Mehr Miteinander bleibt gefragt: Plädoyer für eine kluge und tatkräftige Entwicklungspolitik
Verleihung des Walter-Scheel-Preises 2024
Bonn, 28. Mai 2024
Für die Auszeichnung mit dem Walter-Scheel-Preis bedanke ich mich. Ebenso danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Wirtz, für die freundliche Laudatio. Dieser Preis, der den Namen eines liberalen Staatsmannes und Visionärs trägt, ehrt mich. Zugleich mahnt er dazu, im Lichte der Gegenwart über das politische Vermächtnis Walter Scheels nachzudenken.
Lassen Sie mich darum mit einem Zitat von Walter Scheel beginnen: „Jahrhundertelang fühlte sich Europa als politisches Zentrum der Erde. Weltgeschichte wurde als Weltgeschichte Europas verstanden. Dieses eurozentrische Selbstverständnis ist heute überholt. […] Afrika, Asien und Lateinamerika […] sind auf die Weltbühne getreten und melden ein Mitspracherecht an.“ – Diese Worte schrieb Walter Scheel mit Mitte 40 im Jahre 1965. Und die Älteren hier im Saal wissen gut: Damals war Walter Scheel weder Bundespräsident noch Außenminister, sondern der erste deutsche Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Heute, knapp 60 Jahre später, beschreibt Walter Scheels Feststellung, dass das eurozentrische Selbstverständnis überholt sei, fast einen „common sense“ unter den geopolitisch Interessierten. Inzwischen muss uns klar sein, dass nicht nur Europa für viele Länder des globalen Südens seine Vorbildrolle verloren hat, sondern dass der Westen insgesamt in den letzten Jahrzehnten an Reputation und Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Wer heute aufmerksam das politische Geschehen in Afrika, Asien oder Lateinamerika beobachtet, weiß, dass dort Regierungen zunehmend nicht mehr bloß ein „Mitspracherecht“ im geopolitischen Diskurseinfordern, sondern selbst tonangebend sein wollen. Hier geht es nicht länger nur ums Mitreden-Wollen und ums Kommentieren der Stimmen etablierter Big Player. Länder des globalen Südens vertreten vielmehr immer stärker und deutlich hörbar eigene Positionen. Auf der großen Bühne der Weltpolitik in einer sich neu ordnenden Welt sind sie mittlerweile souverän und selbstbewusst handelnde Akteure. Die deutsche Ausrufung einer politischen „Zeitenwende“ kommt diesbezüglich reichlich spät.
Deutschland und Europa, aber auch die USA, werden im Globalen Süden nicht länger als die geborenen Partner für wirtschaftliche Zusammenarbeit gesehen. Fatale außenpolitische Fehler, die in Kriege führten, ein zockender Finanzkapitalismus, der schwere Turbulenzen auf den Finanzmärkten der Welt hervorrief sowie das Horten von Impfstoffen und ein egoistisches Abschotten während der Covid-Pandemie weckten in den zurückliegenden Jahrzehnten erhebliche Zweifel am Vorbildcharakter westlicher Staaten und trübten die Strahlkraft ihres Politik- und Wirtschaftsmodells.
Westliche Angebote der Kooperation konkurrieren längst mit anderen, vor allem aus China, aber auch der Türkei oder neuerdings Russland. „Was dient der raschen und unkomplizierten Verwirklichung unserer (nicht eurer) Ziele? Was hilft uns hier und heute?“, lauten die Fragen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Ihre Regierungen verabschieden sich mitunter ohne Zögern von alten Partnern und wenden sich neuen Partnern zu, die ihren Offerten keine paternalistisch anmutenden Belehrungen vorausschicken und die ihre Zusagen nicht an die Erledigung von Hausaufgaben in Sachen Moral und westlich definierter good governance binden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle dazu ein illustrierendes Beispiel nennen: Anfang April sorgte die scharfe Kritik des botswanischen Präsidenten Mokgweetsi Masisi an Bundesumweltministerin Steffi Lemke für mediale Aufmerksamkeit. Masisi zeigte kein Verständnis für den Vorschlag eines Verbots der Einfuhr von Jagdtrophäen aus Afrika und verwies auf die Bedeutung der Wildtierjagd für sein Land, um im Sinne des Natur- und Artenschutzes Überpopulationen an Elefanten zu regulieren. Er kündigte an, Deutschland 20.000 Elefanten schenken zu wollen und machte seinem Ärger über die deutsche Politik so Luft: „Es ist sehr einfach, in Berlin zu sitzen und eine Meinung zu haben zu unseren Angelegenheiten in Botswana. Wir zahlen den Preis dafür, dass wir diese Tiere für die Welt erhalten.“ – Hören wir darin eine Art Aprilscherz oder nehmen wir den großen Unmut, der sich in dieser Aussage artikuliert, wahr und ernst?
