Was kommt dem Westen zu?
Rede auf dem Kongress ‚Die Zukunft des Westens‘, Konrad-Adenauer-Stiftung
Bonn, 14. Januar 2015
I.
Es ist gut, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung einen Kongress über „Die Zukunft des Westens“ veranstaltet, und ich freue mich über ihren Wunsch, dass ich über dieses Thema hier sprechen möge.
„Zukunft“ und „Westen“ sind nämlich zwei Worte, über die nachzudenken sich lohnt. Wofür stehen sie eigentlich? Welche Bedeutungsfelder hatten sie, und haben sie die noch? Worte können ja ihre Bedeutung verlieren, wenn sie gedankenlos verwendet werden; und sie können einem sogar abhanden kommen, wenn man aufhört, über sie nachzudenken.
Im Wort Zukunft steckt das Verb „zukommen“. Dieses Wort ist mehrdeutig: Es kann bedeuten „sich nähern“ und „zuteil werden“, so wie eben die Zukunft auf uns zukommt und uns zuteil wird, selbst wenn wir nichts tun. Zukommen bedeutet laut Duden aber auch „jemandem gebühren / sich für jemanden gehören, / jemandem aufgrund seiner Eigenschaften, Fähigkeiten angemessen sein“, und das verschiebt die Akzente darauf, was wir beanspruchen dürfen, was andere von uns erwarten dürfen und was zu tun unseren Fähigkeiten entspricht.
Diese Mehrdeutigkeit von Zukunft und Zukommen finde ich interessant. Ich glaube: Die Frage, was auf den Westen zukommt, was ihm zuteil werden wird, lässt sich am vernünftigsten behandeln, wenn wir sie auflösen in die Fragen: Was gebührt dem Westen? Was gehört sich für den Westen? Was ist dem Westen aufgrund seiner Eigenschaften und Fähigkeiten möglich und angemessen? Kurz: Was kommt dem Westen zu?
II.
Damit zum zweiten Hauptwort unseres Themas: Was ist überhaupt „der Westen“? Etwas schwer zu Greifendes, nicht zuletzt geographisch nur schwer zu Begrenzendes, wie es scheint.
Wolfgang Büscher berichtet von seiner Wanderung im Jahr 2001 „Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß“, wie sehr in Europa der Westen leuchtet, denn zu dem wollen alle gehören, und wo Büscher auch fragt: Der Osten beginnt immer erst nebenan, und so wird Büscher weiter und weiter gereicht bis kurz vor Moskau – und Moskau fühlt sich dann wieder als Westen. Die Erfahrung, die Büscher gemacht hat, ist „merk-würdig“, auch und gerade in diesen Tagen, wo die Entfremdung zwischen Russland und dem Westen wächst.
Was ist „der Westen“? Ich definiere für meine heutigen Zwecke:
Ideell meine ich mit Westen das Ideengut der drei Hügel, das heißt den Geist von Golgatha, Akropolis und Kapitol, das jüdisch-christliche Erbe, das griechische Nachdenken über die Stellung des Menschen in der Welt, die römische Rechtlichkeit. Ideell bedeutet „Westen“ die aus diesen religiösen und philosophischen Fundierungen erwachsene Überzeugung von der Würde und Freiheit des Individuums, eine Überzeugung, die durch Praxis verwirklicht worden ist (freilich nicht immer vollkommen!) – von der Magna Charta und den Stadtrepubliken Italiens und Deutschlands, wo bekanntlich Stadtluft frei machte, bis zur Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien und der Französischen Revolution. Geschichtlich bedeutet darum für mich „Westen“ eine Ordnung, die entstanden ist aus Widerspruchsgeist und aus dem begründeten Zweifel gegen alle Monopole – auch gegen ein Wahrheitsmonopol der Mehrheit -, entstanden aus dem Ringen um Glaubensgewissheit und wissenschaftliche Erkenntnis, aus dem Willen zur persönlichen und gesellschaftlichen Selbstbestimmung, aus Unternehmungsfreude und aus der durch die Jahrhunderte gelebten Überzeugung, dass die Freiheit vor Gott und den Menschen auch die Verantwortung vor Gott und den Menschen bedeutet. Geschichtlich stand „Westen“ aber leider auch für den selbstgemachten Anspruch auf Weltherrschaft, auf vormundschaftliche „Zivilisierung“ aller anderen, geschichtlich bedeutet „Westen“ auch eine ungeheure, andere Kulturen mit Waffengewalt überrennende, die Natur ausbeutende Kraftentfaltung, die bis zum heutigen Tage vergleichsweise viel mehr vom Reichtum der Erde für sich beansprucht und verbraucht als alle anderen. Und: Der Schlaf des westlichen Denkens hat Ungeheuer an gedanklicher Radikalisierung und politischem Totalitarismus geboren, die im vergangenen Jahrhundert weltweit unendliches Unrecht und Elend verursacht haben
III.
