„Neues Denken und Handeln in der Vertikale – Voraussetzungen für eine substanziell neue Partnerschaft zwischen Europa und Afrika“

Konferenz der Ausschüsse für Unionsangelegenheiten der Parlamente der Europäischen Union (COSAC)
Gastgeber: Deutscher Bundestag in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat

Berlin, 1. Dezember 2020



Exzellenzen, verehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus afrikanischen Ländern,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete der Parlamente der Europäischen Union,
namentlich lieber Herr Vorsitzender Krichbaum und lieber Herr Minister Wolf,
I.
danke, dass Sie als Vertreterinnen und Vertreter der europäischen Parlamente zum Abschluss der COSAC Ihre Aufmerksamkeit auch auf unseren Nachbarkontinent Afrika richten. Vieles verschlingt ja derzeit Ihre politischen Energien: allem voran die COVID-19-Pandemie, dann der Übergang in den Vereinigten Staaten, die Verhandlungen nach dem Brexit und ganz allgemein die Sorge um die Zukunft der Europäischen Union.
Aber es wäre fatal, wenn wir darüber die große Aufgabe übersähen, die vor unserer Haustür heranwächst. Ich sage bewusst „heranwächst“: Von Mitte des letzten bis Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die Einwohnerzahl Afrikas verzehnfacht haben, auf dann zweieinhalb Milliarden Menschen – ein Viertel der Weltbevölkerung. Und während Europa ergraut, ist schon heute die Hälfte der Afrikaner jünger als 18. Es wird auch von unseren Antworten abhängen, ob sich auf unserem Nachbarkontinent eine „youth bulge“ in unabsehbaren Konflikten entlädt – oder ob diese Jugend zu einer transformativen Kraft werden kann für Wirtschaftswachstum, Frieden und Stabilität.
Afrika und Europa sind in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Noch ist deren Zukunft offen. Viele afrikanische Länder sind im Aufbruch. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt mittlerweile in Städten. Nirgends haben mehr Menschen mobile Bankkonten, die Digital-Wirtschaft boomt. Mit der „African Continental Free Trade Area“ (AfCFTA) wird ein riesiger Binnenmarkt geschaffen. Doch noch entstehen in Afrika viel zu wenige Arbeitsplätze; noch liegt der Anteil der verarbeitenden Industrie bei gerade mal 11 Prozent, noch ist der Kontinent vor allem Rohstofflieferant. Die eigentliche Wertschöpfung, die Arbeit und Einkommen schafft, findet anderswo statt. Erstmals seit 25 Jahren rutscht Afrika in diesem Jahr pandemiebedingt in eine Rezession. Das wirft die Erfolge bei der Bekämpfung extremer Armut oder beim Zugang zu Bildung brutal zurück. Schuldenkrisen drohen.
Es wäre ein historisches Versagen, wenn Europa sich jetzt aufgrund der zweiten Welle der Pandemie vor allem mit sich selbst beschäftigen würde. Die COVID-19-Krise ist – nach der Flüchtlingskrise 2015 – ein weiterer Weckruf an Europa, endlich die Zukunftsbedeutung des Nachbarkontinents zu erkennen. Europa wird neue Märkte und Handelspartner brauchen, um in den globalen wirtschaftlichen Umbrüchen seinen Wohlstand zu wahren. Europa wird Verbündete brauchen, wenn es seinen Werten und Interessen weiterhin Gehör verschaffen will. Beide, Afrikaner und Europäer, haben ein gemeinsames Interesse an einer regelbasierten internationalen Ordnung. Mit anderen Worten: Africa matters! Und unsere Beziehungen brauchen einen Neustart.
II.
Was sind die Voraussetzungen für eine substanziell neue Partnerschaft zwischen Europa und Afrika? Das beginnt für mich mit der Frage, mit welcher Haltung wir einander begegnen. Mein Rat in dieser Frage ist: Europa sollte Afrika nicht mehr als Objekt wohlmeinender Fürsorge begreifen, sondern als eigenständiges politisches Subjekt – mit eigenen Visionen, eigenem Handlungswillen und eigenen Handlungsoptionen.
