Internationaler Preis der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung

Laudatio anlässlich der Verleihung an Herrn Bundespräsidenten a.D. Joachim Gauck
Freiburg, 11. März 2018



I.

Ich habe immer eine heimliche Freude daran, dass ein Freiheitspreis, wie der Hayek-Preis es einer ist, in einer Stadt vergeben wird, die das Freie schon im Namen trägt. Wenn dieser Preis dann auch noch an einen Menschen vergeben wird, dessen intellektuelles und persönliches Lebensthema die Freiheit ist, und der darüber hinaus als freier Kopf bekannt ist, niemandem Untertan außer den Werten und Idealen dieses Europas, dann ist die Freude darüber, dass die Dinge einfach zusammenpassen, nicht mehr nur heimlich. Lieber Joachim Gauck, es ist nicht nur schön, sondern folgerichtig, dass Sie heute bei uns sind und diesen Preis entgegennehmen.

II.

Im Zentrum des Denkens und Forschens von Friedrich von Hayek stand: die Freiheit des Individuums. Hayek hat gezeigt, warum individuelle Freiheit unverzichtbar ist für die Freiheitlichkeit und Prosperität von Gesellschaften. Die wirtschaftlichen Früchte der Freiheit wirken wie das Ergebnis eines ungeheuer komplexen Großen Gesamtplans. Aber das sind sie offensichtlich gerade nicht: Zwar planen alle Menschen, Unternehmen und Institutionen je für sich, aber niemand plant für alle und alles, und kein Mensch und keine Institution hätte genug Wissen für einen Großen Gesamtplan, der wirklich funktioniert. Hayek hat gezeigt: Es ist die Freiheit aller Bürger, das eigene Wissen für eigene Zwecke zu gebrauchen, die dank Markt, Wettbewerb und Preissignal auch ihre Gesellschaften gedeihen lässt. Darum hat er davor gewarnt, diese individuelle Freiheit zum Planen, Handeln und Dazulernen gerade auf wirtschaftlichem Gebiet durch Große Gesamtpläne einzuschränken, weil das unmögliches Wissen vortäuscht und weil das ein Volk in Knechtschaft und in wirtschaftliche Not führt.

Hayek hat außerdem unseren Blick für die ökonomische Bedeutung von Interdependenz geschärft: Wenn die und der einzelne frei planen und handeln, dann bedenken sie dabei als Erfolgsbedingungen immer auch Vieles mit, was andere wissen, planen und tun. Gerade darum war Hayek alles andere als ein laissez-faire-Liberaler. Er hat betont: Das individuelle Planen und Handeln ist für sein Gelingen auch darauf angewiesen, dass das Verhalten Anderer verlässlich einzuschätzen ist. Im Verlaufe von Generationen des Miteinanders werden aus solchen Verhaltenserwartungen und aus solchem verlässlichen Verhalten Haltungen, Regeln und Gesetze – es wächst eine Verfassung der Freiheit, die niemand im Labor machen kann, die wir aber, wenn sie gewachsen ist, schützen und hegen und pflegen müssen, damit sie uns erhalten bleibt.

II.

Lieber Joachim Gauck: Was Friedrich von Hayek als „Weg zur Knechtschaft“ beschrieben und wovor er gewarnt hat, das haben Sie am eigenen Leibe erlebt und erlitten. In Ihren vielgelesenen „Erinnerungen“ mit dem Titel „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ schildern sie beklemmend anschaulich, wie es ist, in einer Plan- und Zuteilungswirtschaft zu leben. Da heißt es mit Blick auf die Enteignungen und Kollektivierungen in der DDR: „Am Ende war die in Jahrhunderten gewachsene Struktur privater Kleinbetriebe und Mittelstandsunternehmen (…) verschwunden, waren die bäuerlichen Höfe gegen den Willen der Betroffenen in große Produktionseinheiten umgewandelt. (…) Ohne politische Rechte und ohne freie Wirtschaft waren persönliches Engagement, Fähigkeit zur Verantwortung, unternehmerische Initiative und Innovationsgeist dann verschwunden. Eine auf den ersten Blick ökonomische Entmächtigung hatte eine kulturelle und politische nach sich gezogen.

Sie haben sich damit nicht abgefunden. Sie haben die Sehnsucht nach Freiheit nicht verloren. Sie haben sich nicht mit dem Zugeteilten begnügt und arrangiert, sondern den Mut gehabt, friedfertig und unbeirrbar Veränderung zu fordern. Diesen Mut hatten im Herbst ’89 anfangs Hunderte, dann Tausende, dann Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Gemeinsam haben sie die erste friedliche und erfolgreiche Freiheitsrevolution der deutschen Geschichte vollbracht.

