Wo Wissen und Können sich begegnen
Akademische Abschiedsvorlesung Prof. Dr. med. Dr. h.c. Arnulf Stenzl
Tübingen, 27. Oktober 2023
Wo mehr als ein Grußwort gesprochen wird, ist die Freude über wenige, kurze Worte meist groß. Doch während eine gehaltvolle Kürze nicht zu beanstanden ist, sei vor Verkürzungen gewarnt. So zum Beispiel, wenn im Terminkalender eines 80-jährigen zu lesen ist „Universitätsklinikum Tübingen, Abschiedsvorlesung“. Ohne Wissen um den Kontext kann dieser Eintrag zu Missverständnis und unbegründeter Sorge führen. Wer liest hier wem und was zum Abschied?
Ich freue mich, dass die versammelte Ärzteschaft heute nicht mir die „last lecture“ erteilt, sondern Sie, lieber Herr Professor Stenzl, sich an die geneigte Universitätsöffentlichkeit wenden, um Ihre akademische Lehrtätigkeit in würdiger Weise zu beschließen.
Vor der Lesung muss sich also niemand fürchten, vor Ihrem Abschied möglicherweise schon. Doch wie gewiss viele andere hier im Saal habe ich das Gefühl, dass die Abschiedsvorlesung für Sie keinen endgültigen Abschied von der Medizin bedeutet. Sicher ist in jedem Fall, dass zahlreiche Projekte, die Sie als Ärztlicher Direktor der Klinik für Urologie in den vergangenen 21 Jahren hier in Tübingen angestoßen haben, noch lange nicht am Ende sind. Ich weiß, dass Sie insbesondere das Ziel weiter umtreibt, wie die Zeit von der Diagnose bis zur Behandlung verkürzt werden kann.
Ein Ende kann es für die medizinische Forschung nie geben. Als Gewährsmann für diese These darf ich keinen geringeren als Rudolf Virchow (1821-1902) zitieren, der 1862 schrieb:
„[…] zu keiner Zeit bietet unsere Forschung einen wirklichen Abschluss dar. Wir sind, wie auf einer großen Reise, und keiner von uns hat die Aussicht, das Ziel zu erreichen. Immer neu eröffnet sich vor uns das Land des Nichtwissens, und was wir wissen, lässt uns unbefriedigt.“
Lieber Herr Professor Stenzl, fast möchte ich auch Ihnen wünschen, dass Ihr Wissen Sie „unbefriedigt“ lässt, damit Sie weiterhin neugierig auf der von Virchow angesprochenen große Reise unterwegs bleiben. Auch wenn deren Ziel unerreichbar erscheint, jeder Wissensgewinn neue Fragen aufwirft und die Dimensionen des Nichtwissens bisweilen noch größer erscheinen lässt, so muss dies aber nicht zur Enttäuschung führen. Denn schon Virchow wusste Mitte des 19. Jahrhunderts zu sagen, was nicht minder für unsere Gegenwart gilt: „Unsere Zeit […] bietet gerade das schöne Schauspiel dar, wie täglich mehr und mehr Wissen und Können in Eins zusammengehen, wie forschende Gelehrte zugleich thätige Bürger werden, wie die früher abgeschlossene Wissenschaft in das ganze Volk eindringt und in ihm lebendig fortarbeitet.“
Ich bin kein Mediziner und nicht qualifiziert, die Leistungen einer medizinischen Fakultät bemessen oder bewerten zu können. Als Patient konnte ich aber durchaus den Eindruck gewinnen, dass „Wissen und Können“ am Universitätsklinikum Tübingen in fabelhafter Weise zusammengehen. Ihr Wirken, lieber Herr Professor Stenzl, und das Ihrer Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause steht geradezu exemplarisch für eine medizinische Wissenschaft, die in und durch die Praxis Weite und Tiefe, Erkenntnis und Wert gewinnt.
Als Urologe sind Sie, lieber Herr Professor Stenzl, Vertreter einer von vielen Fachdisziplinen im weiten Feld der Medizin. Mich persönlich hat beeindruckt, dass Sie sich neben Ihren vielfältigen Verpflichtungen als Arzt, als Hochschullehrer, als Forscher immer die Zeit genommen haben für Kommunikation und Dialog: mit Ihren Patientinnen und Patienten ebenso wie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen, auch außerhalb des eigenen Faches.
Ein guter Arzt, das konnte ich in diesem Lehrkrankenhaus lernen, ist weit mehr als ein anatomisch versierter Handwerker. Für einen guten Arzt sind Kommunikationsfähigkeit und Teamgeist unverzichtbar. Beides braucht es gerade in solch einem großen Haus wie hier in Tübingen, damit das in den vielen schlauen und kundigen Köpfen vorhandene Wissen auch vernetzt werden kann und seinen Weg zur Anwendung am Patienten findet.