Das alles steckt für mich in der Kurzformel „der Westen“, ein Spektrum vom Höchsten bis zum Niedersten also, dessen der Mensch fähig ist. Wir blicken gern auf die helle Seite des Spektrums, aber glauben Sie mir: Die dunkle ist unvergessen, in allen anderen Himmelsrichtungen erinnern sie sich sehr genau daran.
Was gebührt also dem Westen? Zuallererst: Bescheidenheit. Er ist seinen Idealen zu oft zu wenig treu gewesen, und das nicht nur früher einmal, sondern bis in die jüngste Zeit hinein, als dass er im Rat der Nationen das große Wort führen und Anspruch auf die größten Portionen erheben dürfte. Gewiss, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die westlichen Mächte, allen voran die angelsächsischen Siegermächte, die der Welt mit den Vereinten Nationen und ihren Unterorganisationen eine neue Ordnung gegeben haben, gegründet auf Gewaltverzicht, auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und auf die Menschenrechte; eine Ordnung, zur Mitarbeit offen für alle friedliebenden Nationen. Aber westliche Staaten haben gegen diese Ordnung und ihre Rechtsgüter immer wieder offenkundig verstoßen – als aktuellste Beispiele genügen der Angriff auf den Irak im Jahr 2003, die Bilder von der Folter und Demütigung der Gefangenen in Abu Ghuraib und der Senatsbericht über die Foltermethoden der Geheimdienste (Es ist ja nur ein schwacher Trost, dass dieser tatsächlich zustande gekommen und veröffentlich worden ist). Und der Westen ist auch seinem Ideal von der sich in Verantwortung bindenden Freiheit untreu geworden: Denken sie nur an die durch westliche Verantwortungslosigkeit und Selbstgefälligkeit vor einigen Jahren ausgelöste Weltfinanzkrise, die in ihren Ursachen noch längst nicht gelöst ist.
Bescheidenheit also gebührt dem Westen. Seine historische Leistungsbilanz ist durchwachsen, seine Glaubwürdigkeit erschüttert, und selbst um seine materielle Stärke steht es derzeit nicht zum Besten – die Europäische Union steckt seit Jahren in einer Schulden- und Wachstumskrise, sie muss mit einer großen demographischen Herausforderung fertig werden, und von ihrer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist bisher leider wenig zu sehen gewesen, was auch das transatlantische Bündnis geschwächt hat und die amerikanischen Freunde zwischen Ungeduld und Erbitterung schwanken lässt. Diese Freunde wiederum wirken zum Teil der Last überdrüssig, weltweit den Kräften der Zerstörung Paroli zu bieten. Viele außenpolitische Hoffnungen des Westens, vom Arabischen Frühling bis zum state building in Krisenregionen, sind enttäuscht worden. Der westliche Gestaltungswille und sein Könnensbewusstsein sind an Grenzen gestoßen. Auch alles das legt Bescheidenheit nahe.
Bescheidenheit schließt aber Selbstbewusstsein nicht aus; Selbstbewusstsein nicht als Triumphalismus sondern als Ausdruck eines ruhigen Vertrauens in die Kraft der eigenen Werte und in den festen Willen, diese auch zu bewahren und zu verwirklichen. Gerade wer nicht mehr auftrumpfen will, gerade wer den Spalt schließen möchte zwischen seinem Reden und seinem Handeln, gerade wer den eigenen Idealen wieder näherzukommen versucht, gerade der sollte diese Ideale hochhalten und darauf bestehen, dass sie den Einsatz lohnen. Es gehört sich darum gerade für einen Westen, der den eigenen Fehlern und Schwächen ins Auge sieht, dann aber auch umso nachdrücklicher für das einzutreten, was er als richtig erkannt hat.