Doch noch sind die alten Wahrnehmungen mächtig. Gleich zu Beginn der Pandemie etwa warnten Wohlmeinende, Afrika werde hilflos überrollt. Aber der Kontinent reagierte – unter der Führung der Afrikanischen Union – früh und entschlossen. Mitte Februar, noch vor dem ersten bestätigten Fall, trafen sich die Gesundheitsminister und koordinierten ihre Strategien. Umgekehrt registrierte man dort mit Erstaunen, wie unvorbereitet Europa erschien und wie in anderen Teilen der Welt das Pandemieproblem sogar geleugnet wurde. Noch ist es zu früh zu sagen, ob Afrika wirklich schon den „peak“ überschritten hat. Aber wir wissen jetzt, dass das „Africa Centre for Disease Control“, eine junge panafrikanische Institution, Vorausschau und Führungsstärke bewiesen hat. So sagt unser europäischer Blick auf Afrika oft mehr über uns aus als über die dortigen Realitäten.
Wissen wir – in unseren nationalen Parlamenten, in den Amtsstuben der Regierungen und Vorstandsetagen der Wirtschaftsunternehmen – genug über diese Realitäten? Über die Afrikanische Union etwa als Institution mit ihrem Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechten und guter Regierungsführung? Oder über die „Agenda 2063“, in der die AU ihre Vision von der Zukunft entwickelt hat – „The Africa we want“? Stellen wir uns der Diskussion mit afrikanischen Intellektuellen und Think-Tanks? Haben wir verinnerlicht, dass die Haltung „Afrika hat Probleme, wir die Lösung“ schlicht „outdated“ ist?
Längst ist in Afrika ein Prozess der Selbstvergewisserung im Gang, in dem Europa auch kritisch angesprochen wird. Das sollte uns weder wundern noch ärgern, sondern im Gegenteil freuen und neugierig machen. Warum? Weil wir in dieser Welt des Übergangs keinen unsicheren oder abhängigen Partner brauchen, sondern einen selbstbewussten und berechenbaren. Die Zeit, als man sich in Afrika mit Dankbarkeit an einem Europa orientierte, das alles weiß, ist jedenfalls vorbei. Längst sind wir nicht mehr die einzigen möglichen Partner. Afrika hat Optionen! Allen voran China macht attraktive politische und wirtschaftliche Angebote. Etwas flapsig könnte man sagen: Konkurrenz belebt das Geschäft – Europa als immer noch wirtschaftlich wichtigster Partner sollte schon aus eigenem Interesse die bessere Partnerschaft anbieten. Und ich denke, Europa hat alle Voraussetzungen dafür.
Es ist in Afrika viel beachtet worden, dass Ursula von der Leyen als neue Präsidentin der EU-Kommission für ihren ersten Auslandsbesuch zum Sitz der Kommission der Afrikanischen Union nach Addis Abeba gereist ist. Ich habe selbst mit deren Vorsitzenden, Chairman Moussa Faki, zusammengearbeitet. Beide Spitzenpolitiker denken strategisch – genau das brauchen wir für einen Neustart unserer Beziehungen. Und deshalb ist es gut, dass die EU-Kommission schon Anfang März den Entwurf einer „Comprehensive Strategy with Africa“ vorgelegt hat. Der Entwurf schafft einen Bezugspunkt für die notwendige Diskussion auch in den nationalen Parlamenten Afrikas und Europas. Beide Seiten müssen sich jetzt über ihre jeweiligen „top priorities“ in der Zusammenarbeit klar werden. Dass der AU-EU-Gipfel coronabedingt aufs Frühjahr verschoben werden musste, schafft dafür Zeit. Darum kann ich es nur begrüßen, dass Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, heute gemeinsam mit afrikanischen Kolleginnen und Kollegen im Gespräch sind. Für Europa wünsche ich mir im Übrigen auch eine Diskussion darüber, wie hier die nationalen Afrikapolitiken besser koordiniert werden können.
III.