Fest steht: Die Welt ist im grundlegenden Wandel. Einmal mehr. Doch statt nur eine Weltunordnung zu beklagen, sollte sich der Westen der Frage der Glaubwürdigkeit seiner Wertepostulate und seiner Mitverantwortung für die Krisen der Gegenwart beherzt stellen. Er sollte jenen, die oft am meisten unter den aktuellen Veränderungen und Umbrüchen zu leiden haben, Verlässlichkeit und Stabilität, Sicherheit und Solidarität, kurzum: eine wirklich faire Partnerschaft anbieten.
Noch einmal zitiere ich ein Wort von Walter Scheel aus dem Jahre 1965, das sich bruchlos in unsere Zeit fügt: „Die freie Welt weiß, dass es […] nur zwei Alternativen gibt: gemeinsam in einer wirtschaftlich, sozial und politisch befriedeten Welt zu leben oder nicht zu überleben.“ Seine Warnung, als Wertegemeinschaft zu scheitern, „nicht zu überleben“, gewinnt auf dem gegenwärtigen Hintergrund von neuen politischen Blockbildungen, Kriegen, Armutsanstieg in der Welt und Erderwärmung eine ganz aktuelle Dimension.
Walter Scheel trat in den 1960er Jahren für eine „Politik der Partnerschaft“ ein. Die Vereinten Nationen sprechen in der 2015 verabschiedeten Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung ganz ähnlich von einer „globalen Partnerschaft“. Damals wie heute steht hinter dem Ausdruck „Partnerschaft“ die Einsicht, dass Entwicklungszusammenarbeit auf beiden Seiten Gebende und Nehmende kennt. Sie sollte nicht kurzfristig orientiert sein, sondern hat längerfristige Ziele zu verfolgen und –wieder in Walter Scheels Worten – indem sie „das Armutsgefälle zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern zu mindern“ sucht, trägt sie dazu bei, „einen Herd potentieller Spannungen zu beseitigen“ und leistet so einen wichtigen Beitrag zum Frieden in der Welt.
Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik dürfen darum nicht von Entwicklungspolitik entkoppelt sein. Das sollte übrigens auch für die Budgets gelten, die die Haushälter bei uns und anderswo für die entsprechenden Ressorts zur Verfügung stellen. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit der Bereitstellung eines 100 Milliarden schweren Sondervermögens für die Bundeswehr und der Zusage zur Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO ein klares Bekenntnis abgegeben hat: Deutschland muss und will seine Wehrfähigkeit erhöhen. Doch dafür das Engagement einer (effizienten) Entwicklungszusammenarbeit herunterzufahren, wäre die falsche Konsequenz. Deutschland muss das von den Industrieländern selbst gesteckte Ziel, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zur Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen, weiter bewerkstelligen. Insgesamt heißt das dann: Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands muss sich jetzt in der politischen Kraft zur Prioritätensetzung beweisen.
Entwicklungspolitik ist Interdependenzpolitik. Sie muss nach den Auswirkungen nationaler Politik auf den Globus fragen und ebenso aufmerksam den Zusammenhang zwischen Geschehnissen anderswo in der Welt und unserer Zukunft hierzulande analysieren.
Mein Rat ist, dabei dem großen Kontinent vor der europäischen Haustür – Afrika – mehr politische Aufmerksamkeit und Priorität zu geben, schon aus Eigeninteresse. Dieser Kontinent hat heute 1,4 Milliarden Einwohner und diese Zahl wird bis 2050 voraussichtlich noch auf rund zweieinhalb Milliarden steigen. Die Hälfte der gegenwärtigen afrikanischen Bevölkerung ist jünger als 19 Jahre (Medianalter 2022: 18,7 Jahre). Afrikas Jugendbevölkerung kann eine große Quelle für Fortschritt und Wirtschaftswachstum nicht nur in Afrika, sondern auch für seinen eklatant alternden Nachbarkontinent Europa sein (derzeitiges Medianalter in der EU: 44,5 Jahre). Sie kann aber auch zur entwicklungspolitischen Zeitbombe mit noch ungeahnten Migrationsströmen mutieren, wenn sich die Lebensbedingungen in Afrika nicht dauerhaft verbessern.
Der jüngste „Index of African Governance“ der Mo Ibrahim Foundation, der die Entwicklung in 54 afrikanischen Staaten nachzeichnet, zeigt, dass zwar mehr als die Hälfte der Bevölkerung Afrikas in Ländern lebt, in denen sich die Regierungsführung zwischen 2012 und 2021 verbessert hat. Doch sind mehr als 30 Staaten in den Kategorien Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie Partizipation, Rechte und Inklusion in diesem Zeitraum in ihrer Entwicklung zurückgefallen. Während der Jahre 2019 bis 2021 stagnierte der Governance-Score sogar und es ist zu vermuten, dass sich das Gesamtbild weiter eingetrübt hat. Denn aktuell bestimmen Putsche, Kriege und große Binnenmigration in einer Reihe von afrikanischen Ländern die politische Lage. Darüber hinaus droht der Kontinent zum Nebenkriegsschauplatz der neuen geopolitischen Spannungen zu werden. Dafür steht nicht zuletzt die wachsende Präsenz des russischen „Afrikakorps“, das die Geschäfte des berüchtigten Söldnerführers Wagner fortführt und Moskau in die Lage versetzt, in Afrika demokratisch legitimierte Regierungen zu destabilisieren. Und nicht zu vergessen: Afrika ist schon jetzt ein Hauptbetroffener der Erderwärmung, zu deren Ursachen – den CO2-Emissionen – er nur sehr wenig beiträgt. Mein Fazit ist: „Business as usual“ reicht für die deutsche und europäische Afrikapolitik nicht mehr aus.
