Nachhaltige Entwicklung und Kapitalismus sind kein Gegensatz

Berlin Model United Nations 2023 - John F. Kennedy School
Berlin, 17. November 2023



Ihre Konferenz steht unter dem Titel „Sustainable Development in a Capitalist World“. Dieser Titel wirft Fragen auf:
– Was ist unter einer nachhaltigen Entwicklung zu verstehen? Beschreibt sie eine Utopie, ein fernes Zukunftsziel oder aber einen schon heute gangbaren Weg?
– Was bedeutet „a Capitalist World“? Verbirgt sich dahinter eine Zustandsbeschreibung oder eine Kritik gegenwärtiger Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse?
– Und schließlich: Kann, und wenn ja, wie kann beides – nachhaltige Entwicklung und Kapitalismus – zusammengehen?
In der mir gegebenen Zeit kann und will ich diese Fragen nicht umfassend zu beantworten suchen. Aber ich hoffe, Ihnen zumindest in zweierlei Hinsicht für Ihre Beratungen Impulse geben zu können, indem ich zum einen die Herausforderungen beschreibe, vor denen die Welt und die globale Wirtschaft gegenwärtig steht, und zum anderen zeige, worin ich einen Lösungsansatz für die beschriebenen Probleme sehe.
I. Herausforderungen
Wo stehen wir? Die gegenwärtige geopolitische Situation ist von einem Nebeneinander verschiedener Krisen gekennzeichnet, die erhebliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben:
– Noch immer leidet die konjunkturelle Entwicklung unter den Folgen der Covid19-Pandemie, die weltweit zu erheblichen Lieferengpässen und Transportproblemen führte.
– Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erklärt die sprunghafte Erhöhung der Energiepreise, insbesondere in den westlichen Staaten, die von Importen von Öl und Gas aus Russland besonders abhängig waren.
– Bislang nicht absehbar sind auch die Auswirkungen des seit dem 7. Oktober 2023 herrschenden Kampfes von Israel gegen die Terrororganisation Hamas. Sollte sich dieser Krieg zu einem Flächenbrand in der Region ausweiten, könnte auch das die Weltwirtschaft beeinträchtigen.
Das alles begründet Gefahren für Handel und Arbeitsteilung in der Welt, die den Kampf gegen Armut, besonders in Afrika, zusätzlich erschweren. Und politisch kommen jetzt in vielen Ländern Nationalisten hoch, die einfache Antworten auf komplexe Fragen geben und dem „Decoupling“ das Wort reden.
Doch was sind die Fakten? Tatsächlich weisen die volkswirtschaftlichen Statistiken nach, dass die Globalisierung der Welt enorme Fortschritte brachte. Ich nenne Ihnen drei Beispiele:
– Der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton zeigte in seinem Werk „The Great Escape“ (2013) auf, dass der internationale Austausch von medizinischen Erkenntnissen und Medikamenten entscheidend dazu beitrug, dass der Anstieg der globalen Lebenserwartung innerhalb der letzten fünfzig Jahre höher ausfiel als im gesamten vorherigen Jahrtausend.
– In China konnten dank der Einbindung in internationale Wirtschafts- und Handelsströme über eine halbe Milliarde Menschen extremer Armut entfliehen.
– Und auch das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ohne weltweit offene Märkte nicht denkbar gewesen.
Bedeutet die Globalisierung also nur Segen? – Nein, sicherlich nicht. Festzustellen ist auch, dass nicht alle Menschen gleichmäßig von der Globalisierung profitiert haben. Die natürlichen Ressourcen Afrikas werden bis heute hauptsachlich zur Schaffung von Wohlstand außerhalb des Kontinents ausgebeutet. Zwar hat die globale Ungleichheit, vor allem im Vergleich des Westens mit Asien, abgenommen, zugleich ist aber die Ungleichheit innerhalb vieler Länder, nicht zuletzt auch den Industrieländern, gestiegen. Zu den größten Profiteuren der Globalisierung zählen die Superreichen: Der aktuelle Global Wealth Report der Allianz-Versicherungsgesellschaft zeigt, „that the richest 10% of the world’s population […] together own 85% of total net financial assets in 2022.” – Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage nach einer faireren Verteilung des Wohlstands. Ihr muss in Zukunft global mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Auch mit Blick auf die ökologischen Folgen muss die Globalisierung kritisch verfolgt werden. Sowohl kapitalistische und –noch mehr – sozialistische Systeme externalisieren noch viel zu stark die Umweltkosten ihrer Wirtschaftsweise. Der Markt versagt, weil Menschen und Firmen nicht für die Schäden, die sie verursachen, bezahlen müssen. In vielen Ökosystemen nähern wir uns deshalb zweifellos gefährlichen Kipppunkten, die, einmal überschritten, zu abrupten und unumkehrbaren Veränderungen im Erdsystem führen können.
