Nach dem Erdbeben

Dinner Europäischer Wirtschaftssenat e.V.
Bad Wiessee, 20. Oktober 2022



Der amerikanische Filmproduzent Samuel Goldwyn (1879–1974) hatte ein Rezept dafür, wie man beim Kinopublikum mit Sicherheit Erfolg hat. Das Rezept lautete: „Ein Film muss mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern.“
Herr Dr. Friedrich hat mich freundlicherweise dazu eingeladen, heute Abend einige Anmerkungen zur aktuellen politischen Lage zu machen. Dem komme ich gerne nach. Aber das Erfolgsrezept von Samuel Goldwyn werde ich nicht befolgen. Zwar ist leider das Erdbeben spätestens seit dem 24. Februar 2022 da, und es bringt Vieles ins Wanken, vermeintliche Gewissheiten ebenso wie ganze Branchen. Aber viel weiter steigern darf sich die Katastrophe nicht, und Erfolg beim Publikum wird nur haben, wer aufzeigt, wie wir die Schocks abfedern bis hoffentlich am Ende wieder ein neues Gleichgewicht gefunden ist. Dieses neue Gleichgewicht zu finden ist eine riesengroße Aufgabe. Ich kann heute Abend nicht viel mehr tun, als einige Umrisse aufzuzeigen.
Der offene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verstößt gegen Völkerrecht und ist durch nichts zu rechtfertigen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat Russland (16.3.2022) dazu verpflichtet, seine Aggression einzustellen. Präsident Putin setzt sie aber fort und hat sie mit der Annexion weiterer Teile der Ukraine noch eskaliert. Wenn er damit wegkommt, ist das ein Menetekel für die Sicherheit von Staatsgrenzen nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern in der ganzen Welt.
Russlands Angriff auf die Ukraine erschüttert die Weltordnung in ihren Grundfesten. Und dies versetzt der ohnehin bereits durch COVID-19 geschwächten Weltwirtschaft einen zusätzlichen Schlag. Hunger und Armut in der Welt und damit auch die Migration nehmen bereits wieder sprunghaft zu.
Aber gab es nicht schon vor dem russischen Angriffskrieg Gründe zur Sorge? Anfang 2018 brach zwischen Amerika unter Präsident Trump und China ein Handelskrieg aus, und bald danach sogar ein halber Handelskrieg zwischen den USA und ihren westlichen Verbündeten. Anfang 2020 führte uns die COVID-19-Pandemie vor Augen, wie abhängig wir von Herstellern in Übersee sind, selbst bei so einfachen Dingen wie Gesichtsmasken. Die Pandemie deckte auf, wie zerbrechlich viele Lieferketten sind. Und inzwischen führt uns Putin vor, wie sich Abhängigkeiten in Waffen verwandeln lassen.
Das alles zeugt von tektonischen Verschiebungen. Zu vier Sachverhalten will ich heute etwas sagen: Wir haben Krieg mitten in Europa (I.), wir erleben eine systemische Konkurrenz zwischen Demokratien und Autokratien (II.), wir wissen nicht, ob die vier Jahre Donald Trump nur ein bizarres Intermezzo waren (III.), und wir müssen uns gerade in Deutschland – dem sogenannten Exportweltmeister – einen Kopf machen über die Zukunft der Globalisierung, die bisher eine ganz wesentliche Stütze für den Wohlstand in unserem Land war (IV.).
I.
First Things First: Krieg in Europa. Die schreckliche Hauptlast des Krieges tragen die Ukraine und ihre Bürgerinnen und Bürger. Aber auch uns, dem Westen, wird nicht wenig abverlangt:
1. Wir müssen der Ukraine nach Kräften helfen, durch die Aufnahme von Flüchtlingen, durch finanzielle Unterstützung, durch Waffen und Nachschub aller Art und durch Hilfe beim Wiederaufbau.
2. Wir müssen Russland nach Kräften schwächen, damit es von seinem heutigen Weg abkommt. Darum sind die von der Europäischen Union verhängten Sanktionen und der Boykott von russischem Erdgas und Erdöl richtig und wichtig, und sie entfalten auch Wirkung.
3. Wir müssen mit den Folgen unserer Sanktionen und der russischen Gegenmaßnahmen fertig werden. Das ist hart, aber es wird gelingen, wenn es jetzt zügig zu Entscheidungen über eine wirksame Gas- und Strompreisbremse, eine Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke und eine entschlossene Beschleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren Energien kommt. Die Verunsicherung bei Investoren und Konsumenten in Deutschland ist bereits sehr groß. Die Aussichten für die Weltwirtschaft trüben sich ein. So senkte etwa der Internationale Währungsfonds seine globale Wachstumsvorhersage für das kommende Jahr auf 2,7 Prozent und IWF-Chefvolkswirt Pierre-Olivier Gourinchas warnte vor dem Risiko einer globalen Rezession: „The worst is yet to come […].“
Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, dass das deutsche Krisenmanagement nicht in Widerspruch zur gerade jetzt so notwendigen Einheit in der Europäischen Union gerät. Putins Angriff auf die europäische Friedensordnung sollte im Gegenteil dazu führen, die europäische Integration zu vertiefen und Europas Souveränität zu stärken. Das verlangt jetzt dringend auch die Schaffung einer europäischen Energieunion und einer europäischen Verteidigungsunion.