Das heißt: Es gehört sich für den Westen, nicht nachzulassen in dem immerwährenden Bemühen, seine helle, seine leuchtende Seite zu verwirklichen. Es gehört sich für ihn, seinem Ideal von Freiheit, Recht, Verantwortung und Solidarität so nahe wie nur irgend möglich zu kommen, es mit Vitalität zu erfüllen und ihm friedliche Strahlkraft zu verleihen über alle geographischen Grenzen hinaus.
Und damit bin ich bei den furchtbaren Morden von Paris, bei dem Anschlag auf die Meinungs- und Pressefreiheit, auf die Französische Republik, auf eine Demokratie westlicher Prägung und auf unser aller Werte und Überzeugungen. Damit bin ich aber auch bei den millionenfachen Solidaritätsbekundungen, den vielen kraftvollen Aufmärschen des vergangenen Sonntags, bei denen die Franzosen und Menschen der ganzen Welt eine klare Antwort gegeben haben: Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren; wir lassen uns unsere Zukunft nicht nehmen und schon gar nicht die Freiheit, auf die unser Zusammenleben gegründet ist. Wir halten die Fackel der Freiheit hoch, so wie jene Dame am Hafen von New York sie hochhält, die das französische Volk vor mehr als hundert Jahren den Vereinigten Staaten von Amerika geschenkt hat und die zum weltweiten Symbol der Hoffnung für die Armen, die Heimatlosen, die Geknechteten geworden ist. Der Westen wird immer leuchten, wenn wir nur diese Flamme hüten.
Die Flamme hüten, das heißt auch: an einer auf Frieden und Sicherheit zielenden, an einer auf Recht gegründeten, für alle zur Zusammenarbeit offenen internationalen Ordnung zu bauen; sie zu verteidigen und zu stärken. Das alles ist es, was dem Westen angesichts seiner Eigenschaften und angesichts seiner ja noch immer formidablen Fähigkeiten möglich und angemessen ist. Das kommt ihm zu.
IV.
Meine Damen und Herren,
in den internationalen Beziehungen macht sich ja ganz offensichtlich gerade eine ganz andere Erzählung breit als die vom globalen Commonwealth of Nations, als die von Frieden durch Recht, als die von Fortschritt für alle durch Zusammenarbeit: Es ist das alte, böse Lied von Machtpolitik und Nationalismus, von Aggression und Hegemonie. Dieses Lied weist nicht in die Zukunft, sondern tief in die Vergangenheit. Da scheint es manchmal, als würde eine sicher geglaubte, wenn auch imperfekte Weltordnung vor unseren Augen zerbröseln: Weltunordnung… Der Westen muss sich für einen solchen Rücksturz wappnen, und er muss nach Kräften versuchen, ihn zu verhindern. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das möglich ist – aber nur dann, wenn wir lernen, den destruktiven Zerfall einer Ordnung zu unterscheiden von einer konstruktiven Kraft der Unruhe und Veränderung, die auch für den Westen unvermeidlich ist. Ich glaube, dieses neue Jahr 2015 kann eine große Chance sein, diese Unterscheidung zu treffen; kann eine große Chance sein für den Bau einer wahrhaft inklusiven Weltordnung.
Um diese Chance zu nutzen, muss der Westen (1) das eigene Haus in Ordnung bringen, (2) zusammenhalten und (3) der Welt die Hand reichen. Was verstehe ich darunter?
V.
(1) Das eigene Haus in Ordnung bringen…das ist ja nicht überall en vogue: Wer an die westlichen Ideale glaubt und sich mit der schlechteren Praxis nicht abfinden will, wird der nicht schnell als Störer wahrgenommen? Herrschen nicht in den westlichen Gesellschaften eher zuviel Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit angesichts des Erreichten und zu viel über die vermeintlichen Grenzen des Machbaren abgeklärte Trägheit, aber zu wenig idealistische Unruhe? Ich finde jedenfalls, dass wir die Tugend der selbstkritischen Überprüfung, vielleicht auch den Mut zur Umkehr (all das hat doch den Westen erst stark gemacht!) wieder ein bisschen ernster nehmen sollten. Und die Liste des furchtlos zu Überprüfenden ist ja lang:
Das Band zwischen Freiheit und Verantwortung ist locker geworden im Westen. Bei den Finanzinstituten ist der Zusammenhang von Freiheit zum Risiko und Pflicht zur (persönlichen) Haftung verloren gegangen. Im Bereich der Staatsverschuldung und der Klimapolitik ist die Verantwortung zwischen den Generationen verloren gegangen: Die Heutigen leben auf Kosten der Kommenden. In den westlichen Demokratien ist das Band zwischen Volkswille und Staatshandeln locker geworden durch den unangemessenen Einfluss von Lobbyisten und Geldgebern und durch die Herrschaft kleiner Zirkel von Experten. Und in unseren Gesellschaften droht die Verantwortung für das Gemeinwesen und damit füreinander verloren zu gehen: zu Recht ist Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt mehr, und wenn ich mir die Parallelgesellschaften von Superreichen ansehe, die sich abschotten und entsolidarisieren, dann kann mich das durchaus wütend machen.