Damit bin ich bei einer zweiten Voraussetzung einer substanziell neuen Partnerschaft: der wechselseitigen Verantwortung. Die Hauptverantwortung für eine gute Zukunft des afrikanischen Kontinents liegt bei den Afrikanern. Und längst wird dort auch ausgesprochen, was dafür das Wichtigste ist: „honest and accountable leaders“. Längst hat die afrikanische Zivilgesellschaft die Frage von „good governance“ zu ihrer eigenen gemacht. Der „Ibrahim Index of African Governance“ misst Fortschritte in Bereichen wie „rule of law“, Teilhabe, Bildung oder Gesundheit. Zehn Jahre lang maß dieser Index Fortschritte, im letzten Jahr dokumentierte er erstmals einen Rückschritt. Das ist beunruhigend und muss benannt werden – aber ohne Selbstgerechtigkeit. Uns Europäern sollte bewusst sein, wie lang unser eigener Weg zu Demokratie, Rechtsstaat und guter Regierungsführung war. Und dass einmal Erkämpftes nicht für alle Zeiten gesichert ist, dafür müssen wir in diesen Tagen gerade in unseren Breitengraden nicht weit blicken.
Der afrikanischen Verantwortung steht aber auch eine europäische gegenüber. Korruption und „illicit financial flows“ etwa tragen auch die Nummern europäischer Bankkonten. Europa muss sich zudem der Frage stellen, ob die Wirtschaftspartnerschafts-Abkommen afrikanischen Ländern genügend Unterstützung geben für den Aufbau landwirtschaftlicher und industrieller Wertschöpfung, ob sie genügend Schutz bieten für seine „infant industries“ und ob und wie sie zur Implementierung des großen afrikanischen Binnenmarktes beitragen. Die Beispiele zeigen: Wir Europäer müssen endlich erkennen, wo afrikanische Interessen in der langen Sicht mit unseren zusammenlaufen – und damit auch eine gemeinsame Verantwortung begründen.
Ein für Europa offensichtlich besonders sensibles Beispiel liegt mit der Agrarpolitik auf dem Tisch. Kein Zweifel: Hunger in Afrika geht vor allem auf hausgemachte politische Versäumnisse zurück. Doch darüber hinaus erschwert es die europäische Agrarpolitik mit ihren Regulierungen und milliardenschweren Subventionen, in Afrika eine leistungsstarke Agrarwirtschaft aufzubauen. Zugleich gibt es – zumindest in der Wissenschaft – keinen Zweifel mehr, dass die hiesige industrielle Landwirtschaft immer mehr auf Kosten von Böden, Grundwasser und Artenvielfalt geht, dass unsere Fleischindustrie und unser Fleischkonsum in anderen Teilen der Welt Entwaldung und Erderwärmung mitverursacht. Eine beiderseitige „Landwende“ brächte beiden Kontinenten Gewinn. Europa müsste seine industrielle Landwirtschaft zur ökologischen umbauen und mit öffentlichen Geldern nicht mehr den Besitz von Flächen belohnen, sondern ökologische Wertschöpfung. Afrika wiederum bekäme mehr Raum für eine produktive eigene Agrarwirtschaft, mit Arbeit und Einkommen für Millionen Menschen.
Das Beispiel macht deutlich, dass sich – wie in einem System kommunizierender Röhren – manche Strukturreformen in Afrika und Europa wechselseitig bedingen. Voraussetzung ist buchstäblich ein neues Denken und Handeln in der Vertikale: von Afrika über das Mittelmeer bis nach Europa und umgekehrt. Genau das ist auch die Grundidee einer Stiftung der früheren französischen Ministerin Elisabeth Guigou und des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Im Rahmen der „Verticale Afrique-Méditerranée-Europe“ (AME) sollen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Think Tanks beider Kontinente gemeinsam Zukunftsvorstellungen entwickeln. Ich meine, dies sollte die Aufmerksamkeit der AU- und EU-Kommissionen und der Staats- und Regierungschefs finden. Die „Vertikale“ könnte beispielsweise ausloten, wo und wie die offensichtlichen Asymmetrien zwischen Afrika und Europa zu gemeinsamen Chancen werden können – nicht nur in der Landwirtschaft, sondern beispielsweise auch in der Frage, wie sich der immense realwirtschaftliche Investitionsbedarf der jungen, kapitalarmen Gesellschaften Afrikas verbinden lässt mit den brachliegenden Ersparnissen der alternden Gesellschaften Europas.
