Interview für die polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“

Verleihung des „Jan Karski Eagle Award 2023“ an Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler in Łódź
9. September 2023



Waldemar Piasecki: With what thoughts do you receive the Jan Karski Eagle Award for building dialogue, understanding and healing wounds in German-Polish and Polish-German relations? You are the first German to receive Karskis Eagle. In the past, he honored Nobel Prize winners: Elie Wiesel, Shimon Peres, Lech Wałęsa, Mikhail Gorbachev. Fighters with Moscow regime and dictatorship: Boris Nemtsov and Alexei Navalny. The Belarusian Center for Human Rights „Spring“ with its leader Ales Bjaljazki. Wołodymyr Zełenski, defending the Ukrainian homeland of against the Russian invasion. Leaders of the Polish democratic opposition: Jacek Kuroń, Karol Modzelewski, Adam Michnik, Tadeusz Mazowiecki, Marek Edelman, Bronisław Geremek, but also one of the architects of the Poland’s political transformation, Aleksander Kwaśniewski. Oppositinist- poet Julian Kornhauser, publicist Leopold Unger, historian and Sovietologist Richard Pipes. Writer Oriana Fallaci. A leader in the fight against defamation, hatred and anti-Semitism, Abraham Foxman. Polish publication Tygodnik Powszechny, the Holocaust Museum in Washington, the Museum of the Ghetto Fighters in Israel, and the Hoover Institute. Charismatic clerygy men: Rabbi Abraham Skórka and Father Ludwik Wiśniewski. A community of Lampedusa saving the migrants from the sea. Long list…
Horst Köhler: Meinen Namen in der langen und beeindruckenden Reihe von Persönlichkeiten zu sehen, die mit dem Jan Karski Eagle Award geehrt wurden, lässt mich demütig werden. Und es berührt mich, dass ich als erster Deutscher einen Preis in Empfang nehmen darf, der den Namen Jan Karskis trägt. Er war ein Held im Widerstand gegen Hitler-Deutschland, der unter Einsatz seines Lebens die Welt auf den Massenmord an den europäischen Juden aufmerksam zu machen suchte. Für mich zeigt diese Ehrung: Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen haben Haltepunkte, die tragen. Für Deutschland ist Polen heute ein starker und unverzichtbarer Partner in Europa. Und dies nicht nur mit Blick auf unsere engen wirtschaftlichen Beziehungen, sondern auch mit Blick auf ein handlungsfähiges Europa, das seine Bürger schützt und ihre Freiheit sichert.
Waldemar Piasecki: Is Jan Karski a special and symbolic figure for Polish-German relations and why?
Horst Köhler: Ja, denn Jan Karskis Schicksal erinnert uns Deutsche an die Abgründe unserer Geschichte und die daraus erwachsene, bis heute währende Verantwortung. Ich verstehe es als Aufforderung an Deutschland, gerade auch mit Polen Aussöhnung und Zusammenarbeit zu suchen.
Waldemar Piasecki: Do you consider yourself, born in 1943 in Skierbieszów in Poland occupied by the Third Reich, the son of German settlers in Romania, displaced from there to Zamość under the Soviet-Nazi pact, as a figure in some sense also symbolic for our mutual relations?
Horst Köhler: Hitler benutzte die sog. „Volksdeutschen“ aus Bessarabien in Rumänien als Instrument seiner verbrecherischen Expansionspolitik in Polen. Und hier läuft meine Lebenslinie direkt mit der Lebenslinie einer polnischen Bauernfamilie zusammen. Diese wurde nämlich von der deutschen SS von ihrem Hof vertrieben, bevor meine Familie in diesen Hof eingewiesen wurde. Besonders das Schicksal der vielen Kinder in der Region, die unter der „Aktion Zamość“ – wie sie die deutschen Besatzer nannten – zu leiden hatten, bedrückt. Als deutsches „Kind von Zamość“ bin ich froh und glücklich, dass Polen und Deutschland heute gleichberechtigte Mitglieder der Europäischen Union sind und darin zusammenstehen, die Ukraine in ihrer Abwehr des russischen Angriffskriegs zu unterstützen.
Waldemar Piasecki: You did a lot to make these relations as good as possible. What do you consider most important?
Horst Köhler: Gegenseitigen Respekt. Und das bedeutet für mich mehr als nur die Achtung dessen, was uns gemeinsam ist, sondern auch die Anerkenntnis von Unterschieden und Eigenheiten. Deutschland hat Stärken und Schwächen. Polen ebenso. Wo es uns gelingt zusammenzuarbeiten, können wir unsere Stärken vereinen und mit Hilfe des Nachbarn eigene Schwächen erkennen und abbauen. Gemeinsam ist uns aufgegeben, Europas Zukunft zu gestalten.
Waldemar Piasecki: Today these relationships are not overly idyllic. Why?
Horst Köhler: Tauchen in einer Beziehung Probleme auf, so ist selten eine Seite allein dafür verantwortlich. Fragt man nach den Gründen für die gegenwärtige Trägheit der deutsch-polnischen und polnisch-deutschen Partnerschaft, so lassen sie sich sowohl in Deutschland als auch in Polen finden. Lassen Sie mich auf mein Land blicken und dabei nicht an Selbstkritik sparen: Polen und die baltischen haben schon lange vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor der Gefahr imperialistischen Expansionsstrebens Russlands gewarnt. Von Berlin aus haben wir die geäußerten Bedenken und Sorgen angesichts unseres Energiehungers, den Russland zu stillen wusste, nicht aufmerksam wahrnehmen wollen. Auf dem Weg zu Gesprächen nach Moskau hätte deutschen Vertretern aus Politik und Wirtschaft eine Zwischenlandung in Warschau gutgetan, um sich auch mit der polnischen Sicht auf Russland vertraut zu machen. Wir hätten viel lernen und teure Fehler vermeiden können.