Die Ordnung des Westens braucht Anreize und Eingriffe, damit sich das wieder ändert. Ich weiß, da gibt es viele Baustellen mit viel Lärm, aber wird auf ihnen auch wirklich tief genug gegraben? Solange Finanzinstitutionen „too big to fail“ bleiben, solange nicht ein echter, wahrhaftiger Kulturwandel in der Finanzindustrie einsetzt, so lange bleibt Freiheit hier verantwortungslos und bleiben die Steuerzahler in Geiselhaft. Solange die Staatsverschuldung weit jenseits aller vernünftigen Stabilitätskriterien verharrt, so lange bleiben die wirtschaftlichen Wachstumskräfte gedämpft und der Einfluss der Finanzmärkte ungesund groß. Solange in der EU Konzepte für mehr Innovation und Wachstum (Lissabon Strategie, Europa 2020) nur auf dem Papier stehen und nicht umgesetzt werden, solange nicht endlich die Kraft da ist, die Investitionen in Bildung und Ausbildung und in Forschung und Innovation zu einer echten Priorität zu machen, solange man sich weiterhin um die unumgänglichen Strukturreformen drückt – so lange wird die Arbeitslosigkeit in Europa hoch bleiben und die Chance für Geringqualifizierte niedrig. Und solange der Einfluss von enthemmtem Lobbygeld in den westlichen Parlamenten zunimmt und sich die USA eine nahezu dysfunktionale politische Kultur leisten, so lange wird sich an alledem wohl wenig ändern. Wir müssen eine tiefe Sonde anlegen, um Gefährdungen der Freiheit und der Demokratie erkennen und entgegenwirken zu können. Dazu gehört für mich übrigens auch das Bewusstsein, das Funktionieren unserer Demokratien nicht von einem unbedachten Wachstumsverständnis abhängig zu machen.
Ob der Westen sein Haus in Ordnung bringt, das wird vom Rest der Welt genau beobachtet. Das geschieht nach meiner Wahrnehmung überwiegend ohne Schadenfreude oder Gehässigkeit, obwohl man wahrlich lange genug vom Westen missioniert und belehrt worden ist. Nein, die meisten anderen Nationen, auch und gerade die dem Westen Wohlgesonnenen, fragen sich einfach, was in der internationalen Zusammenarbeit vom Westen künftig zu erwarten ist. Das betrifft vor allem seine soft power. Ich bin manchmal etwas überrascht, wie gleichgültig, vielleicht auch wie blind wir geworden sind für das Bild, das die anderen von uns haben. Die am meisten unterschätzte Ressource in der internationalen Politik ist Vertrauen, und Vertrauen kann man nicht gewinnen ohne Glaubwürdigkeit. Ist meine Hoffnung wirklich so naiv, dass eine Politik der Wahrhaftigkeit, des ehrlichen Umgangs mit den anderen und mit seinen eigenen Schwächen, möglich ist? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der Westen verspieltes Vertrauen zurückgewinnen kann, ohne ernsthaft an seiner Glaubwürdigkeit zu arbeiten, ohne seine eigene Doppelzüngigkeit als Problem zu erkennen, eben: ohne sein eigenes Haus in Ordnung zu bringen.