4. Und wir müssen auch jetzt schon darüber nachdenken, wann und wie es einen Weg zurück gibt zu halbwegs normalen Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. In den vergangenen Wochen haben wir gesehen: Hunderttausende Russen lehnen die Einberufung in den Krieg gegen die Ukraine ab und kehren ihrer Heimat den Rücken. Noch hält sich der geheimdienstlich-militärische Komplex im Sattel, der in Moskau das Sagen hat. Wie lange noch, und ob etwas Besseres nachkäme, das wissen wir nicht. Aber wir können darauf hoffen, und wir sollten diese Hoffnung ruhig zeigen. Das von Präsident Gorbatschow einmal beschriebene gemeinsame „Europäische Haus“ mit einem Hausbewohner Russland, bleibt für mich weiter eine anstrebenswerte Vision.
II.
Zu der systemischen Konkurrenz zwischen Demokratien und Autokratien möchte ich die folgenden Bemerkungen machen.
1. Diese Konkurrenz wird lange andauern. Ein Ende ist nicht in Sicht. Warum? Weil einerseits hoffentlich die Demokratien die Kraft zu dieser Konkurrenz finden und andererseits Staaten wie die Volksrepublik China sich nicht verwestlichen werden und voraussichtlich kraftvolle Konkurrenten bleiben. Auch Hybris im Westen hat übrigens dazu beigetragen, dass die Hypothese vom „Ende der Geschichte“ mit dem weltweiten Sieg des demokratisch-marktwirtschaftlichen Systems des Westens (Francis Fukuyama) inzwischen gründlich widerlegt ist.
2. Die systemische Konkurrenz ist kein Zweikampf. Es gibt nämlich sehr viele Dritte. Es gibt sehr viele Nationen, die wollen in der Konkurrenz zwischen dem Westen und China nicht eine der beiden Seiten wählen. Dazu sollten wir sie auch nicht zu zwingen versuchen.
Die systemische Konkurrenz erinnert an Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“: Da hat bekanntlich ein Ring die geheime Kraft, denjenigen vor Gott und den Menschen angenehm zu machen, der ihn mit der Zuversicht darauf trägt. Und weil drei Ringe konkurrieren, die einander so ähneln, dass der rechte nicht erweislich ist, rät ein Richter ihren Trägern: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag zu legen!“ Das heißt für uns heute: Die westlichen Demokratien müssen ihr Modell wieder zum Leuchten bringen! Dafür sind vielfältige Reformen nötig: für mehr Freiheit und Verantwortung, für mehr Aufstieg durch Bildung und Leistung, für mehr Verteilungsgerechtigkeit, für Prosperität durch Innovationskraft und sozialen Frieden.
Und wichtig ist auch, dass die Lüge – oder Fakenews – als Mittel der Politik nicht zum Standard in Demokratien wird, weil dies dem Freiheitsversprechen des westlichen Modells am Ende Legitimität und Glaubwürdigkeit raubt.
3. Auf dieser Grundlage sollten die westlichen Demokratien gerade jetzt auch die Zusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens suchen. Die brauchen bessere Angebote als den russischen Neo-Imperialismus und die chinesische Vorherrschaft, die schnell ruppig wird, wenn man ihr widerspricht. Diese Angebote können und sollten wir machen (und Deutschland z.B. vor allem für Berufsbildung und Industrialisierung in Afrika aktiver werden). Dann wird sich das westliche Modell schon als das rechte erweisen.
III.
Zum Fitwerden für die systemische Konkurrenz gehört auch, dass die westlichen Demokratien den nötigen Teamgeist und die erforderliche mannschaftliche Geschlossenheit entwickeln. Präsident Biden arbeitet mit seiner „Alliance for Democracies“ darauf hin. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir demnächst erneut einen Trumpesken Amtsinhaber im Weißen Haus sitzen haben. Darum sollten wir Europäer Amerika auf allen Kanälen immer wieder die Botschaft übermitteln: Verfallt auch Ihr nicht in Extremismus! Lernt aus eigenen Fehlern, so wie wir das auch tun wollen! Bleibt weltoffen und pflegt Eure Partnerschaften und Allianzen, denn ohne die werdet Ihr und wird der Westen den Lauf der Welt immer weniger beeinflussen können – die Welt braucht aber den Westen!
IV.