Das professionelle Zusammenwirken von Fachärzten, Pflegekräften, Therapeuten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Organisation und Verwaltung geht idealerweise geräuschlos vonstatten, aber es bleibt dem Patienten dabei nicht verborgen.
Ich habe mich hier im Uni-Klinikum Tübingen stets bestens aufgehoben gefühlt. Ihr profundes Wissen und Ihr herausragendes Können, lieber Herr Professor Stenzl, haben dazu in besonderer Weise beigetragen. Dafür möchte ich Ihnen von Herzen danken!
Ich danke Ihnen auch, dass ich Herrn Professor Igor Tsaur, der Ihren Stab übernommen hat, heute schon kennenlernen durfte.
Dass die Medizin an der Universität Tübingen Spitzenklasse ist, ist aber nicht allein mein persönlicher Eindruck: Im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern wird aktuell das Exzellenzcluster „Image-guided and Functionally Instructed Tumor Therapies“ (iFIT) an der Uni Tübingen gefördert. Auch hier geht es in besonderer Weise um Kommunikation, Teamarbeit und Vernetzung: International renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Tumortherapie, Immuntherapie und molekularer Bildgebung arbeiten gemeinsam an der Entwicklung neuer, individualisierter Krebstherapien. Sie betreiben Wissenschaft von ganz unmittelbarem Nutzen für die Patienten, Wissenschaft, die Hoffnung macht!
Doch Exzellenz ist teuer und in der ganzen Breite kaum zu leisten. Ich kann die vielfältigen Herausforderungen, die an Studierende, Ärzte, Pflegekräfte und Mitarbeitende an einem so großen Universitätsklinikum gestellt werden, erahnen. Sie sind auch mit dem Ende der Corona-Pandemie nicht weniger geworden.
Zeit und Ressourcen sind begrenzt, Wege oft weit, ökonomische Zwänge allgegenwärtig, Stress und Arbeitsbelastung hoch. Kann man in solch einem Betrieb noch „forschender Gelehrter“ sein und gleichzeitig „tätiger Bürger“, so wie zu Virchows Zeiten? Wie lässt sich Schritt halten mit medizinischem und technologischem Fortschritt? Wie findet man neben der praktischen Anwendung medizinischen Wissens am Patienten und den Lehrverpflichtungen auch ausreichend Zeit für die Forschung?
Zur Freiheit der Wissenschaft gehört, so meine ich, an einer medizinischen Fakultät auch die Freiheit, Forschung, Lehre und Praxis miteinander verbinden zu können. Klinische Forschung und evidenzbasierte Medizin verlangen mehr als den reinen Gelehrten. Sie verlangen Praxis und Anschauung, Möglichkeiten des unmittelbaren Umgangs mit Patientinnen und Patienten und des Dialogs mit allen, die für das Patientenwohl sorgen. Dabei dürfen aber die klinischen Aufgaben nicht zur Überlastung führen. Gerade an den Universitätskliniken sind deshalb geschützte Forschungszeiten unerlässlich. Doch wie lässt sich dies bewerkstelligen?
Dieser Frage widmet sich auch die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung, die 2006 von meiner Frau und mir ins Leben gerufen wurde, in besonderer Weise. Im vergangenen Jahr haben wir im Rahmen des Forschungsnetzwerkes „Alliance4Rare“ ein strukturiertes „Clinician Scientist Program“ (CS4Rare) eingerichtet, das Forscherinnen und Forschern Förderung bietet, indem es vor allem eines schenkt: Zeit und Freiraum, um die eigenen Projekte zu Seltenen Erkrankungen vorantreiben zu können. Wir würden uns freuen, wenn auch das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) Tübingen Mitglied in dieser „Alliance4Rare“ werden könnte.
Lieber Herr Professor Stenzl, Zeit und Freiraum müssen wir Ihnen heute nicht schenken. Sie gewinnen sie mit dem Eintritt in den Ruhestand. Und ich bin mir sicher, dass Sie beides zu schätzen und zu nutzen wissen. Ein großer Sportfreund sind Sie. Sie joggen, tauchen, fahren Ski und Stocherkahn und besonders gern sind Sie mit dem Rad unterwegs – von Tübingen bis Innsbruck etwa oder sogar hoch hinauf auf den Mont Ventoux.
Wenn Sie aber neben den sportlichen Hobbys dann und wann das Gefühl haben sollten, dass mit der gewonnenen Zeit und den neuen Freiräumen noch etwas mehr anzufangen sein müsste, dann erinnern Sie sich bitte an Rudolf Virchow und setzen Sie Ihren Weg auf der großen Reise der Wissenschaft fort. Auch ohne die Aussicht, je das Ziel zu erreichen, bleibt es doch lohnend, Wissen und Können zusammen zu bringen, zu forschen, zu lehren, zu praktizieren und im Gespräch zu bleiben – mit Kollegen und Patienten.
Lieber Herr Professor Stenzl, ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute und Gottes Segen. Bleiben Sie unterwegs!