Lernen in der Großen Transformation

20 Jahre Ökomodell Achental
Grassau, 29. Mai 2019



I.

Ich freue mich sehr, dass ich heute Abend mit Ihnen allen den Geburtstag des Ökomodells Achental feiern darf. 20 Jahre sind ein spannendes Alter, denn man hat das Gefühl: wir haben schon viel geschafft, aber das Beste kommt noch. Die Vergangenheit ist gleichzeitig jung genug, um sich noch gut zu erinnern. Viele von Ihnen waren von Anfang an dabei. Ihnen allen ist, neben dem Blick zurück und dem nach vorne, danke zu sagen: Danke, weil es ohne den hohen Einsatz von vielen von Ihnen nicht zu diesem 20jährigen Jubiläum gekommen wäre. Und Ihr Engagement ist alles andere als selbstverständlich. Darauf komme ich noch zurück.

Das Ökomodell Achental ist in diesem Jubiläumsjahr 2019 in guter Gesellschaft. Vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci, einer der berühmtesten Universalgelehrten, der seiner Zeit weit voraus war und die Gesetze sowohl von Natur als auch Gemeinschaft verstehen wollte. Vor 500 Jahren machte sich Magellan auf den Weg, zum ersten Mal die Welt zu umsegeln und fand sie zugleich endlich als auch unendlich. Vor 250 Jahren wurde Alexander von Humboldt geboren, ein bedeutender Naturforscher, der schon damals die globale Kraft der Natur erkannte und uns lehrte, dass die Erde ein Organismus ist. Es jähren sich auch die Geburtsstunden wichtiger politischer Errungenschaften, die heute die Grundpfeiler unserer Demokratie sind. Wir feiern in diesem Jahr unter anderem 100 Jahre Frauenwahlrecht und 70 Jahre Grundgesetz.

Spannenderweise kreisen all diese Jubiläen – inklusive das unsere – um zwei zentrale Fragen: Wie ist unser Verhältnis zur Natur? Und wie ist unser Verhältnis zueinander, zur Gesellschaft? Die Beziehung zwischen dem Ökologischen und dem Sozialen, oder sagen wir: die Spannung zwischen der Welt, wie der Mensch sie vorfindet und der Welt, wie der Mensch sie gestaltet, sie hat die Menschheitsgeschichte schon immer geprägt. Diese Spannung hat aber heute ein Ausmaß erreicht, das die Natur und auch unser Zusammenleben radikal verändert. Geologen sprechen seit einigen Jahren von einer neuen geochronologischen Epoche, in der sich der Planet Erde befindet: dem Anthropozän, also ein Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Das wiederum, so dämmert uns erst langsam, hat auch enorme politische und gesellschaftliche Auswirkungen.

Wenn wir auf die Vielzahl der globalen Krisen sehen, mit der wir in diesen Jahren zu kämpfen hatten und haben – der Klimakrise, der Migrationskrise, der Finanzkrise, der, ja, Demokratiekrise, die sich etwa in der Wahl von Donald Trump ausdrückt – dann ahnen wir, dass dies keine voneinander unabhängigen Ereignisse sind, sondern dass sich viele grundlegende Dinge gerade in einem weltumspannenden Zusammenhang verändern.

Jetzt mag sich der ein oder andere denken: „Das Ökomodell Achental feiert Jubiläum, und der Köhler kommt uns mit weltumspannenden Zusammenhängen!“. Ich glaube tatsächlich, dass das eine viel mit dem anderen zu tun hat. Wie mir berichtet wurde, haben globale Zusammenhänge schon bei der Gründung des Ökomodells eine Rolle gespielt. Nur wenige Jahre zuvor, im Jahr 1992, hatte die internationale Staatengemeinschaft auf dem Weltgipfel in Rio de Janeiro Umweltschutz erstmalig im globalen Rahmen diskutiert, und darüber hinaus auch ökologische mit sozialen Fragen verknüpft. Das Ökomodell Achental steht in der Linie dieser Zielsetzung.

Die globalen Zusammenhänge sind heute, im 21. Jahrhundert, noch viel drängender geworden. Wenn es das Ökomodell Achental also nicht schon längst gäbe – spätestens jetzt müsste man es erfinden. Und ich will sogar das sagen: ich glaube, dass die Erfahrungen hier aus dem Achental wertvoll sind auch für den Lernprozess der Großen Transformation, wie er der ganzen Welt unweigerlich bevorsteht.