Klar ist: Der Planet Erde hat Grenzen. Und dennoch verbraucht die rasant wachsende Weltbevölkerung weiterhin Ressourcen aller Art weit über der natürlichen Reproduktionsrate. Erschwerend kommt mit Blick auf fossile Ressourcen hinzu, dass wir die bestehenden Vorräte gar nicht vollständig nutzen dürfen, wenn wir den CO2-Aussstoß begrenzen und dadurch das Voranschreiten der globalen Erwärmung bremsen wollen.
Wir müssen die Frage stellen, von welcher ökologischen Substanz sich das Wachstum der Weltwirtschaft nähren kann.
Der an der University of Notre Dame in Indiana (USA) lehrende Philosoph Vittorio Hösle hat darauf aufmerksam gemacht, dass bessere Technologien und Effizienzsteigerungen allein nicht ausreichen werden, um die ökologische Krise zu bewältigen. Der Lebensstil der westlichen Moderne stößt an seine Grenzen. Und für Hösle ist klar, dass dieser Lebensstil nicht universalisierbar ist. Er taugt nicht zum Vorbild für alle Länder. Und was nicht Vorbild sein kann, taugt auch nicht zum ethischen Maßstab. Daher empfiehlt Hösle insbesondere den reichen Industrienationen ein Nachdenken darüber, was ausreichend, maßvoll und angemessen ist und zugleich Befriedigung schafft. – Auf dieser Linie liegt übrigens auch der Rat der japanischen Ordnungsberaterin Marie Kondō, zu fragen, welcher materielle Besitz uns tatsächlich glücklich macht und welcher Besitz in Wirklichkeit eher Last als Luxus ist.
II. Die Entwicklung einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft als Antwort auf gegenwärtige weltwirtschaftliche Herausforderungen
Wir brauchen eine Weltwirtschaft, die niemanden zurücklässt und die dem Klimawandel und den planetaren Grenzen Rechnung trägt.
Eine solche Weltwirtschaft hat die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zusammen mit dem Klimaabkommen von Paris im Sinn. Die Agenda 2030 wurde im September 2015 von den Staats- und Regierungschefs der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in New York verabschiedet.
Ihren Kern bilden die Sustainable Development Goals, ein umfassendes Bündel von 17 Zielen, die die soziale, ökologische und ökonomische Entwicklung betreffen und zu deren Verfolgung sich alle Mitgliedstaaten verpflichtet haben.
Ich halte diese politische Agenda, trotz mancher Schwächen und aktueller Versäumnisse, weiterhin für eine zielführende globale politische Maßgabe zur Schaffung von Frieden und Fortschritt in der Welt. Und das heißt auch: Die Institution „Vereinte Nationen“ ist vielleicht wichtiger denn je. Auch sie braucht dringend Reformen, aber ohne die Institution „Vereinte Nationen“ würde die Welt dunkler.
Mit Blick auf die Situation im Gazastreifen habe ich mich über die gestrige Resolution des VN-Sicherheitsrats gefreut, „dringende und ausgedehnte Feuerpausen und Korridore für humanitäre Zwecke“ einzufordern. Gleichzeitig möchte ich Generalsekretär Antonio Guterres ermutigen, darüber hinauszugehen und schnellstmöglich als Vereinte Nationen einen Friedensplan nicht nur für Gaza sondern auch für die Ukraine zu entwerfen.
Als Teilnehmer des „High-Level Panel on the Post-2015 Development Agenda“, das der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon einberief, habe ich 2012 mit 26 anderen Persönlichkeiten aus der ganzen Welt in langen Beratungen und Diskussionen und im Austausch mit Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft an der Vorbereitung der Agenda 2030 mitgewirkt.
