„Nicht aufgeben“

Verleihung der Dag Hammarskjöld Ehrenmedaille
Berlin, 10. März 2020



I.
Ich erinnere mich noch gut, wie ich das letzte Mal, im Oktober 2015, zum 70. Geburtstag der Vereinten Nationen als Gast der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen zu Ihnen gesprochen habe. Heute, knappe fünf Jahre später, und damit im 75. Gründungsjahr, bin ich genauso gern zu Ihnen gekommen, auch wenn vieles anders ist. Damit meine ich nicht nur den Anlass. Ich freue mich über die Ehrung und danke dafür. Und herzlichen Dank, auch an Sie, lieber Sigmar Gabriel, für Ihre wohlwollenden und ermutigenden Worte. Anders ist heute die weit weniger erfreuliche Weltlage mit ihren tiefgreifenden Veränderungen und einer sich abzeichnenden Erosion der multilateralen Zusammenarbeit.
Aber wer sich auch nur ein wenig mit der Persönlichkeit Dag Hammarskjölds befasst hat, weiß: Er hätte sich nicht entmutigen lassen. In den damals noch jungen Vereinten Nationen hat er als Generalsekretär Standards gesetzt: Mit seiner Hingabe, mit seinem politischen Realitätssinn, vor allem aber mit seinem beharrlichen Optimismus, der ihn – trotz vieler Enttäuschungen – an der Vision eines globalen Gemeinwohls festhalten ließ. Und so verstehe ich sein oft zitiertes Diktum, die Vereinten Nationen seien nicht gegründet worden, um die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten, nicht als Appell zur Nachsicht mit den Schwächen der Institution. Es ist vielmehr eine Aufforderung, nicht aufzugeben, egal wie groß die Kluft erscheinen mag, zwischen der Welt, wie wir sie uns wünschen würden, und der ernüchternden Realität. Nicht aufzugeben, an die Idee der Vereinten Nationen zu glauben und für sie zu arbeiten.
Wie wir den Zustand der Welt bewerten, ist ja immer auch eine Frage der Perspektive. Der Philosoph Peter Sloterdijk stellte vor einigen Jahren fest: „Ein und derselbe Weltzustand sieht völlig anders aus, je nachdem ob man ihn vom Chaos aufwärts ansieht oder vom Ideal abwärts. Aus der ersten Perspektive ist jeder Ansatz zu einer Ordnung ein Wunder, aus der zweiten erscheint noch die bestmögliche Wirklichkeit als ein Skandal.“
II.
Wie ein Wunder erscheint es von heute aus gesehen, dass – mitten im Chaos des Zweiten Weltkriegs – die politische Kraft da war, eine globale Friedens-Institution voranzutreiben. Wir sollten nicht vergessen, dass wir die Gründung der Vereinten Nationen im Oktober vor 75 Jahren vor allem den Vereinigten Staaten von Amerika verdanken, namentlich den Präsidenten Roosevelt und Truman.
Und wie ein Wunder erscheint es auch, angesichts der heutigen Blockaden der internationalen Zusammenarbeit, dass sich vor fünf Jahren die Nationen der Welt auf die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung einigen konnten. Bei der Vorbereitung dieser Dankesworte ist mir das noch einmal so richtig klar geworden. Auch wenn es so war wie bei den meisten Wundern – dahinter steckte harte Arbeit. Ich bin froh, dass wir diese Arbeit schon vor 5 Jahren bewerkstelligen konnten, denn heute wäre sie so nicht mehr zustande gekommen. Und ich bin dankbar, dass ich meinen Teil dazu beitragen konnte. Ein bisschen will ich Ihnen von dem Prozess, der zu diesem globalen Zukunftsvertrag geführt hat, erzählen.
