„Heimkehr in die Fremde“

Ehrenessen zum 80. Geburtstag von Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler auf Einladung Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Frau Elke Büdenbender

Berlin, Schloss Bellevue, 6. März 2023



„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…“ – Sie kennen den Eingangsvers aus einem berühmt gewordenen Gedicht Rilkes. Gern zitiert man es zu Geburtstagen, denn das aus der Botanik entlehnte Bild der wachsenden Ringe ist ebenso leicht zu fassen wie bedenkenswert: Ein jedes Leben gewinnt, wie der Stamm eines Baumes, mit der Zeit unweigerlich an Weite und Größe. Wir wachsen an vielfältigen Erfahrungen und Begegnungen, die uns zuteil wer-den, seien sie schön oder schmerzhaft.
Ich bin froh und dankbar, dass heute so viele Zeugen ganz verschiedener „Lebensringe“, Etappen meines Lebens, zu Gast sind. Sie sind, Ihr seid es, die mein Leben bereichern, an denen und mit denen ich wachsen durfte und noch immer wachsen darf!
Rainer Maria Rilke schrieb besagtes Gedicht als junger Mann von 24 Jahren in Berlin. Damals, im September 1899, waren die Eindrücke seiner ersten Reise nach Russland, die er im Frühling jenes Jahres unternahm, noch ganz frisch. Sie inspirierten sein künstlerisches Schaffen und bewegten ihn im tiefsten Innern. Die Reise nach Russland bedeutete für Rilke eine paradoxe Heimkehr in die Fremde, in ein unbekanntes Land, dem er sich aber schon lange seltsam verbunden fühlte. Russland – so schrieb der an wachsenden Ringen gealterte Rilke gut zwanzig Jahre später – „hat mich zu dem gemacht, was ich bin, von dort ging ich innerlich aus.“
Liebe Gäste, Orte, die uns eigentlich fremd sind, aber doch berühren, deren Menschen wir uns verbunden fühlen, auch wenn unsere und ihre Lebensgeschichten ganz andere sind, solche Orte, solche Seelenlandschaften haben wir wohl alle, sei es in der Nähe oder der Ferne.

