Jenseits von Vorurteilen und Stereotypen

Verleihung Karl-Wilhelm-Fricke-Preis der Bundesstiftung Aufarbeitung
Berlin, 15. Juni 2023



Preise und Auszeichnungen dienen nicht allein der Ehrung verdienter Persönlichkeiten und ihrer Werke. Sie wollen auch Aufmerksamkeit schaffen. Nicht selten ist es erst der Preis, der den Blick einer breiteren Öffentlichkeit auf die Ausgezeichneten, ihr Werk und ihre Themen lenkt.
Vor jeder Preisverleihung aber will das Interesse einer Jury gewonnen werden. Gerade in der Kategorie „Nachwuchspreis“ ist dies alles andere als trivial: Wie schafft man es als junger Mensch mit frischen Ideen und neuen Themen in unserer so wort- und bildreichen Medienwelt durchzudringen, Gehör zu finden?
Man frage Minh Thu Tran und Vanessa Vu. Den beiden jungen Journalistinnen ist es mit ihrem Podcast „Rice and Shine“ gelungen, Lebensentwürfe, Träume und Sehnsüchte, Sorgen und Ängste, Geschichten und Wege, ganz Alltägliches und ebenso Besonderes von Menschen hör- und sichtbar werden zu lassen, die in Deutschland häufig als still und unsichtbar gelten.
Dabei sind die schätzungsweise über 200.000 Menschen in unserem Land mit vietnamesischem Migrationshintergrund im weiteren Sinne keine marginale Gruppe. Sie tragen positiv zur gesellschaftlichen Vielfalt in unserem Land bei. Die vietdeutsche Gemeinschaft gehört zu Deutschland – und zwar in West wie Ost.
Die Geschichten der Migration aus Vietnam nach Deutschland sind Teil der Geschichte des Kalten Krieges und der gesellschaftlichen Realitäten in den ehemaligen beiden deutschen Staaten: Während in Westdeutschland nach dem Ende des Vietnam-Krieges 1975 bis etwa Mitte der 1980er Jahre zehntausende „Boat People“ ankamen, erreichten die DDR zwischen 1980 und 1989 ebenfalls mehrere zehntausend Vietnamesinnen und Vietnamesen. Anders als die „Boat People“ in Westdeutschland wurden sie auf Grundlage von Vertragsabkommen zwischen den sozialistischen „Bruderstaaten“ angeworben – mit dem Ziel den Arbeitskräftemangel in der DDR abzumildern. In Fluchtmigration in die Bundesrepublik einerseits und in Arbeitsmigration in die DDR andererseits liegen die Ursprünge vietnamesischer Einwanderung nach Deutschland.
Viele der vietnamesischen Einwanderer aus den 1970er und 1980er Jahren sind geblieben, auch wenn das Bleiben oft schwer fiel. Viele von ihnen haben längst schon hierzulande eine Heimat gefunden und besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie bezeichnen sich heute als Vietdeutsche, vietnamesische Deutsche, Deutsch-Vietnamesen oder auch als „Vossis“ (Viet-Ossis). Schon die Vielfalt dieser Selbstbezeichnungen verrät, dass ihre Biographien und das, was sie ausmacht, ganz unterschiedlich zu sein vermag. Der Dreiklang „Blumenladen – Asia-Imbiss – Nagelstudio“ wird der Breite vietdeutschen Lebens nicht gerecht. Das kann sich jeder denken, aber seien wir ehrlich: Was wissen wir, „Biodeutsche“, denn von unseren Nachbarn, den Vietdeutschen? Und was wissen Vietdeutsche voneinander?
Eine der großen Stärken des Podcasts „Rice and Shine” liegt darin, dass er die vietdeutsche Gemeinschaft genauso anzusprechen vermag, wie die Zuhörerinnen und Zuhörer ganz ohne vietnamesische Bezüge. Minh Thu Tran und Vanessa Vu, die beide als Kinder vietnamesischer Vertragsarbeiter Anfang der 1990er Jahre geboren wurden, beide in Süddeutschland aufwuchsen und sich als Studentinnen an der Deutschen Journalistenschule in München kennenlernten, treibt neben journalistischer Neugierde auch das ganz persönliche Bedürfnis, verstehen zu wollen, wie sie aufgewachsen sind, was sie prägte, herausforderte, beängstigte und ermutigte; verstehen zu wollen, wer sie jenseits gängiger Stereotype und Vorurteile sind und sein wollen.