Schon in jenen Tagen der friedlichen Revolution haben Ihnen viele Mitbürger zugehört und zugestimmt. Und seitdem sind es immer mehr geworden. Das war und ist ein Glück für unser Land.

Sie, lieber Herr Gauck, waren gründlich geimpft und immun gegen alle Großen Gesamtpläne in Wirtschaft und Gesellschaft. Darum haben Sie in den kritischen Monaten nach dem Fall der Mauer entschieden für die Soziale Marktwirtschaft und für die Einheit in Freiheit geworben. Sie hielten auch wenig von dem Paternalis­mus mancher Bürgerrechtler, die nach einem Dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus suchen wollten.

Sie haben damals zugleich oft darauf hingewiesen, wie unbequem das Ja zur individuellen Freiheit und zur freien Marktwirtschaft auch sein kann. Darum haben Sie vor der Entmündigung und Selbstentmündigung durch zuviel staatliche Fürsorge gewarnt, weil die den Bürger nur allzu leicht erschlaffen lasse und seinem Traum von der wohlmeinenden Obrigkeit entgegenkomme. Entsprechend haben Sie später auch den Ansatz des Förderns und Forderns der „Agenda 2010″ immer wieder unterstützt.

Und alle diese Erfahrungen und Überzeugungen haben Sie dann in Ihre Amtsführung als Bundespräsident eingebracht. Sie haben im Lichte der Banken- und Finanzkrise alle Verantwortlichen dazu gemahnt, das Regelwerk unserer Wirtschaft zu korrigieren, vor allem aber die eigene Haltung zu überprüfen – Haltung ist überhaupt eines Ihrer Schlüsselworte. Niemand dürfe sich aus seiner persönlichen Verantwortung herauszureden versuchen unter Hinweis auf Abstrakta wie „den Markt“, „die Regulierung“ oder die Komplexität der Globalisierung. Sie haben dazu appelliert, in Wirtschaft und Politik enkeltaugliche Entscheidungen zu treffen, anstatt Lasten verantwortungslos auf kommende Generationen zu verschieben. Sie haben darauf hingewiesen, dass in dem Wort „Nachhaltigkeit“ der „Wortstamm für Haltung“ steckt und wir von Unternehmern, Politikern und Interessengruppen die Haltung erwarten dürfen, „ihre Entscheidungsprozesse [zu] verbinden mit der Frage, ob sie das ganze System überlasten und der Allgemeinheit schaden oder mit welcher Alternative sie Zukunftsrisiken klein halten können.“

Kurzum: Sie haben unentwegt für die Ordnung der Freiheit geworben und für die Haltung, auf die sie angewiesen ist bei ihren Bürgerinnen und Bürgern. Ich zitiere dafür eine schöne Gauck’sche Kurzformel, die Sie vor gut zwei Jahren hier bei der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung geprägt haben: „Verantwortung – so heißt die Freiheit der Erwachsenen.“

III.

Meine Damen und Herren, diese Verantwortung für die Freiheit sieht sich täglich gefordert und herausgefordert, in diesem Zeitalter der Umbrüche vielleicht mehr als je zuvor. Was bedeutet die Globalisierung für die Rollenverteilung zwischen Markt und Staat, wenn der eine global, der andere national organisiert ist? Wie gehen Freunde der Freiheit, wie Hayek sie wollte, mit dem Aufstieg Chinas intellektuell um – was ist dieser Herausforderung gedanklich entgegenzusetzen, wenn man vom unauflöslichen Zusammenhang zwischen prosperierender Wirtschaft, Freiheit und Demokratie überzeugt ist?

Und dann die Großfrage dieses neuen Jahrhunderts: Wie gestalten wir den technologischen Wandel, die digitale Revolution, die unser Menschsein möglicherweise nicht nur in seiner sozialen, sondern sogar biologischen Grundstruktur verändern wird?

Zu Hayeks frühesten und genauesten Lesern zählte George Orwell. Er hat den „Weg zur Knechtschaft“ sogar rezensiert. Davor hatte er „Animal Farm“ geschrieben – danach schrieb er „Nineteen Eighty-Four“, den Roman über eine Knechtschaft, die mit Mangelwirtschaft, allgegenwärtiger Überwachung und dem Verlust jeglicher Privatsphäre einhergeht. Leben wir womöglich am Vorabend einer anderen, wenn auch materiell vielleicht komfortableren, Form von Totalüberwachung, Gängelung und Knechtung?