Was tun? Ich denke es könnte sehr hilfreich sein, wenn die EU und die AU zunächst gemeinsam ein paritätisch besetztes High-level Panel kompetenter und unabhängiger Persönlichkeiten mit einer Antwort auf diese Frage befassen würden. So gingen auch die Vereinten Nationen bei der Erarbeitung der 2030 Agenda für Nachhaltige Entwicklung vor. Als Mitglied eines dafür eingesetzten „High-level Panel of Eminent Persons on the Post-2015 Development Agenda“ habe ich dort erlebt, wie der Austausch zwischen den teilnehmenden Persönlichkeiten den Blick auf gemeinsame Interessen ausweitet und schärft. Es wäre gut, wenn der EU und der AU ein Jahr nach der diesjährigen Europawahl ein Bericht eines solchen High Level Panels zur Neujustierung der europäisch-afrikanischen Partnerschaft vorläge.
Und ich würde mir wünschen, dass dieser Bericht dann auch zu einem besseren Verständnis des Begriffs „Hilfe zur Selbsthilfe“ beiträgt. Zum Beispiel indem er auch den notwendigen Strukturwandel in Europa anspricht, der Selbsthilfe in Afrika eine bessere Chance auf Erfolg einräumt, etwa beim Aufbau einer eigenen Verarbeitungsindustrie und Ernährungswirtschaft.
Eine neue Partnerschaft zwischen Europa und Afrika darf sich aber nicht allein am Maßstab des unmittelbar Nutzbringenden orientieren. Auch wenn ich selbst eine gewisse Freude an Zahlen und Statistiken habe, weiß ich doch, dass unsere Welt und gerade auch das Wahre, Schöne, Gute in ihr nicht allein in Zahlen aufgeht. Wir staunen, fühlen, atmen Leben, wo uns Kunst begegnet. Und nicht selten ist es Kunst, die Brücken schlägt zwischen Völkern und Nationen. Walter Scheel wusste das. Er war ein großer Freund und Förderer der bildenden Künste. Auf sein Bitten und Drängen hin, habe ich von ihm vor 15 Jahren die Ehrenpräsidentschaft über den Deutschen Künstlerbund übernommen. Bereut habe ich diese Entscheidung nie. Schon lange bietet der Deutsche Künstlerbund auch Kunstschaffenden aus Afrika oder Lateinamerika die Möglichkeit, ihre Werke hierzulande auszustellen und dadurch unserer Gesellschaft neue Perspektiven aufzuzeigen. Kunst ist Quellbrunn für Kreativität. Und die haben wir alle nötig, wenn es um die Gestaltung der anstehenden neuen Großen Transformation geht!
„Miteinander, nicht gegeneinander“ – Mit dieser Leitidee überschrieb Walter Scheel seine Antrittsrede als Bundespräsident. Er hielt sie vor 50 Jahren, am 1. Juli 1974 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn und warb in ihr für eine soziale Partnerschaft in einer vielfältigen, zu Freiheit und Solidarität gerufenen Gesellschaft.
Ich wünsche mir, dass wir dieses Motto – „Miteinander, nicht gegeneinander“ – neu entdecken: Nicht nur für uns und die Menschen, die in unserem Land leben, sondern insbesondere auch mit Blick auf unseren Beitrag zu einer wahrhaften Partnerschaft mit Afrika. Das wäre dann ganz im Sinne des Namensgebers für diesen Preis, mit dessen 50 Jahre alt werdenden und doch kein bisschen von gestern seienden Worten ich schließen möchte:
„Während wir handelspolitisch in weltweiten Maßstäben denken, gibt es in unserer Politik die Gefahr provinzieller Genügsamkeit. Wenn wir nur noch das für wichtig halten, was bei uns geschieht, werden wir bald für niemand mehr wichtig sein. […] Es gilt, unsere Aufmerksamkeit und unser Gewissen zu schärfen für das, was in der Welt geschieht. […] Ich meine, das gesunde Eigeninteresse müsste uns vor dem Versuch bewahren, eine Insel von Privilegierten zu sein in einem Meer von Armut. Solidarität endet nicht an Staatsgrenzen.“
Darum, meine Damen und Herren: Walter Scheel hat uns immer noch etwas zu sagen. Mehr Miteinander bleibt gefragt, in Deutschland und der Welt!