereits bekannt ist, aber noch mit Herz und Tat gelebt werden muss.“ Die beiden Prinzipien, auf denen das Weltethos basiert, sind Humanität – jeder Mensch hat das Recht, human behandelt zu werden –, und Reziprozität – jeder Mensch soll die anderen so behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte, die berühmte goldene Regel.

Ich bin mir sicher, dass uns schon das Bemühen um das Verständnis für die jeweilige Sicht des anderen weiterbringen kann. Wir brauchen aber mehr. Eine kollektive Empathie auf der Grundlage eines gemeinsamen Wertekompasses zu entwickeln, das ist eine drängende Aufgabe für unsere vernetzte Erdfamilie, damit wir mehr werden als bloß eine Weltgesellschaft von Zwangssolidarisierten, sondern sich ein echtes globales Bewusstsein entwickeln kann. Meine Hoffnung ist, dass gerade die neuen Medien uns diesem Bewusstsein näher bringen können als je zuvor.

Eine zweite Voraussetzung dafür wäre allerdings, unser eigenes Handeln selbstkritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, und da wird es keinen überraschen, dass ich vor allem auch den sogenannten Westen in der Bringschuld sehe, der den Mund ja ziemlich voll nimmt mit Menschenrechten und universalistischen Werten. „Net schwätze, sondern mache“, würde der Schwabe sagen, oder auch, wie es der Wahl-Bayer Erich Kästner sagte: „Es gibt nichts Gutes außer man tut es“. Damit meine ich nicht nur solch offensichtlichen Schandmale wie Guantanamo oder Lampedusa, die der westlichen Rhetorik so eklatant widersprechen, sondern viel grundsätzlicher auch unseren nicht nachhaltigen Lebensstil. Wenn wir den Kantschen Imperativ in unsere Zeit übersetzen, dann müsste er lauten: „Lebe so, dass dein Lebensstil auch von allen anderen Menschen auf dem Planeten übernommen werden könnte“. Die Wirklichkeit aber ist zum Beispiel, dass die Produktion einer Plastikflasche, die einen Liter Wasser beinhaltet, selbst schon vier Liter Wasser verbraucht, und die Produktion einer Tafel Schokolade braucht 2.700 Liter. Nicht nur, dass das angesichts der eine Milliarde Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, jedes Gerechtigkeitsempfinden verletzen muss. Vor allem wäre es unmöglich, diese Art des Ressourcenverbrauchs auf die ganze Menschheit zu übertragen, sie erinnern sich an die vier Planeten… Der deutsch-amerikanische Philosoph Vittorio Hösle meint dazu: „Da die Universalisierbarkeit das Prinzip der modernen Ethik ist, besagt die Einsicht, dass unser Lebensstil nicht universalisierbar ist, nach den eigenen Maßstäben der Moderne nichts anderes, als dass er unmoralisch ist.“ Dies ist ausdrücklich keine Kritik an universellen Werten, sondern gerade daran, dass wir in so offensichtlichem Widerspruch zu ihnen leben. Das lässt uns im globalen Dialog nicht nur alle Glaubwürdigkeit verlieren, sondern setzt auch ganz real unsere Zukunft aufs Spiel. Denn die konkrete Umsetzung eines Weltethos, der sich auf Humanität und Reziprozität beruft, und damit die Verwirklichung universalistischer Ideale, ist aufgrund der ökonomischen und ökologischen Verflechtungen zu einer Frage des Überlebens geworden.

V.

Meine Damen und Herren,

soviel also zu meinen Überlegungen, wie wir unsere Begriffe von Souveränität, Legitimität, Interessen und Werte weiterdenken müssen, um globale Partnerschaft zu ermöglichen. Das von mir Vorgetragene ist weder als Blaupause für die Weltrettung noch als Patentrezept für alle globalen Probleme gemeint. „There is no silver bullet“ sagen die Angelsachsen an solchen Stellen immer gerne. Aber ich möchte mir es mit dieser pauschalen Ausrede auch nicht zu leicht machen und zumindest drei kurze Gedanken dazu äußern, wie es gelingen könnte, diesem neuen Leitmotiv der globalen Partnerschaft zum Durchbruch zu verhelfen.