Nachdem ich auf Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkel (im Juli 2012) von Generalsekretär Ban Ki-moon in das „High Level Panel“ berufen wurde, kamen wir – 27 Persönlichkeiten aus aller Welt – zusammen, um darüber zu beraten, wie man die 2015 auslaufenden „Millennium Development Goals“ weiterentwickeln könnte. Ausgangspunkt unserer Arbeit war der Bericht eines Task-Teams an den Generalsekretär der Vereinten Nationen (mit dem Titel) „Realizing the Future we want for all“. Und das war auch der Anspruch des Panels: eine Zielvorstellung für alle Menschen auf dieser Welt zu entwickeln. Zu unseren Beratungen sind wir in New York, in London, Monrovia und auf der Insel Bali in Indonesien zusammengetroffen. In Monrovia ging es unter dem Vorsitz der liberianischen Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf vor allem um die strukturellen Ursachen und Probleme der Armut. Der indonesische Präsident (Susilo Bambang) Yudhoyono zeigte erschütternde Bilder von der Zerstörung der Mangrovenwälder – und machte darauf aufmerksam, dass die Spur der Verursachung des menschengemachten Klimawandels vor allem in die Industrienationen führt. Die jordanische Königin Rania warb beharrlich für die Belange der Frauen, für Bildung und lebenslanges Lernen. Der chinesische Diplomat Yingfan Wang konzedierte – diplomatisch – die Notwendigkeit, auch über „Good Governance“ zu sprechen. Die Ministerin für Planung und Finanzen von Timor-Leste, Emilia Pires, machte klar: Entwicklung gibt es nicht ohne Frieden. Und der indische Wirtschaftswissenschaftler Abhijit Banerjee, der am MIT in den USA lehrt und im letzten Jahr mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde, ermahnte das Panel, auch die Messbarkeit und damit Kontrollierbarkeit der vereinbarten Ziele zu bedenken.
Überall haben wir mit Menschen aus der Zivilgesellschaft gesprochen, aus Unternehmen, aus Politik und Wissenschaft, und mit jungen Menschen. Wir sind da auf viel Kompetenz und Engagement gestoßen. Wir erfuhren Erschütterndes, aber auch Ermutigendes. Vor allem aber lernten wir viel über die Zusammenhänge, und dass es deshalb nicht reicht, Ziele nur für Entwicklungsländer zu entwerfen. Das Panel war sich einig: Es geht darum, allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Es verlangt einen Paradigmenwechsel in der globalen Politik, der der Interdependenz auf unserem Planeten Rechnung trägt und nationale Interessen und Politik in den Kontext eines globalen Gemeinwohls stellt. Wir haben dafür den Begriff der „globalen Partnerschaft“ gewählt – und verstehen darunter einen neuen Geist der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht.
Unser Bericht “A new global Partnership: Eradicate poverty and transform economies through sustainable development” schuf eine Grundlage für die anschließenden Verhandlungen der Regierungsvertreter in der Open Working Group“ der Generalversammlung der VN. Im September 2015 unterschrieben dann die Staats- und Regierungschefs von 193 Mitgliedsländern der Vereinten Nationen in einem feierlichen Akt die „2030 Agenda for Sustainable Development“. Für mich ist dieser Akt – und vielleicht noch mehr der Prozess dahin – ein Beweis: Es gibt sie, die „internationale Gemeinschaft“.
III.
Gibt es sie heute noch, die internationale Gemeinschaft? Ausgerechnet der Präsident des Landes, ohne das die Vereinten Nationen heute nicht existieren würden, lässt daran Zweifel aufkommen und verfolgt mit brutaler Offenheit und ohne Rücksicht auf andere seine nationalen Ziele. Im Januar 2020 brachte UN-Generalsekretär Guterres die weltpolitische Lage vor der Generalversammlung so auf den Punkt: „Geopolitische Spannungen, die Klimakrise, das globale Misstrauen und die Schattenseiten der Technologie können unsere gemeinsame Zukunft gefährden“. Wie eng unsere Welt verflochten ist, wie verletzlich uns das macht, und wie wenig Grenzen, Mauern oder Zölle helfen, Probleme zu lösen, zeigt gerade die Corona-Pandemie. Es gibt Herausforderungen, die kein Land der Welt – so groß und mächtig es auch sein mag – allein lösen kann.