Der Hausputz wird sein Ziel nur dann erreichen, wenn möglichst alle mitmachen, und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt in der Liste der westlichen Hausaufgaben:
(2) Zusammenhalten: Das ist zunächst ein Thema für Europa. Eine Politische Union, die Europa eigene Identität und Handlungsfähigkeit gibt, muss weiterhin Vision und konkretes Ziel europäischer Politik sein. Die Linie der Bundesregierung, Hilfen an Krisenstaaten mit der Erwartung nachhaltiger Strukturreformen zu verbinden, halte ich für richtig (die jüngsten Rentenreformen in Deutschland waren in diesem Zusammenhang aber genauso eindeutig ein falsches Signal). Ich glaube es wäre europapolitisch aber klug und gesamtwirtschaftlich hilfreich, diese Linie jetzt mit einem kraftvollen deutschen Zukunftsprogramm für private und öffentliche Investitionen zu ergänzen und damit auch dem Juncker-Plan Schub zu geben. Wir sollten diese Extra-Meile gehen – die finanzpolitische Lage in Deutschland lässt dies zu.
Eine starke Europäische Union ist nicht zuletzt auch Voraussetzung dafür, dass Europa den Vereinigten Staaten von Amerika ein ernsthafter, selbstbewusster und zuverlässiger Partner sein kann. Die Debatte, vielleicht auch das Lamento um das transatlantische Verhältnis hat ja eigentlich immer Konjunktur. Immer wieder machen sich die Alte und die Neue westliche Welt den Vorwurf, einfach nicht auf Ballhöhe zu sein, von einem anderen Planeten zu stammen, auseinanderzudriften.
Dazu ist zweierlei zu sagen. Erstens: Ja, es gibt Unterschiede in vielen Bereichen von Militäreinsatz bis Sozialhilfesatz; nur verlaufen sie nicht säuberlich zwischen „den“ Europäern und „den“ Amerikanern. Es gibt weder ein halbwegs einheitliches europäisches Sozialmodell (geschweige denn ein nachhaltig finanziertes) noch ein einziges amerikanisches. Auch in den USA sind sehr viele Bürgerinnen und Bürger gegen die Todesstrafe und gegen privaten Waffenbesitz, und viele Bundesstaaten haben sie verboten. Auch in den USA gibt es außenpolitisch Falken und Tauben. Auch viele Europäer waren für den Irak-Krieg 2003 (dem Vernehmen nach sogar einige in der Partei, welcher die Konrad-Adenauer-Stiftung nahe steht), so wie viele Amerikaner gegen ihn waren, Barack Obama zum Beispiel. Halten wir uns darum nicht damit auf, was angeblich ganz Europa von den gesamten USA unterscheidet oder gar trennt. Sprechen wir lieber über all das, was uns unbestreitbar miteinander verbindet. Und da gilt zweitens: Wir gehören zur selben Familie von Völkern mit gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln und ähnlichen Rechts- und Verfassungsordnungen und Wertvorstellungen, und um es mit Timothy Garton Ash zu sagen: „bei nüchterner Analyse ist es praktisch unmöglich, größere Differenzen zwischen den langfristigen Interessen Europas, Amerikas und der anderen freien reichen Staaten des Westens auszumachen“.
Wir sollten uns daher bemühen, das Wort von der transatlantischen Partnerschaft mit neuer Substanz, mit Haltung, mit Wert zu erfüllen, denn wie gesagt: Worte können ihre Bedeutung verlieren, wenn sie gedankenlos verwendet werden, und sie können einem sogar abhanden kommen. Es gab einen geschichtlichen Moment, da bot Präsident George Bush senior den Deutschen und den Europäern an, „partners in leadership“ zu sein. Steckt darin nicht auch ein Anspruch auf Augenhöhe, und was ist eigentlich daraus geworden? Es gibt ja der Dinge zuhauf, wo die Europäer als echte Partner Führung hätten zeigen können, und zwar auch im Sinne von: „Moment mal, in welche Richtung marschieren wir hier eigentlich?“. Da halte ich die NSA-Affäre fast noch für das harmlosere Beispiel. Viel mehr schmerzt mich, dass Europa etwa im Verlauf der Folterenthüllungen nicht viel hat spüren lassen von dem Anspruch, ein gleichwertiger Partner zu sein, der auch mal laut aufschreit, wenn er die gemeinsamen Werte in Gefahr sieht. Zusammenhalten heißt ja eben nicht: blind folgen oder auch nur: schläfrig mit-trotten. Zusammenhalten bedeutet transatlantisch dann:
- sich in allen wichtigen weltpolitischen Fragen abstimmen. Das wird nicht immer zu einem einheitlichen Standpunkt führen, aber es birgt mindestens drei Vorteile: (1) Es beugt auf amerikanischer Seite der Versuchung vor, die Europäer bloß als Pool von Alliierten zu sehen, aus denen man sich je nach Bedarf das Passende herauspickt. (2) Es zwingt die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu, ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu professionalisieren, um in Echtzeit wenigstens für die Mitgliedermehrheit sprechfähig zu werden. Auch da liegt noch ein langer Weg vor uns, fürchte ich; aber wenn wir nicht jetzt Tempo machen, wann denn dann überhaupt jemals? Der Europäische Auswärtige Dienst ist eine gute Idee. Bisher leistet er aber eher eine Art Nebenaußenpolitik, zusätzlich zu den mitgliedstaatlichen Außenpolitiken (in all ihrer bunten Vielfalt). Dieses Verhältnis muss sich mittelfristig umkehren! (3) Eine konsequente Abstimmung der Positionen bewahrt das transatlantische Verhältnis davor, sicherheitslastig oder wirtschaftslastig zu sein, und die größere Bandbreite und Vielfalt macht alles anschlussfähiger für die Sichtweisen nichtwestlicher Nationen.