Sie selbst, lieber Herr Gauck, haben mit Ihrer unverwechselbaren Lebensbejahung davor gewarnt, die Digitalisierung zu verteufeln, haben immer für die gigantischen Chancen geworben, die sie der Menschheit bietet. Und Sie haben auch zu Recht darauf hingewiesen, dass die Menschen heute freiwillig ihre Daten preisgeben und deshalb die Diskussion um Privatsphäre im Netz nicht frei von Heuchelei ist. Gleichzeitig haben sie schon früh die Ambivalenz der Digitalisierung und ihren komplexen Bezug zur Freiheit thematisiert, etwa bei Ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2013 oder bei Ihrer Übernahme der Schirmherrschaft des Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet vor wenigen Monaten. Sie mahnen stets, den digitalen Wandel zu gestalten.

Diese Mahnung ist nötig. Denn jenseits der großen neuen Freiheiten und Erleichterungen, die uns das Internet beschert, zeichnet sich ein wissenschaftlicher und technischer Angriff auf die Grundfesten des Hayek’schen Denkgebäudes ab. Die Biowissenschaften erschüttern die Vorstellung vom menschlichen Individuum und vom freien Willen und Handeln des Menschen. Künstliche Intelligenz und Supercomputer werden die Anhäufung eines bisher unmöglichen, umfassenden Wissens erlauben. Die digitale Plattformökonomie, deren Vorreiter Facebook, Airbnb oder Uber sind, zielt wohl auf das Geschäftsmodell des globalen Monopols, stellt also schon in ihrer Grundausrichtung das Prinzip des freien Wettbewerbs in Frage.

Wird die Freiheit im 21. Jahrhundert vielleicht nicht mehr durch einen Großen Gesamtplan bedroht, sondern durch Big Data? Kann es sein, dass wir wieder auf eine Zuteilungswirtschaft zusteuern, nur dass es nicht mehr staatliche Zentralplaner sind, die Kontrolle über unseren Informationsfluss oder unsere Konsumentscheidungen übernehmen, sondern Algorithmen? Wissen, was gut für mich ist, das nimmt heute nicht mehr die Partei für sich in Anspruch, sondern Amazon oder Google. Das erklärte Ziel der Datengiganten ist es, mehr über mich zu wissen, als ich es selbst tue, und mir damit meine Entscheidungen ab- oder zumindest vorwegzunehmen.

Was bedeutet all das für unseren Freiheitsbegriff? Was bedeutet all das für die Ordnungspolitik? Der Hayek des letzten Jahrhunderts, die Verfassung der Freiheit muss für dieses dritte Millennium, dem digitalen Zeitalter, neu durchdacht, begründet und gesichert werden. Joachim Gauck bringt für diese Debatte immer wieder Impulse, fest verwurzelt in Werten, aber gerade deshalb nie das Neue verachtend.

IV.

Meine Damen und Herren,

Friedrich von Hayek hat seiner „Verfassung der Freiheit“ ein Postskriptum hinzugefügt mit der Überschrift „Warum ich kein Konservativer bin“. Dieses P.S. ist außerordentlich lesenswert. Er sagt darin, mit meinen Worten zusammengefasst: Die so genannten „Progressiven“ schlagen ständig weitere Einschränkungen der persönlichen Freiheit vor. Er leiste Widerstand dagegen. Konservative täten das auch. Darum halte man ihn oft für einen Konservativen. Der Unterschied sei aber folgender: Der Konservative mache die Reise der Progressiven mit, weil er kein anderes Ziel wisse, das er dem jeweiligen linken Zeitgeist entgegensetzen könnte. Er trete während der Fahrt nur nach Kräften auf die Bremse, weil er schnellen Wandel unordentlich und anstrengend finde. Liberale wie Hayek aber wollten in eine ganz andere Richtung vorankommen: Er erstrebe eine Gesellschaft, in der alle möglichst frei ihren eigenen Überzeugungen folgend handeln dürften, aber ohne für ihre Überzeugungen (und wenn sie sie selber auch für noch so wichtig, moralisch und gut hielten) andere in Mithaftung zu nehmen. Dabei bevorzuge er eine Denkungsart, die liberal im alten britischen Sinne sei: offen für neue Ideen, aber konservativ des Wertes der Institutionen bewusst, patriotisch statt nationalistisch, freiheitsliebend und darum mißtrauisch allen sozialistischen Weltbeglückungsplänen gegenüber.

Sie, lieber Herr Gauck, haben sich, wenn man der Zeitschrift „Der Spiegel“ Glauben schenken darf, einmal selbst beschrieben als einen „linken, liberalen Konservativen“. Das ähnelt, so finde ich, durchaus Hayeks Selbstporträt, und Ihr Kampf für die Freiheit zeugt von Ihrer beider Geistes- und Seelenverwandtschaft.

Wir alle freuen uns darüber. Und wir alle sind froh und dankbar, dass Sie dem Thema Freiheit in Ihrer Präsidentschaft neue Priorität und Strahlkraft verliehen haben.

Herzlichen Glückwunsch zum Internationalen Preis der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung!