Jenseits von Babel: Keine Einheit ohne Vielfalt

Predigt zu Gen 11,1–9 in der Reihe „Im Puls. Fastenpredigten im Dom zu Speyer“
Dom zu Speyer, 14. März 2024



1 Die ganze Erde hatte eine Sprache und ein und dieselben Worte. 2 Als sie ostwärts aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. 3 Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. 4 Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis in den Himmel! So wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. 5 Da stieg der HERR herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, wenn sie es sich zu tun vornehmen. 7 Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. 8 Der HERR zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. 9 Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal, denn dort hat der HERR die Sprache der ganzen Erde verwirrt und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.
(Gen 11,1-9 – Einheitsübersetzung 2016)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! (2Kor 13,13)
Liebe Gemeinde an diesem Abend in der Passionszeit,
es kann durchaus von Vorteil sein, wenn einem nicht alle Türen und Tore offenstehen. So etwa beim Betreten dieses eindrucksvollen Gotteshauses. Sind die beiden Türflügel des bronzenen Hauptportals geöffnet, dann ist nämlich der Blick auf einzelne der 25 Relieftafeln, die es schmücken, versperrt. Und damit auch auf ein Bild, dessen Motiv sich sogar von weniger Bibelfesten gut identifizieren lässt: Es zeigt einen sich korkenzieherähnlich in die Höhe windenden Turm in der Mitte und vier in unterschiedliche Himmelsrichtungen laufende Menschengruppen in jeder Ecke. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel dürfte den meisten hier vertraut sein. Und gerade in der Lesung haben wir noch einmal gehört, wie diese, uns weit vorne in der Bibel begegnende, Geschichte ausgeht:
Das Projekt „Stadt- und Turmbau zu Babel“ wird von Gott jäh gestoppt. Die Schar der Bauleute kann mit ihren technischen Fähigkeiten und ihrem handwerklichen Geschick, mit ihrer eindrucksvollen Teamleistung und ihren meisterhaften Baukünsten bei Gott nicht punkten. Die an einem Ort versammelte Menschheit, die den Himmel zu erstürmen suchte und der dies beinahe zu gelingen schien, weil sie eine Sprache redete und gemeinsam ein Ziel verfolgte, scheitert. Sie wird von Gott in ihrem Streben, höher und weiter zu kommen und sich einen Namen zu machen, mehr als nur gebremst. Im biblischen Text lesen wir: „Der HERR zerstreute sie […] über die ganze Erde und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal, denn dort hat der HERR die Sprache der ganzen Erde verwirrt und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.“ (Gen 11,8-9)
In wenigen Versen versuchen die Verfasser des biblischen Textes hier zu erklären, warum die Menschheit so ist, wie sie sie zu ihrer Zeit vorfanden und wie wir sie bis heute kennen: zerstreut in der Welt, durch unterschiedlichste Sprachen getrennt und leider – auch das stimmt – viel zu häufig verwirrt und uneins.
Mit der Geschichte vom Stadt- und Turmbau zu Babel kommen wir an eine Schwelle im Reigen der Erzählungen zu Beginn der Bibel. Danach hören wir nichts mehr von der großen, geeinten Menschheit. Schon im nächsten Kapitel steht mit Abraham ein Einzelner im Fokus der Geschichte und bald darauf begegnet uns mit Jakob der Stammvater des Volkes Israel. Und dieses Volk Israel war von Beginn an herausgefordert, mit den Irrungen und Wirrungen der Völker und Nationen in seiner Nachbarschaft umzugehen und zu leben.
Wer an die Vielzahl der heute in der Welt tobenden Konflikte denkt, wer die geopolitischen Spannungen unserer Zeit wahrnimmt, kann nicht einfach über diese in der Bibel recht nüchtern ausgesprochene Diagnose der zerstreuten Menschheit hinweggehen. Kritisch möchte man fragen: Musste das sein, guter Gott? Ist nicht die Menge an Sprachen und Nationen immerfort Ursache für Konflikte, für Kriege und Gewalt?
Gerade in Europa haben wir dies jahrhundertelang schmerzlich erfahren müssen. Ganz besonders während der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und in den ihnen vorangehenden, von selbstverliebtem Patriotismus und eiferndem Nationalismus geprägten Jahren, aber auch schon lange zuvor. Von wie viel Hass und Gewalt zwischen Europas Völkern könnten uns allein die Mauern dieses Doms, dessen Grundsteinlegung knapp 1000 Jahre zurückliegt, berichten? Man schaue nur auf das 17. Jahrhundert: Spanische, schwedische, französische und kaiserliche Truppen waren während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) in kurzer zeitlicher Folge als Besatzer in dieser Stadt. Und anschließend sollten nur wenige Jahrzehnte vergehen bis Speyer im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 von den französischen Truppen Ludwigs XIV. niedergebrannt und vollständig zerstört wurde.
Weil Europas Völker keine gemeinsame Sprache fanden, weil man einander nicht verstand oder nicht verstehen wollte, weil man in konfessionellen oder politischen Fragen uneins war, erwuchsen über Jahrhunderte Feindschaften, die sich in bitteren Kriegen entluden und Millionen Menschen das Leben kosteten.
„Der HERR zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde“ – Eine folgenschwere Strafe, ein Fluch, wie mir zunächst scheint. Doch wer den biblischen Text genau liest, der erkennt, dass Gott nicht etwa aus Trotz oder einer üblen Laune heraus den Turmbau stoppte und die Menschheit in alle Himmelsrichtungen zerstreute. Seine Sorge war nicht, dass er eines Tages neben dem mehr und mehr in die Höhe ragenden Turm klein erscheinen könnte. Mit einem Stück Ironie erzählt die Bibel deshalb, dass der HERR herabsteigen musste, um Stadt und Turm zu besehen. Doch wenn es nicht Eifersucht war, die Gott in die Geschicke der Menschheit eingreifen ließ, was war es dann?
Gott erkannte das ungeheure Potenzial, das Menschen entfalten können, wo sie sich zusammentun und er resümierte: „Das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, wenn sie es sich zu tun vornehmen.“ Als Zeitgenossen der Postmoderne können wir dies nur bestätigen: Unsere Spezies scheint doch tatsächlich zu allem fähig. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und dabei denken wir leider nicht nur an die großen Menschheitserfolge, an die beeindruckenden Leistungen auf dem Felde der Wissenschaft und Medizin, an all die Entwicklungen, die echten Fortschritt für die Menschheit bedeuteten. Nein, wir wissen auch darum, wie gefährlich es sein kann, wenn plötzlich alle eins sind und als große Masse in Erscheinung treten. Gerade da zeigt der Mensch nicht selten seine hässlichste Seite und wird zu Unvorstellbarem fähig.
Die Geschichte vom Stadt- und Turmbau zu Babel verstehe ich als eine Warnung: Wo alle eins sind, wo Uniformität regiert, womöglich alle die gleichen Lieder singen und im Gleichschritt marschieren, da gilt es wachsam zu sein, genau hinzuschauen und zu prüfen, wessen Geistes Kind sie sind. Was wollen sie erreichen? Wonach streben sie?
In der Bibel heißt es von den eifrigen Menschen am Beginn der Weltgeschichte, dass sie mit Stadt- und Turmbau beabsichtigten, sich einen Namen zu machen. Es ist genau dieses Ansinnen – sich einen Namen zu machen –, das die geeinte Menschheit zu einer uniformen Masse verwandelt, in der alle ihr Tun einem großen Plan unterwerfen. Die Einzelnen geben ihre eigenen Namen und Identitäten zugunsten eines Kollektivs auf, das sich hinter einem selbst geschaffenen Namen verbirgt. Die gemeinsame Sprache kennt vermutlich weder ein „Ich“ noch ein „Du“. Allein ein starkes „Wir“ ist das, was dort zählt.
Wo eine Gruppe versucht, sich einen Namen zu machen, der sich in der Weltgeschichte nicht selten auf „Nation“ oder „Ideologie“ reimt, da will man sich behaupten, herausheben, eben „ganz oben sein“, einem Gotte gleich werden. Hochmut und Hybris bahnten sich in Babel ihren Weg gen Himmel. Dagegen und nicht etwa gegen den zivilisatorischen Fortschritt richtet sich der entschiedene Widerspruch Gottes.
In unserer Gegenwart, liebe Gemeinde, lassen sich zahlreiche Beispiele von Machtmenschen finden, die sich einen Namen machen wollen und in ihrem Trachten ganze Völker hinter sich scharen. Wir bezeichnen sie gewöhnlich nicht als Turmbauer, obwohl manche von ihnen auch das gerne sind, sondern als Autokraten. Heute gibt es auf der Welt wieder mehr geschlossene Autokratien als liberale Demokratien und 78 Prozent der Weltbevölkerung leben in autokratisch regierten Ländern. Dort, wo die Staatsgewalt unkontrolliert in den Händen eines oder einiger weniger Menschen liegt, wird Gefolgschaft erwartet und Widerstand selten geduldet.
Autokraten locken mit extremen Parolen, vermeintlich einfachen Lösungen für komplexe Probleme und Versprechen von Wohlstand und Sicherheit. Manche Hoffnung, die sie wecken, erfüllen sie auch. Doch in aller Regel zählen der Einzelne und seine Grund- und Bürgerrechte nur wenig in dem System, an dessen Spitze einer oder einige wenige versuchen, sich einen Namen zu machen. Hier wünschen wir uns den deutlichen Widerspruch Gottes, der jene in ihre Grenzen weist, die sich ihren Weg hoch hinaus auf dem Rücken anderer zu bahnen suchen.
Was ist nun geblieben von der Stadt Babel und ihrem Turm? Von einer Ruine erzählt die Bibel. Sie steht zeichenhaft für eine Menschheit, die nur scheinbar eins und auf dem Weg in den Himmel war, vor allem aber versuchte, sich selbst absolut zu setzen. Sollte unter den Trümmern des antiken Babel etwa die Hoffnung auf eine geeinte Menschheit begraben liegen?
Für mich, liebe Gemeinde, hat die Vorstellung von einer Menschheit, die eins ist und gemeinsam Großes leistet, nichts von ihrer Faszination verloren. Doch klar ist: Wo immer Menschen bestehende Grenzen zu überwinden suchen, um gemeinsam voranzugehen und Zukunft zu gestalten, darf dies nicht dazu führen, dass individuelle Prägungen und Unterschiede nivelliert werden, dass wir aufgeben müssen, was jeden und jede von uns einzigartig macht. Uniformität geht schief, Vielfalt hat Zukunft. Das ist für mich die zentrale Botschaft der Turmbauerzählung.
Wir tun gut daran, wenn wir die von Gott gewollte Vielfalt an Sprachen und ebenso die Vielfalt an Völkern, Kulturen, ja: auch Religionen und Konfessionen nicht als Fluch, sondern als Segen begreifen. Denn nicht zuletzt in seiner Vielgestaltigkeit liegt der Reichtum menschlichen Lebens.
Von der Turmbaugeschichte, die sich im ersten Buch Mose an der Schwelle von der Urgeschichte zu den Erzvätererzählungen findet, kehre ich noch einmal zurück zur Schwelle am Eingang dieses Doms. Wer dort einen Augenblick stehen bleibt, wird am Hauptportal nicht nur den Turm zu Babel entdecken, sondern auch noch einen Schriftzug:
„Ut unum sint“ / „Dass sie eins seien“ steht in großen Lettern über der Vielzahl der Reliefs. Jedem Besucher des Dom gilt diese Mahnung: Werdet eins!
Und das war auch die Botschaft, die Helmut Kohl den Staatsgästen, die er in seine pfälzische Heimat entführte und denen er hier in Speyer den Dom zeigte, immer mit auf den Weg geben wollte.
„Dass sie eins seien“, wünschte sich Helmut Kohl nicht nur hinsichtlich des in Konfessionen gespaltenen Christentums, sondern auch mit Blick auf die Deutschen in West und Ost sowie die Völker Europas. Unter seiner Kanzlerschaft wurde die deutsche Einheit Wirklichkeit und die europäische Einigung trieb Helmut Kohl wie kaum ein anderer mit Leidenschaft voran.
Steht aber der Wunsch nach Einheit nicht in Widerspruch zu der gottgewirkten Vielfalt, wie sie uns am Ende der Turmbauerzählung begegnet? Oder können Einheit und Vielfalt zusammengehen?
Dass die europäische Einheit nur eine Einheit in Vielfalt sein kann, die der Anerkennung unterschiedlicher Sprachen, Kulturen, Traditionen und Bräuche in Europa Rechnung trägt, wusste Helmut Kohl nur zu gut. Mehr noch: Er erkannte in der Pluralität und Verschiedenartigkeit der Völker Europas eine „phantastische Chance“ und stellte fest: „Wir wollen keine europäische Einheitsfarbe, wir wollen doch die ganze Buntheit unseres Kontinents. Die Verschiedenheit und nicht die Eintönigkeit muss das Signum Europas sein. Wir gewinnen im politischen Alltag wie im Kulturellen aus dem Spannungsverhältnis zwischen Einheit und lebendiger Vielfalt.“ Und ganz ähnlich hat auch Papst Franziskus vor zehn Jahren bei einer Rede vor dem Europaparlament den Wert der Vielfalt in Europa betont und den Begriff der Einheit geschärft: „Einheit bedeutet nicht politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gedankliche Uniformität. In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann.“
Liebe Gemeinde, die politische Idee und das damit verbundene Ziel einer „Einheit in Vielfalt“ zu beschreiben, ist das eine. Sie zu verwirklichen, ist das andere. Es bedeutet wahrlich eine Meisterleistung, die den Völkern der 27 Mitgliedstaaten immer wieder Kraft und Kompromissbereitschaft abverlangt hat und weiterhin abverlangen wird.
Fast möchte man meinen, dass die Idee des geeinten Europa ein ebenso hoch gestecktes Ziel sei, wie die Spitze des Turms zu Babel. Doch es gibt einen großen Unterschied: Wer am gemeinsamen Haus Europa mitbaut, tut dies nicht in der Absicht, sich einen Namen zu machen und sich über andere zu erheben, sondern um Freiheit und Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu ihrem Schutz und Ansehen zu verhelfen. Wer an Europa mitbaut, sucht nicht das Selbstgespräch, sondern den Dialog und Austausch mit den Menschen, die auf unserem Kontinent leben und ihm in ihrer Vielfalt sein unverwechselbares Gesicht geben. Wer an Europa mitbaut, tut dies nicht im Geist der Gleichmacherei, setzt nicht auf eine alles durchwaltende „Leitkultur“, sondern auf eine – wie es der evangelische Theologe und frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber formulierte – „Kultur der Anerkennung, die auf dem Respekt vor der unantastbaren Würde der menschlichen Person beruht.“
Die in ihrer Struktur auf den Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität gründende Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten können mit Stolz auf das Erreichte blicken. In einer Welt, in der Autokratien auf dem Vormarsch und damit zugleich Freiheit und Demokratie mehr und mehr gefährdet sind, erweist sich Europas Gemeinschaftsprojekt trotz mancher Kritik an der Trägheit seiner Institutionen als ein Erfolgsversprechen gelebter Vielfalt und Diversität.
Für Helmut Kohl und viele seiner politischen Wegbegleiter aus Deutschland und unseren Nachbarländern war die Europäische Einigung immer auch eine Konsequenz aus dem persönlichen Erleben der Kriegsschrecken des 20. Jahrhunderts. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs glaubten viele, dass es zu keinen Kriegen mehr in Europa käme, die die auf dem Kontinent gezogenen Grenzen zu verrücken suchten.
Doch der nun seit über zwei Jahren tobende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, dass Freiheit und Demokratie nicht nur durch Wort und Geist, sondern auch durch Wehrfähigkeit zu verteidigen sind. Auf die russische Aggression hat die Europäische Union bislang nicht mit Angst und Furcht geantwortet, sondern mit Solidarität und gemeinsamen Handeln. Der Ukraine in ihrem Abwehrkampf beizustehen, bleibt auch weiter gefordert. Es ist zu bedauern, dass von hoher französischer und hoher deutscher Seite in dieser Frage zuletzt so unterschiedlich kommuniziert wurde. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein unüberhörbarer Weckruf an die EU-Mitgliedstaaten, jetzt endlich auch eine ernstzunehmende europäische Verteidigungsunion aufzubauen.