Unserer Arbeitsgruppe war wichtig, dass die Post-2015 Agenda, wie wir sie damals nannten, eine universelle Agenda ist, also eine, deren Ziele für alle Staaten relevant sind, ganz gleich ob Entwicklungs-, Schwellen- oder Industrieländer. Wir stimmten darin überein, dass die Schicksale der Weltgemeinschaft ökonomisch, ökologisch, sozial und auch moralisch so eng miteinander verwoben sind, dass ein Paradigmenwechsel unerlässlich ist, der dieser Wirklichkeit auch politisch Rechnung trägt. Die vielleicht wichtigste Transformation, die die Weltgemeinschaft in unseren Augen brauchte, ist die Entwicklung eines neuen Geistes der Solidarität und Zusammenarbeit zum Nutzen aller. Dieser gründet auf einem gemeinsamen Verständnis des globalen Gemeinwohls und globaler Ethik. Die politische Verwirklichung eines solchen Geistes artikuliert sich in dem Begriff „Globale Partnerschaft“.
Globale Partnerschaft ist für mich mehr als eine Zukunftsutopie. Denn trotz aller Differenzen und Spannungen in der Welt, gibt es eine Basis für eine globale Werteordnung, für ein Weltethos. Darauf hat schon der Theologe Hans Küng in jahrzehntelanger Forschung zu den ethischen Grundprinzipien der Weltreligionen aufmerksam gemacht. Eines dieser Grundprinzipien ist die Goldene Regel der Gegenseitigkeit, nach der man sich seinen Mitmenschen gegenüber so verhalten soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Diese Regel findet sich in allen großen Weltreligionen.
Die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen gibt die Richtung für eine neue große Transformation in der Weltgeschichte vor. Überall auf der Welt brauchen wir Regierungen und Zivilgesellschaften die im Geiste Globaler Partnerschaft denken und handeln. Der im Mai dieses Jahres vom Generalsekretär der Vereinten Nationen veröffentlichte Fortschrittsbericht zu den Sustainable Development Goals zeigt, dass die Weltgemeinschaft ihre Bemühungen deutlich beschleunigen muss, damit die Große Transformation wirksam Fuß fasst.
Eine an den Bedingungen der Freiheit und des Wettbewerbs ausgerichtete Marktwirtschaft, in der Risikobereitschaft und Fleiß belohnt werden, ist dabei in meinen Augen kein Hindernis für Nachhaltige Entwicklung, sondern Teil der Lösung. Wichtig ist dabei, in der Marktwirtschaft ein Ordnungsprinzip für die Wirtschaft zu sehen, jedoch keine alle menschlichen Lebensbereiche erfassende Ordnung. Die Würde des Menschen hat kein Preisschild. Ein „Raubtierkapitalismus“, der gegenüber Verlierern am Markt erbarmungslos ist und den Profit auf Kosten des Gemeinwesens sucht, führt in eine Sackgasse.
Die Bundesrepublik Deutschland, die in diesem Jahr seit 50 Jahren Mitglied der Vereinten Nationen ist, hat nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Einführung einer Sozialen Marktwirtschaft eine bis heute in der Welt vielbeachtete wirtschaftliche Ordnungskonzeption verwirklicht. In ihr verbindet sich das Prinzip des freien Markts (und des freien Wettbewerbs) mit der Idee des sozialen Ausgleichs. Wo der freie Markt nur den Starken dient und zu sozialen Ungerechtigkeiten führt, da hat der Staat die Aufgabe und Pflicht, zum Schutz der Schwachen regulierend einzugreifen. Die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft haben die Soziale Marktwirtschaft dabei immer als ein offenes System verstanden, das der Weiterentwicklung bedarf.
Ich glaube, dass es nun an der Zeit und ganz im Geiste der UN-Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung ist, die Soziale Marktwirtschaft zu einer Sozial-Ökologischen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln. In Deutschland findet das mittlerweile breite Zustimmung.
Mir gibt es Hoffnung, wenn ich sehe, dass junge Menschen von 74 Schulen aus 25 verschiedenen Ländern beim diesjährigen Berlin Model United Nations mitmachen. Jede und jeder einzelne von euch und Ihnen hat die Chance daran mitzuarbeiten, dass die Idee der Vereinten Nationen und ihre Charta auch im 21. Jahrhundert lebt und wirkmächtig bleibt.
Für Ihre Beratungen im Rahmen des Berlin Model United Nations 2023 wünsche ich Ihnen viel Erfolg und ich hoffe, dass Sie zahlreiche interessante und gute Debatten miteinander führen werden.