Aber eins nach dem anderen. Fangen wir an: mit dem Anfang.

II.

Am Anfang war der Irlacher. Ich glaube, ich tue niemandem Unrecht, wenn ich sage, dass es ohne den Mut und die Überzeugungskraft von Fritz Irlacher das Ökomodell Achental nicht gäbe. Für den damaligen Bürgermeister von Schleching war die Natur nicht einfach eine Ressource, die wir nutzen und verbrauchen. Er hatte, wie ich es sehe, die in der Präambel unseres Grundgesetzes postulierte „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ verinnerlicht und verstand die Natur als ein wahres Wunder; unseren Lebensraum, den es zu respektieren und zu schützen gilt. Und an Warnzeichen für die Gefährdung dieses Lebensraums mangelte es schon in den 90er Jahren nicht: Die Gemeinden in der Region bekamen die globalen Fliehkräfte deutlich zu spüren. Die schleichende Klimaerwärmung hatte damals schon begonnen, den Schnee zu verdrängen und der Ski-Tourismus musste eingeschränkt werden. Die Globalisierung führte auch hier zu einem Strukturwandel, der zum Beispiel gekennzeichnet war durch das Höfesterben.

Da fügte es sich glücklich, dass Fritz Irlacher in den Bürgermeistern der Nachbargemeinden Mitstreiter fand. Und sie stellten sich, klugerweise, alle zusammen zunächst Fragen: wie können wir, wie wollen wir hier in Zukunft leben? Wie können wir gleichzeitig unseren lokalen Wohlstand und unsere Natur schützen? Lassen sich Landwirtschaft und Tourismus besser verbinden? Und jedes kluge Projekt in der Politik beginnt mit Fragen.

Auf der Suche nach Antworten entwickelten die acht Bürgermeister eine Idee für das Achental. Sie tauften diese Idee interessanterweise „Ökomodell Achental“. Ich bin mir nicht sicher, welcher Teil dieses Namens mehr Selbstbewusstsein verriet: der Anspruch, ein „Modell“ zu sein, oder der mutige Gebrauch des Wortes „Öko“, was ja damals, wenn ich das so sagen darf, in Bayern fast ein Schimpfwort war. Und ich kann mir gut vorstellen, dass die Idee dieses Ökomodells am Anfang durchaus auch belächelt wurde: „Was bringt denn das?“, mögen sich einige gefragt haben.

Heute steht der Verein „Ökomodell Achental“ auf festen Beinen. Ihm haben sich mittlerweile weitere Gemeinden angeschlossen und es hat sich gezeigt, dass auch das Konzept richtig war, die österreichischen Gemeinden Kössen, Schwendt und Kirchdorf von Anfang an einzubeziehen. Die Arbeitsschwerpunkte Naturschutz, Landwirtschaft, Tourismus und Energie sind weiterhin richtig gewählt. Heute können wir feststellen, dass das Achental viele der Herausforderungen gut gemeistert hat – und vor allem gut aufgestellt ist, die neuen Fragen der Zukunft anzugehen. Belächelt wird hier nix mehr. Ganz im Gegenteil: Im Jahr 2014 wurde das Ökomodell Achental im Rahmen des bundesweiten Wettbewerbs „Land der Ideen“ ausgezeichnet – das freut mich nicht zuletzt deshalb, weil ich diesen Wettbewerb als Bundespräsident angeregt hatte.

Ich möchte noch einmal meinen Respekt und meinen Dank zum Ausdruck bringen all denen, die in den vergangenen 20 Jahren an der Erfolgsgeschichte des Ökomodells Achental mitgearbeitet haben. Und erlauben Sie mir, stellvertretend für alle, den ersten geschäftsführenden Vorstand von 1999 auch namentlich zu nennen: Danke, Fritz Irlacher. Danke, Raimund Schupfner. Danke, Hans Haslreiter.

Im letzten Sommer habe ich übrigens den Irlacher Fritz zufällig bei einer Radtour im Achental wieder getroffen. Anders als ich es gewohnt bin, übersprang er höfliche Floskeln und Geplauder, um mir geradeheraus und voller Begeisterung davon zu berichten, dass er nach so vielen Jahren in einer Sumpfwiese eine seltene Orchideenart wiederentdeckt hat, die er schon ausgestorben geglaubt hatte. Ich habe mich gefreut zu sehen, dass seine Ehrfurcht vor der Natur des Achentals ungebrochen ist – und sein Enthusiasmus auch nicht. Dieser Enthusiasmus, dieser Geist, der seit der Gründung des Ökomodells wehte, er ist auch heute noch da. Davon konnte ich mich erst vor wenigen Wochen in einem Gespräch mit dem neuen ersten Vorsitzenden des Vereins, Herrn Bürgermeister Schneider, und dem Geschäftsführer, Herrn Wimmer, selbst überzeugen. Vor allem habe ich da gemerkt: die Bereitschaft, sich mit den großen Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen und damit, wie ganz konkret im Achental darauf reagiert werden kann, sie ist immer noch frisch.

Schauen wir sie uns also einmal an, die großen Fragen der Gegenwart. Lenken wir unseren Blick vom schönen Achental auf die große weite Welt.

III.

Meine Damen und Herren,

Im Jahr der Gründung des Ökomodells, am 12. Oktober 1999, wurde im Kosovo der kleine Adnan Nevic geboren. Er war der 6 Milliardste Mensch auf der Erde. Heute, nur 20 Jahre später, leben auf unserem Planeten schon über sieben Milliarden Menschen. Im Jahr 2050 werden es zehn Milliarden sein. Ich werde das nicht mehr erleben, aber unsere Kinder und Enkel schon. Während Europa mit heute etwa einer halben Milliarde Einwohner eher schrumpfen wird, werden allein auf unserem Nachbarkontinent Afrika dann über zweieinhalb Milliarden Menschen leben – doppelt so viel wie heute, und damit doppelt so viele, eine Milliarde mehr, die Nahrung, Ausbildung, Arbeit, Perspektiven brauchen. Aber schon heute haben 750 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser; schon heute sterben fast 30.000 Kinder unter 5 Jahren täglich, die allermeisten an vermeidbaren Krankheiten. Gleichzeitig klafft die globale Schere zwischen den extrem Armen und den extrem Reichen immer weiter auseinander. Die reichsten 26 (26!) Menschen dieser Erde, so hat es zumindest die Entwicklungsorganisation Oxfam berechnet, besaßen 2018 genauso viel Vermögen wie die ärmste Hälfte (50%!) der gesamten Weltbevölkerung. Kann irgendjemand glauben, dass eine solche Entwicklung Bestand haben kann? Wenn wir es heute schon nicht schaffen, trotz nie zuvor dagewesenen Reichtums, allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen, wie sollen da 10 Milliarden Menschen versorgt werden?

Die Aufgabe liegt auf der Hand: die armen Länder brauchen massives Wirtschaftswachstum, sodass dort mehr Straßen, mehr Schulen, mehr Krankenhäuser, mehr Kraftwerke gebaut werden, sodass moderne Wirtschaftsstrukturen und Wertschöpfung und damit Arbeitsplätze entstehen, die den Menschen ein Einkommen ermöglichen.

Diese Antwort hat aber einen Haken, einen gewaltigen Haken.

Denn von welchen natürlichen Grundlagen soll sich dieses massiv benötigte Wachstum eigentlich nähren? Das Wirtschaftsmodell bei uns, in den reichen Ländern, das uns ein historisch nie da gewesenes Niveau an Wohlstand beschert hat, geht zurzeit damit einher, dass es sich mehr nimmt, als ihm zusteht. 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent der Ressourcen. Ein Zahlenbeispiel hierzu: Momentan verursacht jeder Deutsche durchschnittlich 9 Tonnen CO2-Emissionen, im Jahr, jeder Inder 1,5 Tonnen, jeder Afrikaner 0,3. Übrigens trägt allein der globale Fleischkonsum zu mehr Treibhausgasen bei als der weltweite Verkehr mit Autos, Eisenbahnen, Schiffen und Flugzeugen zusammen. Wenn aber die Inder unseren Verbrauch an Schnitzeln und an Flugreisen hätten, dann stünde die Erde vor dem Kollaps. Wenn alle Menschen so konsumieren und produzieren würden wie wir in den Industrieländern, dann bräuchten wir mehrere Planeten in Reserve. Die haben wir aber nicht. Die bittere Wahrheit ist, dass wir unseren Wohlstand auf Pump aufgebaut haben – und wir sind eben nicht nur in ökonomischer, sondern auch in ökologischer Sicht hochverschuldet.