Erster Gedanke: Die vielleicht wichtigste Ressource in der internationalen Politik ist nicht das Öl, nicht das Wasser, nicht das Geld, sondern: Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage jeder Partnerschaft, das ist in der Familie oder in der Wirtschaft nicht anders als im Zusammenspiel der Nationen. Mir scheint, dass die Bedeutung dieser Ressource von den Entscheidungsträgern noch immer massiv unterschätzt wird, und dass zu wenig in Vertrauen investiert wird. Ohne ein Mehr an Vertrauen wird die globale Partnerschaft nicht gelingen.

Es gibt zwei Arten von Vertrauen in der internationalen Politik: Die erste Variante, Spieltheoretiker würden sie wohl „strategisches Vertrauen“ nennen, entsteht dann, wenn Land A spezifische Informationen über Land B hat, und diese Informationen darauf hindeuten, dass Land B ein Eigeninteresse an einer kooperativen Lösung hat, weshalb Land A Land B vertraut. Das Problem dieser Art von Vertrauen ist, dass es sich auf bestimmte Situationen beschränkt – eben jene, wo Informationen über die Interessenslage des Gegenübers vorliegen. Dabei wird aber keine Aussage über die inhärente Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers getroffen, sondern eben nur eine Vorhersage über dessen zu erwartendes Verhalten angesichts der Umstände der Situation.

Die zweite Variante von Vertrauen, nennen wir sie mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Brian Rathbun „generalisiertes Vertrauen“, trifft optimistischere Annahmen über das Gegenüber. Hier geht Land A davon aus, dass Land B ein grundsätzliches Interesse an einem guten Miteinander hat, dass es sich an Abmachungen halten möchte und den anderen nicht übers Ohr hauen will. Mein Vertrauen muss nicht sofort belohnt werden, damit ich weiter vertrauen kann, sondern es nimmt eine positive Zukunft vorweg; es ist, wie Niklas Luhmann sagt, ein „Vorschuss auf Erfolg“. Und damit ist auch generalisiertes Vertrauen kein naiver Altruismus, sondern die langfristige Erwartung von Gegenseitigkeit – aber eben die langfristige, nicht die situationsbezogene. Wenn Sie sich zurückerinnern an die Probleme in der Durchsetzung von langfristigen Interessen, die ich vorhin geschildert habe, dann ahnen Sie, wie wichtig diese zeitliche Großzügigkeit des generalisierten Vertrauens für die Lösung unserer globalen Probleme ist. Je öfter das Vertrauen belohnt wird, also der Vorschuss quasi zurückgezahlt wird, desto mehr wird dann neue und vertiefte Kooperation möglich. Ich glaube, wir müssen viel mehr politisches Kapital aufwenden, um einen „virtuous circle“, eine Positivspirale des Vertrauens anzustoßen und beständig zu erweitern, auf dass sie immer größere Kreise ziehe, also größere Vorschüsse für längere Fristen ermöglicht, und gleichzeitig mehr Akteure in ihren Sog zieht.

Was aber schafft Vertrauen? Glaubwürdigkeit und Fairness. Eine globale Kultur der Fairness, die für die Großen gleichermaßen gilt wie für die Kleinen, und eine Berücksichtigung der goldenen Regel auch unter Staaten, das wäre eine wertvolle Grundlage für mehr Vertrauen. Nichts tötet mehr Vertrauen als die allgegenwärtige Doppelmoral in der internationalen Politik. Zur Glaubwürdigkeit, die Vertrauen schafft, gehören demnach auch das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeiten und der offene Dialog über die eigenen Interessen; vielleicht kann man das politische Wahrhaftigkeit nennen. Das ist nicht immer ganz einfach und tut manchmal weh, aber das Vertrauen, das einem dann geschenkt wird, ist umso produktiver. Geben wir die Hoffnung nicht auf, und auch das Arbeiten daran, dass mehr Wahrhaftigkeit in der Politik möglich ist.