IV.
Fest steht: Beide, Afrika und Europa, müssen in dieser Welt im Umbruch ihre Positionen neu bestimmen. Wohin zu einseitige Abhängigkeiten führen, haben nicht erst die Monate der Pandemie deutlich gemacht. Deshalb haben gerade Europas Unternehmen allen Grund, Afrikas Zukunftsmärkte mit zu entwickeln. Die kommende Freihandelszone birgt das Potenzial eines Binnenmarktes mit bald über zwei Milliarden Menschen vor der europäischen Haustür. Dort allein verkaufen zu wollen, wird nicht ausreichen. Die europäischen Wirtschaftsverbände sollten aus eigenem Interesse gemeinsam – und mit afrikanischen Partnern – Ideen und Strategien entwickeln, wie sie dazu beitragen können, Afrika zu einem neuen Wachstumspol in der Weltwirtschaft zu machen. Das ist möglich: mit Investitionen in die Infrastruktur, mit lokaler Fertigung im Verbund mit der lokalen Wirtschaft, mit industriellen Clusterbildungen großer und kleiner Unternehmen, mit Technologietransfer und Ausbildungsangeboten. Die EU-Kommission hat in ihrer „Comprehensive Strategy with Africa“ die Unterstützung der afrikanischen kontinentweiten Freihandelszone (AfCFTA) als „top priority“ benannt – gut so! Das muss jetzt aber auch hier alle Kräfte zu ihrer Implementierung mobilisieren.
V.
Meine Damen und Herren, die Pandemie ist eine Zäsur. Sie kann zu einer Wendemarke für beide Kontinente werden. Krisen setzen auch neue Kräfte und Ideen frei. Und First things first: Ein Impfstoff gegen COVID-19 muss Afrikanern wie allen anderen Menschen schnellstmöglich als „globales öffentliches Gut“ zur Verfügung stehen. Ich unterstütze den Appell der Initiative „People’s Vaccine“ an führende Pharmaunternehmen, ihre Technologie und ihr geistiges Eigentum im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation zu teilen. Und Europa sollte jetzt Fürsprecher für Schuldenerleichterungen für afrikanische Staaten sein.
Darüber hinaus aber sollten sich Afrika und Europa als Partner in den großen Suchprozessen unserer Zeit zusammentun. Die Welt steht vor einer Großen Transformation. Beide Kontinente haben – wenn auch ganz unterschiedlichen – Veränderungsbedarf. Beide müssen Entwicklungspfade finden, die ein Leben in Würde für alle Menschen möglich machen, ohne den Planeten zu zerstören. Beide Kontinente können durch Kooperation nur gewinnen. Der politische Rahmen für diese Zusammenarbeit ist da: Es sind die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und das Klimaabkommen von Paris. Das ist die strategische Alternative zu einer Welt der nationalen Egoismen und geopolitischen Zuspitzung.
Gemeinsam vereinen Europäische und Afrikanische Union rund 40 Prozent der internationalen Staatengemeinschaft. Stellen Sie sich vor, was wir erreichen können, wenn wir in multilateralen Initiativen gemeinsame Positionen entwickeln, für Klimaschutz und den Erhalt von Ökosystemen, für die Gestaltung der Digitalisierung oder für einen fairen Welthandel. Ich bin deshalb übrigens froh, dass sich die EU geschlossen hinter die Kandidatur von Ngozi Okonjo-Iweala als neue WTO-Chefin gestellt hat. Das stärkt Afrikas Stimme in der Welt, und es bringt eine fähige Frau an die Spitze, die den nötigen Elan in die festgefahrenen Debatten um die Reform des Welthandelssystems bringen kann.
Ich bin überzeugt, wenn Afrika und Europa in einer substanziell neuen Partnerschaft zusammenarbeiten, mit einer neuen Haltung, in wechselseitiger Verantwortung und gemeinsamen Investitionen, dann kann nicht nur Afrika seine eigene Vision verwirklichen. Dann könnte eine afrikanisch-europäische Vertikale auch zu einem neuen Gewicht in der Welt werden.