Ich vermag nicht zu beurteilen, ob Sie, liebe Frau Tran, liebe Frau Vu, die Antworten auf all die Fragen, die Sie zu Ihrem Podcast motivierten, gefunden haben. Aber ich bin mir sicher: In den fünf Jahren seit dem Start der Podcastreihe „Rice and Shine“ im Februar 2018 bis hin zur letzten Folge im Frühjahr dieses Jahres haben Sie viele Fragezeichen auflösen können und – was besonders schön ist – Sie haben Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer an den Prozessen des Suchens und Findens Anteil haben lassen. Jeden Monat neu, eine halbe Stunde lang. Erfreulich ungezwungen, offen, freundlich und humorvoll führten Sie durch Ihr Programm. So konnte man Ihnen zuhören, wenn Sie beide einander beim Verstehen vietdeutscher Identität auf die Sprünge halfen. Doch nicht nur Sie beide waren zu hören: Es kamen auch zahlreiche Gäste zu Wort, die mit ihren je eigenen Worten und Stimmen dem Podcast zu einer wunderbaren Polyphonie verhalfen. Daneben wuchs eine rasch wachsende Anzahl von Zuhörerinnen und Zuhörern mit ihren Kommentaren im Netz und auf SocialMedia-Kanälen zu einem vielstimmigen Chor der vietdeutschen Gemeinschaft.
Ganz ohne erhobenen Zeigefinger und frei vom Duktus besserwisserischen Dozierens widmeten sich Minh Thu Tran und Vanessa Vu in ihrem Podcast einer breiten und bunten Palette an Themen: Mal ging es um „Yellowfacing“, mal um „Bubble Tea“, mal um die Viets im Osten (auch „Vossis“ genannt). – Wer nun nicht weiß, was „Yellowfacing“ bedeutet oder wer den Trend der „Bubble Teas“ Anfang der 2010er Jahre verschlafen hat, dem sei empfohlen, was allen im Saal ans Herz gelegt sei: Einfach mal reinhören in den Podcast „Rice and Shine“!
So durchgängig leicht der Ton der Podcast-Reihe auch ist, spart sie doch nicht an schweren Themen. Zu den Geschichten, die im Podcast erzählt werden, gehört auch das Schicksal von Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, zwei jungen Männern, die nach einem Brandanschlag auf ihre Flüchtlingsunterkunft in der Hamburger Halskestraße am 22. August 1980 ums Leben kamen. Ein im gesellschaftlichen Bewusstsein fast vergessenes Schicksal, das neu zu erzählen lohnt und das zu erinnern einen ganz eigenen Wert hat.
Denn Rassismus begleitet leider bis heute das Leben der vietdeutschen Gemeinschaft –immer wieder in Form von spöttischen Bemerkungen oder Beschimpfungen im Alltag. Und mit Scham erinnern wir uns an den Lynchmob von Neonazis, der 1992 vor einem Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen wütete. Das durch Molotowcocktails in Brand geratene Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee wurde zum Sinnbild für Fremdenhass im wiedervereinigten Deutschland. Erschütternde Bilder gingen damals um die Welt und ließen an der Sehnsucht der Deutschen nach Freiheit und Menschenwürde, für die die Friedliche Revolution 1989 stand, ernsthaft zweifeln.
Es gehört zur historischen Wahrheit, dass das Schicksal der etwa 60.000 vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die im Wendejahr 1989 in der DDR lebten, im vereinten Deutschland seitens der Politik erst sehr spät Aufmerksamkeit erfuhr.
Für sie verband sich mit dem Fall der Mauer große Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Viele von ihnen verloren ihre Arbeit und damit auch ihren Wohnheimplatz, manche wurden zur Ausreise gedrängt. Und wer blieb, kämpfte über Jahre um das Recht, bleiben zu dürfen. Erst 1997 ebnete die Bundesregierung den Weg zu einer Neuregelung des Bleiberechts für die ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die den Betroffenen und ihren Familien eine dauerhafte Perspektive in Deutschland bot.
Zur Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur sowie des Einigungsprozesses gehört auch das Erinnern des Schicksals der Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter in der DDR – ganz gleich, ob sie nun aus Algerien, Angola, China, Kuba, Mosambik oder aber Vietnam kamen. Der Podcast „Rice and Shine“ soll uns ein Weckruf sein, dass auf diesem Feld der Aufarbeitung noch viel zu tun ist.
Die Lebensgeschichten und -leistungen der ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter in der DDR sollen erzählt werden, sollen gehört werden, sollen gewürdigt werden. Sie sind ein wichtiger Teil ostdeutscher, ja gesamtdeutscher Transformationsgeschichte. Die deutsche Wiedervereinigung brachte nicht nur für Deutsche in West und Ost eine Wende, sondern auch für die Menschen mit Migrationshintergrund, die dies- und jenseits der Mauer lebten.
Von Paul Klee stammt der Satz: „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ – Liebe Frau Tran, liebe Frau Vu, Sie haben mit Ihrem Podcast eine Kunst vollbracht. Nicht etwa, indem Sie vermeintlich Unsichtbares sichtbar machten, sondern indem Sie zeigten, wie bunt, wie lebendig, wie eindrucksvoll die Stimmen aus der vietdeutschen Bevölkerung sind und wie sehr es lohnt, diese Stimmen mit ihren Geschichten und Erfahrungen zu hören. Deshalb freue ich mich auch, dass wir heute hier zusammen sind.
Liebe Frau Tran, liebe Frau Vu, ich gratuliere Ihnen herzlich zum Nachwuchspreis des Karl-Wilhelm-Fricke-Preises 2023 der Bundesstiftung Aufarbeitung!