Mein zweiter Gedanke schließt sich daran an: Vertrauen ist gut, aber Institutionen sind es auch. Institutionen geben den Rahmen, in dem Vertrauen wachsen kann, oder zumindest gegenseitige Kontrolle stattfindet, dort wo – natürlich gibt es das auch – Misstrauen herrscht. Nun gäbe es viel über das internationale Institutionengefüge zu sagen, aber ich möchte hier nur eine Institution nennen: die Vereinten Nationen. Bei all ihren Unzulänglichkeiten ist es der einzige Ort der Welt, wo wirklich die gesamte Staatengemeinschaft zusammenkommt, wo Wolf und Lamm beisammen weiden, wo selbst Nordkorea einen Sitz hat. Die Vereinten Nationen müssen das Herz und vielleicht auch das Hirn der globalen Partnerschaft bilden. Dazu muss die VN freilich selbst glaubwürdiger und effektiver werden. Viele der Reformvorschläge liegen seit langem auf dem Tisch, einige waren schon in der Millenniumserklärung von 2000 genannt. Dazu gehören zum Beispiel eine Reform des Sicherheitsrates, eine Aufwertung des Umweltprogramms, und eine gründliche Sortierung der über 50 Sonder- und Unterorganisationen der VN, deren Mandate sich bisher überlagern und verknäulen wie Spaghetti in einer Schüssel.

Eine glaubwürdige und selbstbewusste VN könnte globalen Regeln zu einer größeren Verbindlichkeit verhelfen, doch ihr Charme läge auch darin, dass sie Tür- und vor allem Augenöffner sein könnte für die gemeinsamen Interessen der Menschheit. Die Vereinten Nationen als konstitutive, kreative Kraft für einen neuen Geist der Partnerschaft, das ist eine Vision, in die es sich zu investieren lohnte – trotz aller bekannten Ineffizienzen und Probleme.

Und da könnte sich der Prozess um die Post-2015 Agenda, um neue globale Nachhaltigkeitsziele, als segensreich erweisen. Wenn es im Rahmen dieses Prozesses gelingt, neues Vertrauen ineinander zu wecken, dem gemeinsamen Streben neue Glaubwürdigkeit zu geben und ein neues Bewusstsein für die globale Perspektive zu nähren, dann wäre schon viel gewonnen, auch jenseits der Erreichung spezifischer Ziele.

Nun, meine Damen und Herren, ich gebe gerne zu, dass das alles ziemlich weit weg ist –Vertrauen in der internationalen Politik, die Vereinten Nationen als Katalysator einer globalen Partnerschaft… Deshalb möchte ich meinen dritten Gedanken darüber, wie das Leitmotiv der globalen Partnerschaft Wirklichkeit werden könnte, Ihnen widmen. Ohne Sie wird das ganze nämlich nicht funktionieren. Der heilige Augustinus sagte zur Macht des Einzelnen: „Die Menschen sagen oft so leichthin: schlechte Zeiten, mühselige Zeiten. Lasst uns menschenwürdig leben, dann ist auch unsere Zeit gut. Wie wir sind, so ist die Zeit.“ Um es klar zu sagen: die globale Partnerschaft ist zunächst natürlich ein Anspruch an die Staaten und Regierungen, die ihre Politik endlich den neuen Realitäten der interdependenten Welt anpassen müssen. Von dieser Verantwortung kann sie keiner befreien. Aber dennoch muss die globale Partnerschaft etwas sein, was auch und gerade von unten wächst. Politische Veränderungen und das ethische Verhalten des Einzelnen tragen vor allem dann Früchte, wenn sie ineinandergreifen und sich ergänzen. Die globale Transformation wird ja ganz konkrete Auswirkungen auf jede und jeden von uns haben und muss daher auch von uns allen mitgetragen werden. Um größere Rücksicht auf das globale Gemeinwohl und die langfristigen Auswirkungen zu nehmen, bedarf es politischer Entscheidungen, die nicht immer ganz einfach sind, die Verlierer und Gewinner produzieren – und die manchmal auch der Wählerin und dem Wähler viel abverlangen. Wählen Sie daher nicht nur in Ihrem eigenen Interesse, sondern auch in dem Ihrer Enkel.