- Zusammenhalten heißt auch: ein gemeinsames Verständnis von der Wehrhaftigkeit der Demokratie finden. Die Westeuropäer haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges viel zu sehr auf die sicherheitspolitischen Fähigkeiten der USA verlassen. Das hat das Gewicht der europäischen Ansichten nicht gestärkt. Die europäischen NATO-Mitglieder, auch Deutschland, haben nun gelobt, einen höheren Anteil ihres Sozialprodukts für Verteidigungsaufgaben zu verwenden. Diese Verpflichtung muss eingehalten werden, und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil die Substanz einer Partnerschaft sich nicht zuletzt in der Fähigkeit ausdrückt, Verantwortung zu übernehmen – nicht nur, aber eben auch militärisch. Das setzt gemeinsame Klarheit voraus darüber, wofür der Westen zu kämpfen bereit ist. Und ja, natürlich gehört dazu auch eine Auseinandersetzung, inwiefern der Verteidigungs- und Schutzbegriff in der Vergangenheit missbraucht worden ist.
In Bezug auf die aktuelle Krise im Osten gilt für mich der Satz: Sicherheit in Europa kann es langfristig nur mit, nicht gegen Russland geben. Mehr europäische Ernsthaftigkeit im transatlantischen Sicherheitsbündnis, das hat keine Logik der Aggression, es richtet sich nicht per se gegen andere. Und für sich alleine genommen wäre es auch viel zu kurz gesprungen. Mindestens genauso ernsthaft müssen wir uns der dritten Hausaufgabe des Westens widmen: Der Welt die Hand zur Zusammenarbeit reichen.
VI.
Wenn ich die Welt des 21. Jahrhunderts mit einem Wort charakterisieren müsste, dann wäre es: Interdependenz, also wechselseitige Verflechtung in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht. Präsident John F. Kennedy hat in einer Rede zum amerikanischen „Independence Day“ 1962 nach einer „Declaration of Interdependence“ zwischen den Vereinigten Staaten und der entstehenden Europäischen Union gerufen. Das, ausgerechnet an dem von den Amerikanern so heiß geliebten Tag der Unabhängigkeit, war ein starkes emotionales Signal dafür, was moderne Souveränität bedeutet: sich der eigenen Interdependenz bewusst zu sein, der Verschränktheit der eigenen Interessen mit denen der Anderen, des Angewiesenseins auf Andere und vor allem auch der Chancen, die ein gutes Miteinander bietet. Moderne, verantwortliche, smarte Souveränität denkt diese Interdependenz stets mit. Heute weiß kluge Souveränität: Die Menschheit sitzt in einem Boot. Die bedrohlichen Konflikte des 21. Jahrhunderts bestehen nicht zwischen „uns“ und „denen“, sicherlich auch nicht zwischen dem Westen und dem Rest, sondern zwischen uns und unseren Enkeln, zwischen kurzfristigen und langfristigen Interessen.
