Ludwigsburg: Von der Liebe Heimat, gelingender Integration und nachhaltiger Stadtentwicklung

Empfang der Stadt Ludwigsburg aus Anlass des 80. Geburtstages von Bundespräsident a.D. Horst Köhler

Ludwigsburg, 11. Mai 2023



Im Februar durfte ich meinen 80. Geburtstag feiern und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, aber auch mit Demut, dass die Verantwortlichen der Stadt Ludwigsburg diesen runden Geburtstag zum Anlass nahmen, um mir heute diesen Empfang zuteil werden zu lassen und mich dadurch einmal mehr zu ehren.
Im Oktober 1953 kam ich als Zehnjähriger mit meiner Familie in diese Stadt. Wir strandeten zunächst in der zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Jägerhofkaserne in der Oststadt. Im April 1957 wurde uns von der Stadt eine Sozialwohnung – drei Zimmer, Küche, Bad – in der Groenerstraße zugewiesen. Nach der Flucht aus der DDR über West-Berlin und Aufenthalten in den Flüchtlingslagern in Weinsberg und Backnang fanden wir hier in Ludwigsburg ein neues, echtes Zuhause. Ludwigsburg und das Schwabenland insgesamt vermittelten mir Prägungen für das ganze Leben. Und dafür bin ich sehr dankbar.
Gewiss: Meine Familie lebte hier in bescheidenen Verhältnissen und als „Reigschmeckte“ hatten wir viel zu lernen, zum Beispiel, dass „nix g’sagt, gnug g’lobd isch“. Integration war schon damals keine Einbahnstraße: Die Bereitschaft, sich auf Anderes und Neues einzustellen, war gefragt. Ich denke, es ist heute weitgehend anerkannt, dass die Flüchtlinge von damals eine starke Kraft waren, die die Bundesrepublik insgesamt vorangebracht hat. Das kann uns durchaus auch etwas zur Flüchtlingsfrage von heute sagen.
Die Württemberger halten sich ja zu Gute: „Der Schelling und der Hegel, der Schiller und der Hauff, das ist bei uns die Regel, das fällt hier gar nicht auf.“ (Eduard Paulus) Als ehemaliger Schüler des Mörike-Gymnasiums fällt mir dazu natürlich noch Eduard Mörike ein, ein nicht minder bedeutender schwäbischer Dichter und zumal großer Sohn Ludwigsburgs. Dieser lässt in seinem „Lied vom Winde“ das lyrische Ich in einen Dialog mit dem Wind treten. Das neugierige Ich fragt darin den alle Welt durchstreifenden und darum kundigen Wind:
„Sagt, wo der Liebe Heimat ist,
Ihr Anfang, ihr Ende?“
Und der Wind antwortet:
„Wer’s nennen könnte!
Schelmisches Kind,
Lieb ist wie Wind,
Rasch und lebendig,
Ruhet nie,
Ewig ist sie,
Aber nicht immer beständig.“
Die Frage, wo der Liebe Heimat ist, kann ich für mich – anders als der Wind in Mörikes Gedicht – ganz exakt beantworten: Meine große und beständige Liebe habe ich in Ludwigsburg gefunden, in der Gänsfußallee, im Hause der Bohnets: Eva Luise Bohnet wurde meine persönliche Integrationsbeauftragte. Wir sprachen über Gott und die Welt und durchstreiften dabei die Stadt und den Schlosspark bis zum Monrepos, immer alles zu Fuß. Meine Frau wurde mir das Liebste von Ludwigsburg. Heute teilt sie zu meiner großen Freude als Schirmherrin der Karlshöhe die Ehrenbürgerschaft der Stadt mit mir. – Es gibt sie: die beständige Liebe.
Apropos „beständige Liebe“: Als frisch Verliebter habe ich vor vielen Jahren meine Freundin Eva vom Sprachkurs im Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg abgeholt. Das Institut feiert in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag. Ich freue mich sehr, liebe Sylvie Goulard, dass Sie als neue Präsidentin des Instituts die Zeit gefunden haben, heute hier dabei zu sein. Wir beide teilen die Auffassung, dass das deutsch-französische Verhältnis weiterhin der wichtigste Schlüssel für eine gute Zukunft Europas ist. Mit seiner Arbeit trägt das Institut wesentlich dazu bei, dass dieses Verhältnis fundamentale Tiefe hat. Liebe Sylvie Goulard, ich wünsche Ihnen Freude und allen Erfolg bei Ihrer neuen, wichtigen Aufgabe.
Meine Damen und Herren,
so wie die Liebe „rasch und lebendig“ ist und „nie ruhet“, so bleibt auch die Heimat nicht unverändert. Sie will kein Museum sein. Und so hat sich auch in Ludwigsburg viel getan und verändert. Meine Frau und mich zieht zum Beispiel bei Besuchen immer wieder der Akademiehof an. Wir kennen noch das graue Kasernenareal. Jetzt pulsiert dort zwischen der Filmakademie und der Akademie für Darstellende Kunst modernes Stadtleben.
Die Stadtentwicklung Ludwigsburgs zeichnet sich aber nicht nur dadurch aus, dass aus Kasernen moderne Arbeitsstätten und Bildungseinrichtungen wurden. Schon 2004 schlugen die politischen Mandatsträger in Ludwigsburg einen zukunftsweisenden Weg ein, indem sie städtisches Handeln am Leitgedanken der Nachhaltigkeit orientierten. Das betraf etwa die Renaturierung von Teilen des Neckarufers, die Förderung der E-Mobilität, die Schaffung grüner Klimakomfortzonen, Bildungsinitiativen und eine soziale Wohnungspolitik. Deshalb wurde die Stadt 2014 als „Deutschlands nachhaltigste Stadt mittlerer Größe“ mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet. Es war eine schöne Koinzidenz, dass ich zeitgleich mit Oberbürgermeister Werner Spec den Ehrenpreis des Deutschen Nachhaltigkeitspreises in Empfang nehmen durfte.
„Nachhaltigkeit“ ist auch der Schlüsselbegriff für die Agenda 2030, die im September 2015 von den 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in Gestalt eines Weltzukunftsvertrags verabschiedet wurde. Die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung soll helfen, allen Menschen auf dem Planeten Erde ein Leben in Würde zu ermöglichen. Sie sucht den Frieden zu fördern und will dazu beitragen, dass die gesamte Menschheit in Freiheit und einer intakten Umwelt leben kann. Mit ihren 17 Entwicklungszielen beschreibt die UN-Agenda konkrete Schritte, die auf dem Weg zu einer besseren Welt zu gehen sind. Ich trage hier das symbolische Abzeichen für diese 17 Ziele und freue mich, dass ich hier im Saal einige sehe, die dies ebenso tun.
Dieser Weg ist aber noch weit. „Das bisherige Handeln reicht bei weitem nicht aus, um einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen, der den Interessen künftiger Generationen wirklich Rechnung trägt“, heißt es in dem Staatenbericht Deutschlands über die Umsetzung der Agenda 2030 aus dem vorletzten Jahr. Die Große Transformation kann nur gelingen, wenn sich immer mehr Menschen mit deren Zielen identifizieren. Dabei kommt den Kommunen eine besondere Rolle zu. Denn hier spielt sich die notwendige Umstellung unserer Lebensstile konkret ab.
Lieber Herr Oberbürgermeister, ich habe mich gefreut, dass Sie auf dem Ehrenempfang, den der Bundespräsident aus Anlass meines 80. Geburtstages Anfang März im Schloss Bellevue gegeben hat, mit dem früheren Generalsekretär der Vereinten Nationen, Herrn Ban Ki-moon, ins Gespräch gekommen sind. Vielleicht hatten Sie Gelegenheit, ihm zu berichten, wie auch hier in Ludwigsburg am Erreichen der Agenda 2030-Entwicklungsziele gearbeitet wird.