Und noch konkreter: Die globale Transformation hin zu dauerhaftem Frieden und Wohlstand für alle innerhalb der Grenzen unseres Planeten verlangt eine Veränderung des Lebensstils in den Industrieländern. Da können wir heute schon alle damit anfangen und müssen nicht auf die große Politik warten. Wir können heute schon zeigen dass es nicht um Zwang oder stupiden Verzicht geht, sondern darum, anders zu konsumieren. Das gelingt zum Beispiel, wenn wir uns die technischen Fortschritte in der Energie- und Ressourceneffizienz auch im Alltag zunutze machen, oder wenn wir Wohlstand und Lebensqualität nicht nur über ein materielles „immer mehr“ definieren. Überprüfen wir unverkrampft die ein oder andere Gewohnheit im Lichte ihrer globalen Auswirkungen. Wussten Sie, dass man 2% der CO2-Emissionen einsparen könnte, wenn alle nur noch LED-Glühbirnen benutzen würden? Oder dass der globale Fleischkonsum für mehr Treibhausgasemissionen verantwortlich ist als der weltweite Verkehr?

Zuletzt: Machen Sie mit beim globalen Dialog über Interessen und Werte, arbeiten Sie mit am Vertrauen unter den Völkern, indem Sie Ihre Empathie für das vermeintlich Fremde schulen, indem Sie das Interesse der anderen verstehen lernen, indem Sie zuhören und Fragen stellen. Und stellen Sie in Frage. Laden Sie Intellektuelle aus Afrika oder Künstler aus Asien oder Wissenschaftler aus Lateinamerika ein, hierher nach Tübingen, und bitten Sie sie, das herauszufordern, was Sie bisher gelernt haben. Vielleicht verstehen wir durch einen solchen Austausch nicht nur die anderen besser, sondern auch uns selbst.

VI.

Meine Damen und Herren,

Charles Dickens‘ berühmter Roman geht übrigens so weiter: „It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness”. Ob die Vision einer globalen Partnerschaft, wie sie das High Level Panel formuliert hat und ich sie heute versucht habe zu reflektieren, nun weise oder töricht ist, das überlasse ich Ihnen. Aber ich stünde heute nicht hier, wenn ich nicht fest daran glaubte, dass es möglich ist, dass die Weisheit über die Torheit siegt, die langfristige Vernunft über die Verführung der kurzfristigen Befriedigung, die Phantasie über die Ideenlosigkeit, der Mut zur Wahrhaftigkeit über die Bequemlichkeit der Heuchelei, das Gemeinwohl über den Egoismus, die kluge Frage über die voreilige Antwort.

Mir ist klar, das ist kein leichtes Ringen. Ich möchte dazu meine Kollegin aus dem Panel zitieren, Tawakkol Karman, mutige Bürgerrechtlerin aus dem Jemen und Friedensnobelpreisträgerin, die in ihrer Rede zur Übergabe des Berichts an Generalsekretär Ban Ki-moon sagte: „Die Regierungen der Welt werden sich nun entscheiden müssen, ob sie dieses neue Paradigma der globalen Partnerschaft umsetzen wollen. Die Versuchung, den bequemeren, konventionellen Weg zu gehen, wird groß sein.“

Wir können alle etwas dafür tun, dass es dieser Versuchung nicht leicht gemacht wird.