Meine letzte Heimkehr in die Fremde liegt noch nicht lange zurück: Im November letzten Jahres besuchte ich mit meiner Frau zum zweiten Mal den Ort, an dem ich vor 80 Jahren das Licht der Welt erblickte: Skierbieszów, ein Dorf im Landkreis Zamość, im Südosten Polens, nur etwa 50 km Luftlinie von der Grenze zur Ukraine entfernt.
Der Anlass unseres Besuchs war eine Einladung des dortigen Landrats zum Gedenken an den 80. Jahrestags des Beginns der sogenannten „Aktion Zamość“: Im November 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, begannen SS-Einheiten mit der Umsetzung eines perfiden Plans zur völligen „Eindeutschung“ des Landkreises Zamość: Bis zum Sommer 1943 wurden 110.000 Polen aus ihren Häusern und von ihren Höfen vertrieben, um Platz für Volksdeutsche zu schaffen, von denen jedoch nur knapp 13.000 – überwiegend aus Bessarabien und Südosteuropa, darunter auch meine Eltern – nach Zamość kamen. Ein Musterprojekt für die Germanisierung des Generalgouvernements sollte die sog. „Aktion Zamość“ sein. Tatsächlich war sie ein Exempel für die Grausamkeit deutscher Besatzer in Polen. Besonders berührt das Schicksal der Schätzungen zufolge etwa 30.000 „Kinder von Zamość“: Viele von ihnen verloren ihre Eltern und ihre Familien, wurden ihrer Heimat beraubt, ins „Reich“ deportiert und dort in Lebensborn-Heimen untergebracht, oder sie fanden den Tod. – Gemeinsam mit einer Delegation aus dem Partnerlandkreis Schwäbisch Hall und den polnischen Gastgebern gedachten wir der Opfer dieses „Verbrechen[s] gegen die Menschlichkeit“ – wie es der polnische Präsident Andrzej Duda in seiner Rede mit Recht nannte.
Ein hochbetagter Zeitzeuge von damals appellierte auf der Gedenkveranstaltung in Skierbiezów an die Anwesenden, dass das Geschehene niemals vergessen werden darf. Es müsse Eingang in die Schulbücher finden. 80 Jahre sind kein Grund, um zu vergessen. Wir brauchen Orte gelebter Erinnerungskultur und ich bin dankbar, dass auf Beschluss des deutschen Bundestags in Berlin ein „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ entstehen soll, der nicht allein Denkmal für die sechs Millionen Opfer der deutschen Besatzung in Polen, sondern besonders auch für junge Menschen ein Raum der Bildung, Begegnung und des Dialogs wer-den soll.
Der Besuch in Zamość bewegt mich auch heute noch. Gleichermaßen überraschend wie beeindruckend empfand ich die Offenheit und Freundlichkeit, mit der mir die Menschen in Skierbieszów und Zamość begegneten – trotz der schwierigen Geschichte, die zwischen unseren beiden Völkern steht und trotz der Dissonanzen, die gegenwärtig das deutsch-polnische Verhältnis belasten.
Ich freue mich außerordentlich, dass unter unseren Gästen heute auch der Landrat von Zamość, Herr Stanisław Grześko, ist. Lieber Herr Grześko, ich hoffe, dass Sie heute ebenso viel Gastfreundschaft erfahren, wie Sie sie meiner Frau und mir im November in Zamość zu-teil werden ließen!
Mein Besuch in Skierbieszów bedeutete auch eine Art Heimkehr in die Fremde und war ein Geschenk: Trotz der noch immer schmerzenden Wunden der Geschichte fühlte ich mich als willkommener Gast. – Ich komme noch einmal zurück auf Rilke und Russland, auf sein Sehnsuchtsland: Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der zwei Tage nach meinem 79. Geburtstag begann und uns nun schon über ein Jahr bewegt und erschüttert, angesichts der von Russland ausgehenden Aggression fällt es zugegebenermaßen schwer, sich in die Russland-Romantik Rilkes hineinzudenken und seiner Liebe zu diesem großen, alten Land nachzuspüren. Russland und seine Menschen sind uns derzeit vielfach fremd, das Kalkül seiner Regierung ist uns unbegreiflich. Es tritt historisch mühsam erarbeitetes Völkerrecht mit Füßen.
Wieder tobt Krieg auf europäischem Boden. Viele scheinbare Selbstverständlichkeiten sind für uns Deutsche im vergangenen Jahr an der Realität zerbrochen: Russland als Garant für billige Energie, die USA als Garant für unsere dauerhafte Sicherheit und China als Garant für wirtschaftliches Wachstum. Dieses lange bewährte deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr. Die ,Zeitenwende‘ verlangt unsere Bereitschaft zu tiefgreifendem Wandel.
Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte bereits im Mai 2017 – unmittelbar im Anschluss an den ersten G7-Gipfel mit US-Präsident Donald Trump – fest: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. […] Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“
Was bedeutet das für Deutschland? Ich glaube vor allem zweierlei:
1. Deutschland kann auf Grund seiner Größe und Interessenlage in der Mitte Europas seiner Führungsverantwortung für eine gute Zukunft Europas nicht länger ausweichen. Und
2. Deutschland kann sich dabei auch seiner Verantwortung für die europäische Wehrfähigkeit nicht mehr entziehen. Zu dieser gehört für mich unabdingbar jetzt auch eine echte europäische Verteidigungsunion mit Streitkräften, die in der Lage sind, militärische Bedrohungen gegen-über uns und unseren Nachbarn robust und – im wahrsten Sinne des Wortes – gut gerüstet zu begegnen. „Freundliches Desinteresse“ für die Bundeswehr reicht nicht mehr.
Der Friede in Europa verlangt aber mehr als die Abwehr feindlicher Kräfte. Der Friede in Europa lebt zuallererst von Verständigung zwischen den Völkern und Nationen unseres Kontinents. Solche Verständigung braucht Begegnung, aus der ein vertrauensvolles Miteinander erwachsen kann. – Ich blicke noch einmal zu Herrn Landrat Grześko und schaue nun auch zu seinem Tischnachbarn, Herrn Bauer, dem Landrat von Schwäbisch-Hall. Seit über 20 Jahren pflegen der polnische Landkreis Zamość und der deutsche Landkreis Schwäbisch-Hall eine kommunale Partnerschaft.
Und dass diese Partnerschaft mehr als ein Lippenbekenntnis ist, war im vergangenen Jahr zu erleben, als sich ein Band der Hilfsbereitschaft von Schwäbisch Hall über Zamość bis in die ukrainische Partnerstadt von Zamość nach Schowkwa spannte und dringend benötigte Sachspenden aus Deutschland und Polen ihren Weg zu den Menschen in Not fanden.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, gemeinsam mit dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymr Selenskyj haben Sie am 25. Oktober des vergangenen Jahres zur Bildung deutsch-ukrainischer Städtepartnerschaften aufgerufen, weil sie in ihnen „eine Grundlage für gelebte Solidarität im Angesicht des Krieges“ erkennen. Wie richtig diese Sicht ist, beweist das Bei-spiel gelungener Partnerschaft der Regionen Schwäbisch Hall und Zamość.
Möglichkeiten der Begegnung zu schaffen, um gegenseitige Vorurteile abzubauen und zu überwinden, um Vertrauen zu entwickeln und Freundschaften wachsen zu lassen: Das braucht Europa jetzt mehr denn je. Gerade in dieser Krisenzeit und besonders dort, wo angesichts politischen Streits das auf dem langen Weg der Versöhnung bereits Erreichte in Vergessenheit zu geraten droht. Ein starkes Europa, davon bin ich überzeugt, lebt ebenso von einer starken deutsch-polnischen wie von einer starken deutsch-französischen Partnerschaft. Unsere gemeinsame Zukunft heißt Europa!
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“
So dichtete Rilke. Und ich sage: Ja, ich will’s versuchen. Ich will auch mit meinen 80 Jahren versuchen, einen Beitrag für die Umsetzung der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu leisten. Sie ist die zielführende Antwort auf neuen Nationalismus und Krieg in der Welt.
Die Farben des Ansteckers, den ich trage, symbolisieren die 17 Entwicklungsziele, die im Jahr 2015 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter Vorsitz ihres Generalsekretärs, Herrn Ban Ki-moon, beschlossen wurden. Sie verlangen Frieden auf der Welt und Zusammenarbeit zwischen den Nationen. Ich empfinde es als eine große Ehre, Herr Generalsekretär, dass auch Sie heute unter uns sind.
Ich will daneben weiter um mehr Aufmerksamkeit für unseren Nachbarkontinent Afrika werben.
Ja, ich will noch einiges versuchen! Für heute aber will ich eines nur: Dankbar sein, dass ich mit Ihnen und euch diesen Abend feiern darf!