Politik – und gerade internationale Politik – ist kein linearer Prozess. Das Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren wurde von manchen als Triumph der liberalen Demokratie und als „Ende der Geschichte“ gefeiert. Das war offensichtlich eine Illusion. Wir sind schon mitten in einem neuen Kapitel der Geschichte, dessen weiterer Verlauf und Ausgang noch offen ist. Die bisherigen Gewissheiten des transatlantischen Jahrhunderts verflüchtigen sich jedenfalls im Zeitraffer. Überall auf der Welt kommen Autoritarismus und Nationalismus auf. Die modernen Kommunikationstechnologien ermöglichen es, Täuschung und Inszenierung, ja Lüge, wie nie zuvor zum Mittel der Politik zu machen. Und selbst in Europa preisen jetzt einige die illiberale Demokratie.
Wo liegen die Ursachen für die allenthalben zu beobachtende Verunsicherung, ja Angst der Menschen? Wie erklärt sich die Renaissance von Identitätspolitik? Können Erziehung, Bildung, Regelsetzung nicht mehr Schritt halten mit der Welt der sozialen Medien? Ist die Globalisierung möglicherweise zu weit gegangen? Der Entwicklungsökonom Dani Rodrik zum Beispiel spricht schon seit geraumer Zeit von einem „fundamentalen politischen Trilemma“: nationale Selbstbestimmung, Demokratie und grenzenlose wirtschaftliche Globalisierung („Hyperglobalisierung“ nennt er sie) seien alle drei nicht gleichzeitig zu erreichen. Wo Demokratie und nationale Selbstbestimmung erhalten bleiben sollen, braucht es (so Rodrik) „Globalisierung mit Augenmaß“. Manche sehen schon einen Prozess der De-Globalisierung voraus. Deutschland mit seiner stark exportbasierten Wirtschaft ist allemal aufgefordert, sich hierüber zügig Gedanken zu machen.
IV.
Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stehen wir also vor einer ganzen Reihe schwerwiegender politischer Fragen. Der Weg zurück in Nationalismus und Abschottung wäre aber fraglos die falsche Antwort, ein Irrweg. Er würde – wie ich glaube – das Leben der allermeisten Menschen auf unserem Globus am Ende dramatisch verschlechtern. Was wir deshalb jetzt brauchen, neben Allianzen für Multilateralismus, ist vor allem eine Stärkung der Vereinten Nationen und die entschlossene Umsetzung der „2030 Agenda für Nachhaltige Entwicklung“ und des Klimaabkommens von Paris. Diese Beschlüsse sind die strategische Alternative zu einer Welt der nationalen Egoismen, der machtpolitischen Konfrontationen und des globalen Unfriedens. Das heißt aber auch: Wir haben eine Alternative!
Ich bin nicht pessimistisch. Ich glaube, dass die Idee einer großen Transformation in allen Gesellschaften dieser Welt bereits Fuß gefasst hat. Die Agenda 2030 ist auch kein zentraler Masterplan, der den Mitgliedsländern der Vereinten Nationen ein „One Size Fits All“-Rezept vorgibt. Sie lässt Raum für Ausgestaltung, entsprechend der nationalen, regionalen und lokalen Bedingungen. Wichtig ist das Mitmachen aller in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist auch das Grundanliegen der von Generalsekretär Guterres ausgerufenen „Aktionsdekade 2030“. Und dafür haben die Vereinten Nationen ein Erkennungszeichen geschaffen. Es ist der Runde Sticker, den ich trage. Seine Farben stehen für die 17 Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Ich gebe gern Auskunft, was dieser Sticker bedeutet, wenn ich oft danach gefragt werde. Doch ja, ich ärgere mich auch, dass immer noch die meisten Menschen in Deutschland dieses symbolische Mitmach-Zeichen gar nicht kennen.