Waldemar Piasecki: What should happen for them to improve?
Horst Köhler: Wir brauchen mehr Begegnung und Austausch – auf allen Ebenen. Schaue ich nach Deutschland, so stelle ich fest, dass mit Blick auf Polen immer noch viel Wissen fehlt. Es geht um mehr als nur um die Kenntnis von Geschichte in Zahlen und Fakten. Es geht auch um die Wahrnehmung dessen, was den Nachbarn beschäftigt und besorgt, antreibt und motiviert. Es wird höchste Zeit, dass in Deutschland die Planungen für ein Deutsch-Polnisches Haus, einem Ort des Gedenkens, Begegnens und Verstehens, konkrete Gestalt annehmen. An zentraler Stelle in Berlin muss sichtbar werden, dass es uns mit der Erinnerung an die Opfer der deutschen Besatzung Polens während des Zweiten Weltkriegs ernst ist. Zugleich sollen die vielfältigen historischen Verflechtungen unserer beiden Länder deutlich werden.
Wünschen würde ich mir, dass Deutsch-Polnische Regierungskonsultationen, die zuletzt 2018 stattfanden, baldmöglichst wieder aufgenommen würden, um die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen und auch die Zukunft der Europäischen Union zu besprechen.
Der unvergessene Papst Johannes Paul II. sagte einmal, dass es Gottes Wille gewesen sei, der Deutschland und Polen zu Nachbarn gemacht habe. Aus dieser Einsicht erwächst der Auftrag, etwas Gutes aus dieser Nachbarschaft zu machen.
Waldemar Piasecki: The world watches with horror Russia’s aggression against Ukraine. Putin’s sense of impunity led to it. Also as a result of his erroneous calculation that Berlin will not openly oppose Moscow, because the two countries are bound too much economically, and above all in terms of energy. In the end, Putin failed. However, Germany had to account for its naivety towards Russia. Was it painful and how much?
Horst Köhler: Spätestens seit dem Einmarsch Russlands auf der Krim hätte Deutschlands Politik, aber auch die deutsche Wirtschaft ihr Verhältnis zu Russland grundlegend überdenken müssen. Dass dies nicht geschehen ist, war ein folgenschwerer Fehler. So muss in Deutschland jetzt eine neue, bezahlbare und sichere Energieversorgung aufgebaut werden. Doch es geht nicht nur um Wirtschaftsfragen. Deutschland muss sich auch seiner Verantwortung für die europäische Wehrfähigkeit bewusst werden und Führungsstärke beweisen. Diese Erwartung teilen auch unsere Partner in der NATO. Eine echte europäische Verteidigungsunion mit modern ausgestatteten Streitkräften wäre ein wichtiges Bindeglied in der transatlantischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den USA.
Waldemar Piasecki: What role of Germany in contemporary Europe do you see?
Horst Köhler: Als größte Volkswirtschaft und bevölkerungsreichstes Land in der Europäischen Union, und auch aufgrund seiner Geschichte, sollte sich Deutschland nicht länger seiner Führungsverantwortung entziehen. Ich wünsche mir deutsche Vorschläge zur Frage der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union. Und ich hielte es auch für richtig, wenn das sog. „Weimarer Dreieck“, also die Abstimmung zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, ein stärkerer Impulsgeber für die europäische Integrationspolitik würde.
Waldemar Piasecki: What role do you see for Poland?
Horst Köhler: Polen hat im Angesicht des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine große Führungsstärke bewiesen. Selbstbewusst und unmissverständlich hat die polnische Regierung gegenüber den Partnern in der NATO und der Europäischen Union festgestellt, dass es Verletzungen der territorialen Integrität seiner osteuropäischen Nachbarn nicht hinnehmen werde. Ich freue mich über diese Haltung. Sie stärkt die Stimme der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer in der Europäischen Union.
Waldemar Piasecki: Will the European Union survive in its current form? Does it need reforming? Which one?
Horst Köhler: Die russische Aggression gegen die Ukraine ist der letzte Beweis dafür, dass der Weg, die europäischen Nationen zu gemeinsamer Handlungsfähigkeit zu vereinen, richtig ist. Doch es gibt Klärungsbedarf zu Fragen der Zuständigkeit. Bereits 1992 wurde im EU-Vertrag das Subsidiaritätsprinzip verankert. Es besagt, dass die EU nur dann tätig wird, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ (Art. 5, vorher Art. 3b) Ich glaube, dass das Subsidiaritätsprinzip in der Europapolitik zu wenig Beachtung findet. Das schwächt den Zusammenhalt in Europa.
Waldemar Piasecki: Observing the growth of hatred and nationalism on a global scale, one can ask the question: „Has the world learned Karskis lesson?“. Elie Wiesel claimed to the end that the world neither learned this lesson nor understood it at all…
Horst Köhler: Ich glaube, dass die Welt, zumindest für einen Moment, Jan Karskis Lehre folgte. Das war 2015, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung beschloss. Diese Reformagenda hat das Gesamtziel, allen Menschen auf unserem Planeten ein Leben in Würde zu ermöglichen. Tatsächlich wird weltweit an der Umsetzung dieser Agenda gearbeitet. Konflikte und Kriege werden diese Arbeit immer wieder zurück. Wir kennen aber die Wegweiser zur Schaffung einer besseren Welt. Jan Karski würde die Arbeit an der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung nie aufgeben.