In vielen Ökosystemen nähern wir uns gefährlichen Kipppunkten, die, einmal erreicht, unumkehrbare und kaum mehr kontrollierbare Folgen haben werden. Unsere Biosphäre ist eben nicht wie die Zimmerpflanze im Wohnzimmer, von der man sich einfach eine neue kaufen kann, wenn sie eingeht. Die UN hat Modellrechnungen erstellt, nach denen es in den nächsten 3 Jahrzehnten bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlinge geben könnte, die wegen Dürren und Überschwemmungen ihre Heimat verlassen müssen, wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen. Wohlgemerkt, das wäre keine biblische Plage, sondern das Ergebnis des menschengemachten Klimawandels!

Ich wiederhole also die Frage: Von welchen natürlichen Grundlagen soll sich das in den armen Ländern benötigte massive Wachstum eigentlich nähren? Wie soll angesichts der ökologischen Grenzen unseres Planeten und einer wachsenden Weltbevölkerung die extreme Armut bekämpft werden? Ist das nicht eine Quadratur des Kreises?

Die Antwort ist: wir brauchen eine neue Große Transformation des Lebens und des Wirtschaftens auf unserem Planeten Erde, deren Ausgangspunkt die Tatsache ist, dass die Menschheit in einer gemeinsamen Biosphäre lebt, und dass die natürlichen Ressourcen des Planeten begrenzt sind. Eine grundlegende Transformation, wie es der Wandel von der Agrar- zu der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert gewesen ist. Dazu gehört zwingend, dass wir unsere Wirtschaft von der Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, vor allem vom Öl, lösen, und einen Weg finden, die Emission von Treibhausgasen weitgehend zu beenden. Wir müssen die vorhandenen Ressourcen viel effizienter einsetzen. Unsere Produktions- und Konsummuster müssen sich ändern, wie wir Energie produzieren, wie wir unser Land bewirtschaften, uns ernähren, uns fortbewegen. Das alles zu schaffen braucht dabei mehr – und nicht weniger – internationale Zusammenarbeit. Die Große Transformation, das ist die Menschheitsaufgabe des 21. Jahrhundert, und von ihrem Gelingen wird abhängen, ob unsere Enkelkinder eine gute Zukunft haben werden.

Im Jahr 2015 hat die internationale Staatengemeinschaft zwei große Beschlüsse gefasst, die den Rahmen für eine solche Transformation beschreiben: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und das Klimaabkommen von Paris. Kernstück der Agenda 2030 sind 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung: da geht es um die Bekämpfung der extremen Armut in der Welt ebenso wie um den Schutz der Ozeane, um Bildung und lebenslanges Lernen, um die Nachhaltigkeit von Produktion und Konsum im Wirtschaftsprozess. Alles hängt miteinander zusammen, und die Marschrichtung ist klar! Beide Beschlüsse, die Agenda 2030 und der Klimavertrag, geben Orientierung in dieser von Angst und Besitzstandsdenken bestimmten Zeit. Sie benennen Veränderungsbedarf in den Entwicklungsländern wie in den Industrieländern. Also auch bei uns.

IV.

Meine Damen und Herren,

Ich glaube, dass es eine politische, wirtschaftliche und ökologische Realität gibt, der wir nicht mehr entkommen können, nämlich die unwiderrufliche Interdependenz allen Geschehens auf diesem Planeten. Diese Interdependenz, also gegenseitige Abhängigkeit, bekommen wir zu spüren bei den Umweltkatastrophen, die sich durch die globale Erwärmung mehren, bei Ebola, bei Finanzkrisen, beim Terrorismus, und in fast überwältigender Konkretheit bei der Flüchtlingskrise. All das sind Dinge, die an Ländergrenzen nicht Halt machen; Herausforderungen, die sich national nicht lösen lassen. Damit ist auch die Bekämpfung der extremen Armut in der Welt oder die Frage, welchen Entwicklungspfad die Inder oder die Chinesen oder die Afrikaner nehmen in unserem ureigenen, direkten Interesse. Jürgen Habermas hat die Welt in diesem Sinne einmal als „unfreiwillige Risikogemeinschaft“ bezeichnet. Ich sage, etwas platter: Wir sitzen alle in einem Boot. Ob es den Herren passt oder nicht: Auch Donald Trump wird keine Mauer gegen den Klimawandel bauen können und auch Vladimir Putin oder Recip Erdogan werden mit dem autoritärsten Staat keine Pandemien verhindern können, und auch wir Europäer brauchen doch nicht zu glauben, dass wir eine gute Zukunft Europas haben können, ohne auch an die Zukunft unseres Nachbarn Afrikas zu denken, auf dem, ich wiederhole mich, in 30 Jahren zweieinhalb Milliarden Menschen leben werden, zwei Drittel davon junge Menschen unter 25.