Die Hyperglobalisierung der letzten Jahrzehnte ist auf Grenzen und Widerstand gestoßen. Eine bessere Gestaltung der Globalisierung ist nötig, möglich und alternativlos.
1. Sie ist alternativlos, denn die Welt lässt sich nicht mehr „ent-globalisieren“. Es gibt keinen attraktiven Weg zurück in die Zeit, als man noch fast alles, was man zum täglichen Leben so brauchte, auf dem heimischen Acker, Hof und Herd produzierte (und bei Zahnweh auf die Kirchweih zum Bader ging). Ohne internationale Arbeitsteilung und weltweiten Handel lässt sich eine Weltbevölkerung von heute 7 ½ Milliarden und am Ende dieses Jahrhunderts vielleicht 10 Milliarden Menschen nicht ernähren, werden wir die Armut nicht besiegen, und können wir potentiell katastrophale Probleme wie den Klimawandel nicht einhegen.
2. Eine bessere Gestaltung der Globalisierung ist nötig, um unsere Versorgungssicherheit, unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere freie Selbstbestimmung zu schützen. Hochkomplexe Volkswirtschaften wie die unsere brauchen ein Mindestmaß an Resilienz. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass in Übersee ein Erdbeben eine Chipfabrik zerstört und darum bei uns die Fließbänder stillstehen müssen. Längst hat die Wissenschaft aufgezeigt, wie sich durch Organisation von mehr Kreislaufwirtschaft auch mehr Ressourcensicherheit und Umweltschutz erreichen lässt. Und ja, wir müssen jetzt auch über mehr Notvorsorge und ein gewisses Maß an „Re-Shoring“ und „Friendshoring“ nachdenken. Aber das alles kann die unvermeidliche Interdependenz auf unserem Planeten nicht aufheben.
Wir brauchen deshalb eine Globalisierung, die zum Nutzen aller arbeitet und für die Zusammenarbeit auch Regeln für alle setzt. Da sind wir beim Stichwort „level playing field“. Darauf kommt es vor allem im Verhältnis zu China an. Von einer Gleichheit der Regeln sind wir hier leider noch immer weit entfernt. China bevorzugt seine Staatsunternehmen, subventioniert die Eroberung ausländischer Märkte und nimmt es mit dem Schutz des geistigen Eigentums anderer nicht sehr genau (um es höflich zu sagen). Umgekehrt konnten Chinesen hier in Deutschland etliche high-tech-Betriebe und auch den Flughafen Hahn bei Frankfurt kaufen, der wegen einer Nachtbetriebserlaubnis besonders attraktiv war, und sie können dann hierzulande im Rahmen der geltenden Gesetze nach Herzenslust wirtschaften wie jedermann. Das ist in China noch Science Fiction. Und dazu gibt es Anhaltspunkte, dass China seine wirtschaftlichen Positionen und seinen Einfluss gezielt so auf- und ausbaut, dass es den anderen irgendwann nicht allein die Preise, sondern auch das politische Verhalten diktieren kann.
3. Dagegen lässt sich aber etwas unternehmen. Die bessere Gestaltung der Globalisierung ist nämlich wie gesagt auch möglich. Ein Beispiel bietet das von der EU mit China verhandelte Umfassende Abkommen über Investitionen (Comprehensive Agreement on Investment, CAI). Es sieht unter anderem das Verbot von erzwungenem Technologietransfer vor und brächte Transparenzauflagen für Subventionen und die Auflage, dass Staatsunternehmen sich marktkonform verhalten müssen. Es enthält auch ein umfangreiches Nachhaltigkeitskapitel und die Zusage Chinas, an der Übernahme der internationalen Konvention gegen Zwangsarbeit zu arbeiten. Die USA sehen in dem bestehenden Verhandlungsstand noch Schwachstellen. Dem sollte die EU nachgehen, aber grundsätzlich an einem Abkommen mit China festhalten. Und zugleich sollte den Entwicklungs- und Schwellenländern im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO viel mehr fairer Handel und ein großes „level playing field“ angeboten werden. Je mehr Nationen sich an einer regelgebundenen und fairen Globalisierung beteiligen, desto größer wird der Druck auf unsere systemischen Konkurrenten, sich ebenfalls entsprechend zu verhalten.
Meine Damen und Herren,
was ich gesagt habe, war alles das Gegenteil von Erdbeben, geschweige denn von dem Bemühen, die Katastrophe langsam zu steigern. Uns wird ein langes, zähes, anstrengendes Ringen abverlangt. Es erfordert Umdenken und strukturelle Reformen auch bei uns, Solidarität und Teamgeist und den Verzicht auf manche gewohnte Bequemlichkeit; aber es verspricht auch nachhaltigen Erfolg.
Ich bin überzeugt davon, dass die westlichen Demokratien auch in diesem Erdbeben die nötige Kraft beweisen werden und danach mit James Bond sagen können: shaken, not stirred – durchgeschüttelt, aber unerschüttert.