Dies tut auch deshalb Not, weil Europa sich darüber klar werden muss, dass die USA künftig – mit oder ohne einen Präsidenten Trump – nicht mehr in dem finanziellen und materiellen Umfang wie in früheren Jahren für die Sicherheit Europas aufkommen werden.
Liebe Gemeinde, die alttestamentliche Geschichte von der babylonischen Sprachverwirrung findet in der Erzählung vom Pfingstwunder zu Jerusalem (Apg 2) ein literarisches Gegenstück im Neuen Testament: Dort ist es der Heilige Geist, der wie ein Sturm vom Himmel fährt und bewirkt, dass Menschen unterschiedlicher Sprache und Nation einander plötzlich verstehen. Auch hier gibt es kein Zurück zu der Welt vor Babel. Die Vielfalt der Sprachen wird nicht aufgehoben, aber sie verliert durch Gottes Wirken ihren trennenden Charakter.
Einen guten Geist der Verständigung brauchen wir überall dort, wo Repräsentanten unterschiedlicher Kultur- und Religionszugehörigkeit institutionell aufeinandertreffen. Das sind weltumspannend vor allem die Vereinten Nationen. Und tatsächlich begegnen wir dort zwischen unterschiedlichen Sprachen und politischen Vorstellungen von Entwicklung und gesellschaftlichem Zusammenleben doch immer wieder auch Ideen, Werten und Maßgaben, die der Menschheit gemein sind. Hans Küng hat durch seine religionswissenschaftliche Forschung gezeigt, dass die sogenannte Goldene Regel („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“) in allen großen Weltreligionen zu finden ist. Ein solches „Weltethos“ liegt letztlich auch der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu Grunde. Sie wurde 2015 in New York von den Staats- und Regierungschefs der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen – übrigens auch mit der Stimme Russlands – beschlossen und formuliert als „Globale Partnerschaft“ ein Narrativ der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Nutzen und zum Wohle aller Nationen. Für mich bleiben die Agenda 2030 und der Klimabeschluss von Paris der maßgebliche Rahmen und das Angebot für eine gedeihliche Kooperation aller Völker unserer Welt.
Der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, sagte 1954: „Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten.“ – Wie recht er doch hatte. Wo globale Partnerschaft Wirklichkeit wird, baut die Menschheit keinen neuen Turm zu Babel. Sie erklimmt dort nicht den Himmel. Aber die Völker der Welt kommen ihm ein gutes Stück näher, wo sie erkennen, dass sie aufeinander angewiesen sind, füreinander da sein können und miteinander Verantwortung tragen für die Zukunft des Planeten und seiner künftigen Generationen.
Präsident Putin möchte ich von diesem Gotteshaus zurufen: Gehen Sie nicht weiter auf dem eingeschlagenen Weg! Hören Sie die zum Himmel schreiende Stimme des vergossenen Blutes, auch aus Ihrem Volk! Öffnen Sie sich für Gespräche für eine Friedenslösung nach geltendem Völkerrecht! Werden Sie Ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen gerecht!
Liebe Gemeinde, als Christinnen und Christen folgen wir in der Passionszeit den Spuren Jesu. Sein Weg endete nicht auf Golgatha, sondern führte durch den Tod hindurch zu ewigem Leben. Auf diesem Weg gibt es manche Schwelle. Wer klug ist, stolpert nicht einfach darüber, sondern wählt seine Schritte mit Bedacht. Sie erinnern sich: Manchmal ist es gut, wenn nicht alle Türen und Tore offenstehen. Zeit stehen zu bleiben und sich zu fragen: Wohin wollen wir? Welches Ziel streben wir an? Und nach einem Moment des Innehaltens geht es weiter. Auf, lasst uns gemeinsam, geeint in Vielfalt und Verschiedenheit, die richtigen Schritte gehen und darauf vertrauen: Unser Gott geht mit uns.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.