Genau so, wie unser Handeln Auswirkungen auf die anderen hat, hat das Handeln der anderen Auswirkungen auf uns. Eine Banalität, vielleicht – klar hängt irgendwie alles mit allem zusammen –, aber können wir von unserer Politik wirklich behaupten, sie hätte diese Realität der globalen Interdependenz schon in ausreichendem Maß zum Ausgangspunkt, zur rahmengebenden Qualität ihrer Zielsetzungen und Entscheidungsprozesse gemacht?

Was daraus folgt, ist doch: Kein Land der Welt, so reich und mächtig es auch sein mag, kann seinen Wohlstand auf Dauer erhalten, ohne die Perspektiven der anderen Länder zu berücksichtigen. Ein Wohlstandsmodell, das von vornherein darauf angelegt ist, nur einem kleinen privilegierten Teil der Weltbevölkerung Wohlstand zu bringen, ist also nicht nur moralisch untragbar, sondern auch ökonomisch, ökologisch und politisch langfristig zum Scheitern verurteilt.

Und damit sind wir eigentlich auch schon wieder hier im Achental. Denn die Tatsache, dass unser Handeln globale Auswirkungen hat, die gilt natürlich nicht nur für ganze Länder, sondern auch für jeden einzelnen von uns, für jede Kommune und für jede Region. Und die Tatsache, dass unser westliches Wohlstandsmodell nach dem derzeitigen Strickmuster auf Dauer nicht tragbar ist, zeigt eben, dass auch der Wohlstand hier in der Region in der langen Frist auf andere Füße gestellt werden muss. Schon beim Aufbau des Ökomodells haben die Gründungsväter verstanden, vielleicht früher als viele andere: wir sind hier keine Parallelwelt im Chiemgau, kein vom Rest des Globus abgesondertes Paradies, sondern wir sind Teil dieser Welt, im Guten wie im Schlechten, wir bekommen die Folgen zu spüren, und unsere Entscheidungen beeinflussen das große Ganze. Deshalb müssen wir mit Kreativität und Zukunftslust dazu beitragen, diese Welt zu verändern, beitragen eben zu der unumgänglichen Großen Transformation.

V.

Das Ökomodell Achental weist für unsere Region einen Weg dahin. Und gerade weil die Probleme des Achentals verschränkt sind mit denen der Welt, können auch seine Lösungen gute Anschauung für andere sein. Ich bin ja nun kein Experte für die Geschichte des Ökomodells Achental, und ich brauche gerade Ihnen allen nicht zu erzählen, was Sie alles geleistet haben. Aber beim Lesen über Ihre Arbeit und den Gesprächen mit einigen von Ihnen sind mir doch manche Dinge aufgefallen – nennen wir sie ruhig „Lektionen“, die man aus der Erfahrung vom Achental für die Große Transformation ziehen kann. Ich sehe vier an der Zahl.