Es ist folglich eine der wichtigsten strategischen Herausforderungen unserer Zeit, den alten Leitbildern von Staatenegoismus, Machtpragmatismus und Gewaltpolitik eine andere, bessere „Große Erzählung“ entgegenzusetzen, die vom friedlichen Ausgleich, von der gemeinsamen Anstrengung zum Nutzen aller und von Frieden durch Recht und durch faire Lastenteilung handelt. Der Westen sollte also energisch daran arbeiten, die internationalen Institutionen für mehr Kooperation fortzuentwickeln und die internationalen Beziehungen mit einem neuen Geist der Zusammenarbeit, der Solidarität und der gegenseitigen Rechenschaftslegung zu erfüllen. Anders gesagt: Wir brauchen ein neues Paradigma in der internationalen Politik, ein Leitmotiv der globalen Partnerschaft. Dieses Leitmotiv stellt nationale Politik in den Kontext des globalen Gemeinwohls. Ich freue mich, dass die Bundesregierung dieses Motiv in ihrer Positionierung zu den derzeit laufenden UN-Verhandlungsprozessen aufgegriffen hat.
Die zentralen Reformaufgaben für eine internationalen Politik der Partnerschaft liegen auf der Hand: Wir brauchen dringend ein wirkungsvolles Klimaregime, wir brauchen endlich ein faireres und entwicklungsfreundlicheres Welthandelssystem, wir brauchen ein genuin multilaterales Währungssystem. Und wir brauchen dringend eine Stärkung der Vereinten Nationen mit der Reform des Sicherheitsrates als wichtigster Aufgabe. Dabei denke ich übrigens nicht an einen Sitz für Deutschland, sondern an eine gemeinsame Vertretung Europas…
All diese Reformaufgaben müssen darauf zielen, die beiden großen Menschheitsaufgaben unserer Zeit zu lösen: Das Ende der extremen Armut, also Wohlstand und Würde für alle(!), einerseits, und der Schutz der natürlich Lebensgrundlagen des Planeten andererseits. In den Vereinten Nationen werden diese Fragen derzeit heiß diskutiert. Im Frühsommer steht eine grundlegende Konferenz zur Architektur der internationalen Entwicklungsfinanzierung an, und im Winter sollen in Paris die entscheidenden Weichen für ein wirksames Klimaregime gestellt werden (und ja, es ist die Zeit gekommen für eine weltweite Karbonsteuer!). Im September dieses Jahres wird die Weltgemeinschaft im Rahmen des sogenannten Post-2015 Prozesses eine neue globale Entwicklungsagenda verabschieden, die universelle Gültigkeit haben soll – also nicht mehr nur für Entwicklungsländer, sondern ausdrücklich auch für den Veränderungsbedarf in Industrie- und Schwellenländern. Das sind drei große multilaterale Prozesse, die in diesem Jahr kulminieren… Nein, kein Ringelpietz mit Anfassen der internationalen Technokratenclubs oder „Gutmenschen“, sondern ein echtes, großes window of opportunity, ein Fenster zur Zukunft: zur Schaffung von Perspektiven für die Jugend der Welt, und als Hoffnungsfackel für die Armen, die Heimatlosen, Geknechteten.
Ich sehe in diesen Prozessen eine große strategische Chance, der um sich greifenden Unordnung dieser Zeit etwas Richtung Gebendes entgegenzustellen, etwas Einigendes, Vertrauen Stiftendes: ein starkes Narrativ der internationalen Kooperation, Beginn einer neuen Epoche globaler Partnerschaft! Es ist keine kleine Chance, die sich in diesem Superzukunftsjahr 2015 auftut. Und es ist eine Chance nicht zuletzt auch für den Westen. Hier kann er Führung beweisen. Hier kann er beweisen, dass er immer noch Avantgarde ist.
Wäre es nicht den Schweiß der Edlen wert, dass die Staats- und Regierungschefs sich zusammenraufen und der neuen globale Entwicklungsagenda eine moderne „Declaration of Interdependence“ voranstellen? Das wäre ein starkes Zeichen dafür, dass die Politik in diesem neuen Zeitalter der gegenseitigen Abhängigkeiten angekommen ist. Das wäre ein starkes Zeichen dafür, dass die Staatengemeinschaft noch an eine gemeinsame gute Zukunft dieses Planeten glaubt. Und wenn der Planet eine Zukunft hat, dann brauchen wir uns auch um die Zukunft des Westens weniger Sorgen machen.
Niemand kann in die Zukunft sehen. Aber alle können ein schönes Wort von Hannah Arendt beherzigen: „Die sicherste Methode, die Zukunft zu erkennen, besteht darin, ein Versprechen abzugeben und es zu halten.“