Diese Agenda ist mehr als nur ein Fahrplan für die große internationale Politik. Sie ist ein Mitmach-Programm für jeden einzelnen von uns, das im Hier und Heute und vor Ort nach Umsetzung ruft! Die ehrgeizigen Ziele der Agenda 2030 lassen sich nur erreichen, wenn wir alle mit Herz, Mund und Hand für sie eintreten und wenn wir uns von ihren Ideen inspirieren und bewegen lassen.
Aus diesem Grund bin ich Ihnen, lieber Herr Sandig, auch sehr dankbar, dass Sie die Ludwigsburger Schlossfestspiele mit Ihrer Intendanz von Anfang an unter die Idee der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen gestellt haben. Ein beeindruckender Blick aus dem All auf die Erde ziert in diesem Jahr die Plakate für die Schlossfestspiele. Unser atemberaubend schöner Planet und die Menschen, die auf ihm leben, verdienen unser aller Engagement und Einsatz vor Ort. Glücklich die Stadt, die ihre Entwicklung am Leitgedanken der Nachhaltigkeit ausrichtet!
Doch zum Glück einer Stadt gehört entscheidend auch der Friede. Leider herrscht heute wieder Krieg in Europa. Der durch nichts zu rechtfertigende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert in Deutschland nicht nur Bund und Länder, sondern ganz besonders auch die Kommunen heraus.
In Ludwigsburg kamen seit Februar des vergangenen Jahres 1.458 Geflüchtete im „Service-Center-Ukraine“ an. Dort fanden die Hilfesuchenden durch die im Landkreis einmalige Bündelung von Personal aus Ausländerbehörde, Einwohnermeldeamt, sozialpädagogischer Beratung und Sprachmittlern an einem Ort rasche Unterstützung.
Ich habe großen Respekt vor den Anstrengungen, die Sie, lieber Herr Oberbürgermeister, der Gemeinderat und Ludwigsburger Bürgerinnen und Bürger unternommen haben, um die Geflüchteten aus der Ukraine und anderen Ländern aufzunehmen und das bestmögliche zu tun, damit die Schutzsuchenden Hilfe bekommen. Auch der Landesregierung danke ich für die Unterstützung dieses kommunalen Engagements durch das Förderprogramm „Soforthilfe Ukraine“.
Viel wurde geschafft, aber vieles bleibt weiterhin zu leisten. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen fragen sich einige im Land: „Schaffen wir das?“ – Ich verstehe die Sorgen und will die Frage daher nicht leichtfertig beantworten. Der bange Blick eines Kämmerers auf die hohen Ausgaben, die mit der Unterbringung und Versorgung verbunden sind oder aber der Kummer einer Schulleiterin, die nicht weiß, wie sie den Unterricht für so viele Neuzugänge organisieren soll, lassen sich nicht ignorieren. – Um nur zwei Beispiele zu nennen.
Dennoch bin ich überzeugt, dass die gegenwärtigen Herausforderungen, die vor Ort zu bewältigen sind, auch Chancen eröffnen. Gerade in Baden-Württemberg, wo Arbeitskräfte allerorts händeringend gesucht werden. Die Menschen, die kommen, sind nicht nur Bittsteller, sondern sie haben oft auch ein enormes Potential.
Gestatten Sie dem Jubilar einen Geburtstagswunsch: Ich wünsche mir, dass die Bürgerinnen und Bürger Ludwigsburgs, dass Sie alle, jede auf ihre und seine Weise einen Beitrag leisten, damit Integration für die, die hier mehr als nur eine vorübergehende Unterkunft suchen, gelingt. Sie sind es, die der Stadt ein freundliches, ein einladendes Gesicht geben. So habe ich es 1953 erlebt, so soll es heute sein!
Danke, Ludwigsburg, und alles Gutes für die Stadt, meine Heimatstadt, heute und in der Zukunft.