  1. Die Große Transformation ist ein Lernprozess.

„Große Transformation“, „Agenda 2030“, „Nachhaltige Entwicklungsziele“ – das kann sich manchmal ein bisschen danach anhören, als gäbe es einen großen globalen Masterplan, dem nur alle folgen müssen, und alles wird gut. Die Wahrheit ist aber: Wir kennen zwar die Richtung, wir haben einen Kompass, einen Rahmen, aber wir haben noch längst nicht alle Antworten. Wir müssen ausprobieren und verwerfen, experimentieren und scheitern, weitermachen und neu beginnen. Kurz eben: Lernen. Wie funktioniert die Mobilität der Zukunft im ländlichen Raum? Wie kann eine nachhaltige regionale Energieversorgung aufgebaut werden, die gleichzeitig ökonomisch, ökologisch und landschaftsbildlich sinnvoll ist? Da liegen keine fertigen Konzepte in der Schublade. Ein Einheitsrezept für alles und alle wäre allemal falsch. Letztlich muss immer vor Ort herausgefunden werden, welcher Weg der stimmigste ist. In diesem Sinne ist das Ökomodell Achental eben auch ein Labor der Transformation. Auch hier hat nicht alles auf Anhieb funktioniert. Die Idee von Fließwasserkraftwerken entlang der Ache beispielsweise musste wieder begraben werden. Dafür liefert jetzt der Biomassehof wertvolle Erfahrungen.

Die Transformation also, sie ist kein Ergebnis, sondern ein Prozess, und von der Veränderungs- und Lernbereitschaft der Achentaler könnte sich auch in der großen Politik manch einer eine Scheibe abschneiden. Ich sehe darin jedenfalls auch ein Beispiel dafür, dass wir in der Politik noch viel mehr als bisher der Kreativität der kleinen Einheiten Raum geben sollten. Gute Antworten der Zukunft kommen vielleicht eher von unten als von oben. Wer jedenfalls danach sucht, die Demokratie zu stärken, der sollte dem Subsidiaritätsprinzip wieder mehr Geltung verschaffen. Und damit bin ich bei meinem nächsten Punkt:

  1. Die Große Transformation funktioniert am besten in der Demokratie.

Ich habe es vorhin schon einmal angedeutet: Ich glaube, unsere Demokratie befindet sich in einer echten Krise. Uns dämmert langsam, wie voraussetzungsreich eine funktionierende Demokratie ist, von welchen Bildungsprozessen, Institutionen, Personen ihr Erfolg abhängig ist. Dass jetzt allerorten Parteien an Stimmen gewinnen, die für unser Staatswesen nichts mehr als Verachtung übrig haben, das ist besorgniserregend. Und gleichzeitig fragen einige zu Recht, inwiefern die Demokratie mit Ihren kurzfristigen Wahlzyklen überhaupt noch fähig ist zu den langfristig notwendigen Weichenstellungen, etwa in der Klimapolitik.

Da können Beispiele wie das Ökomodell Achental Mut machen. Spannend ist nämlich nicht nur, was Sie gemacht haben, sondern auch wie sie es gemacht haben. Mit der Gründung des Vereins Ökomodell Achental haben Sie nicht nur die Gemeinden als politische Einheiten, vertreten durch ihre Bürgermeister, einbezogen. Als Mitglieder des Vereins können sich Landwirte, Naturschützer, Hoteliers, lokale Betriebe – also alle Bürgerinnen und Bürger der Achentaler Gemeinden – an der Gestaltung ihrer Zukunft beteiligen. Das ist der Kern von lokaler Demokratie. Die Gründung des Vereins Ökomodell Achental verbindet Nachhaltigkeit mit Demokratie.

Denn nur im demokratischen Prozess, also im fairen Widerstreit der Interessen, in der gemeinsamen Suche nach Ausgleich und Kompromiss können Gesellschaften eine wirklich tragfähige Vision einer gemeinsamen Zukunft entwickeln. Erst wenn die Menschen wirklich das Gefühl haben, sie sind Teil des Veränderungsprozesses, sie können sich beteiligen, kommen die notwendigen Veränderungen richtig zum Tragen. Übrigens halte ich das Volksbegehren für die Artenvielfalt in Bayern, das unter dem griffigen und sinnbildlichen Namen Bienen-Begehren deutschlandweit Aufmerksamkeit erfahren hat, als ein weiteres gutes Beispiel hierfür. Mit großem Interesse habe ich verfolgt, wie immer mehr Vereinigungen, Parteien und Gruppen sich eingebracht, immer mehr Menschen Argumente für und wider das Begehren formuliert haben. Und was mich wirklich erstaunt hat, ist, dass in dieser Zeit der angeblichen lokalpolitischen Ermüdung mehr Menschen als jemals zuvor in der bayrischen Geschichte an der Abstimmung teilgenommen haben. Wenn Transformation vor Ort konkret wird, dann macht sie Lust auf Mitmachen, und belebt so unsere Demokratie. Und auch das gestiegene Engagement und Interesse der jungen Menschen, wie es etwa mit der hohen Wahlbeteiligung bei den Europawahlen und nicht zuletzt auch mit der Fridays for Future-Bewegung zum Ausdruck kommt, ist etwas grundsätzlich Ermutigendes. Ich hoffe sehr, dass die Parteien dieses Signal deutlich hören.

  1. Die Große Transformation muss Grenzen überwinden.

Ich habe vorhin von den Herausforderungen gesprochen, die an Ländergrenzen nicht Halt machen. Das macht die Lösungsfindung so schwierig: denn unsere Entscheidungssysteme sind ja größtenteils immer noch nationalstaatlich organisiert.

Das Ökomodell Achental ist ein konkretes Beispiel, wie Lösungen auch über die Nationalstaaten hinaus gefunden werden können – und zwar nicht über die Auflösung nationalstaatlicher Grenzen, sondern durch ihre Ergänzung mit regionalen und europäischen Bezügen. Dass heute hier die Kolleginnen und Kollegen der österreichischen Gemeinden sitzen und Sie alle gemeinsam dieses Jubiläum feiern, das zeigt, dass das Ökomodell auch ein Stück Europa ist. Europa bedeutet eben nicht, wie manche uns weiszumachen versuchen, nur Regulierung oder Bevormundung; Europa öffnet neue Handlungsräume. Europa steht so auch für Freiheit, aus der Gemeinschaft erwächst. Das Achental hat übrigens schon konkret von Europa profitiert. Der Verein hat bereits mehrfach erfolgreich an europäischen Ausschreibungen teilgenommen und sich dabei auch als Musterregion für die Verwendung von erneuerbaren Energien im ländlichen Raum zeigen können.

Das Ökomodell Achental beweist, dass Menschen vor Ort in den europäischen Regionen politisch handeln können. Und damit ist es ein lebendiges Beispiel, wie Transformation angesichts grenzüberschreitender Herausforderungen gelingen kann.

  1. Die Große Transformation ist eine Geschichte der Hoffnung.

Das Ökomodell Achental ist keine Selbsthilfegruppe, in der man sich gegenseitig Klagelieder über den Niedergang des ländlichen Raums vorsingt. Es ist eine Vereinigung von Leuten, die gerne anpacken. Leute, die Lust auf Zukunft haben. Diese Lust ist ansteckend. Vielleicht ist sie der wichtigste Treibstoff für die dauerhaften Veränderungen, die das Ökomodell hier geschaffen hat.

Das würde ich mir auch für die Große Transformation wünschen: Dass wir sie nicht miesepetrig als apokalyptische Gruselgeschichte erzählen, sondern als Geschichte der Hoffnung für ein neues gutes Leben unter veränderten Voraussetzungen. Es ist möglich, unseren Wohlstand zu erhalten, und gleichzeitig allen Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Würde zu ermöglichen. Es ist möglich, die Natur zu schützen, ohne die Menschen dabei zu vergessen. Es ist möglich, lokal Verantwortung zu übernehmen für das große Ganze.

Natürlich genügt es nicht, nur darauf zu hoffen. Was wir brauchen, ist hoffendes Anpacken. Von jedem einzelnen von uns. Und von unseren Gemeinden und Regionen. Das Ökomodell Achental zeigt, wie das funktionieren kann.

Vielleicht ist das auch ein Anstoß für ganz Bayern: Öko, das ist kein Schimpfwort mehr, sondern ein Konzept, das Heimatliebe mit Zukunftsfähigkeit verbindet. Was einst Laptop und Lederhose war, das ist heute Laptop, Lederhose und Ökomodell!

In diesem Sinne, liebe Achentaler aus Deutschland und aus Österreich: Machen Sie weiter, lernen Sie weiter, packen Sie weiter an! Lassen Sie sich von den Irrungen und Wirrungen unserer Zeit nicht irritieren. Sie sind auf dem richtigen Weg. Mit dem, was Sie hier tun, bauen Sie nicht nur an einer guten Zukunft für das Achental, sondern setzen auch Zeichen für die politische Gestaltung einer besseren Welt.

Herzlichen Glückwunsch, liebes Ökomodell Achental, freuen wir uns auf die nächsten 20 Jahre!