Ich halte es für unabdingbar und auch moralisch begründet, dass die Industrieländer ihre besondere Führungs-Verantwortung in der Aktionsdekade 2030 erkennen und wahrnehmen. Auch für die USA bin ich übrigens nicht pessimistisch. Es gibt dort ja nicht allein die VN-feindliche Rhetorik und die Leugnung des menschengemachten Klimawandels seitens der gegenwärtigen Regierung. Es gibt auch die anderen Stimmen. So hat sich etwa ein Bündnis von Bundesstaaten und Städten, der Wirtschaft und Zivilgesellschaft, mit einem entschiedenen „We are still in“ gegen den Ausstieg der USA aus dem Klimaabkommen von Paris positioniert. Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika und so wie ich die Amerikaner politisch und privat kennen gelernt habe, geben mir letztlich mehr Zuversicht als Grund zur Sorge: Diese große Nation wird den jetzigen Irrweg nicht auf Dauer gehen. Aber klar ist auch, dass gerade Deutschland und Europa zur Sicherung ihrer Zukunft politische Neubewertungen vornehmen und handlungsfähig sein müssen.
V.
Meine Damen und Herren, der Name „Dag Hammarskjöld“ verpflichtet. Seine Berufung war damals ein Kompromiss zwischen verfeindeten Großmächten, deren Interessen unüberbrückbar schienen. Durch Integrität, Entschiedenheit und geduldiges Arbeiten hat er den Vereinten Nationen als Hüterin des globalen Gemeinwohls Leben eingehaucht. Er hat uns vorgemacht: Wir sind nicht zum Scheitern verurteilt, sondern zu hoffendem Handeln aufgefordert! Wir wissen nicht, ob wir alles richtig machen, aber wir dürfen hoffen, solange wir die Kraft aufbringen zu handeln.
Wir sollten uns bei allen Mängeln, Ineffizienzen und dem daraus folgenden Reformbedarf – vor allem für den Sicherheitsrat – davor hüten, die Vereinten Nationen so schlecht, so ineffizient und so machtlos zu reden, wie es manchen opportun erscheint. Und wir sollten bei aller nötigen Kritik immer auch darauf achten, dass das positive Wirken der Vereinten Nationen nicht übersehen wird. So klein und unbedeutend die Erfolge bisweilen erscheinen mögen, so mühsam und frustrierend sie oft zustande kommen: Die Vereinten Nationen setzen immer noch globale Standards, auch wenn deren Durchsetzung Zeit braucht und es immer wieder Rückschläge gibt – ich denke etwa an die jüngste Resolution zu Gewalt gegen Frauen in Konflikten. Die Vereinten Nationen bleiben die Stimme derer, die sonst nicht gehört werden. Für einen großen Teil der Menschheit haben sie sich als Segen erwiesen. Daran haben viele mitgewirkt, auch die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Dafür möchte ich danken.
Genau wie vor 5 Jahren – und heute erst recht – möchte ich mit den Worten Dag Hammarskjölds schließen: „Wenn wir die Welt zu verändern versuchen, müssen wir ihr begegnen, wie sie ist. Jene sind verloren, die nicht die grundlegenden Tatsachen der internationalen Interdependenz zu konfrontieren wagen. Jene sind verloren, die sich durch Niederlagen zurück zum Ausgangspunkt eines engen Nationalismus ängstigen lassen. Jene sind verloren, die sich so sehr vor einer Niederlage fürchten, dass sie über die Zukunft verzweifeln. Für all jene mögen die dunklen Prophezeiungen gerechtfertigt sein. Aber nicht für jene, die sich verbieten, ängstlich zu sein; und auch nicht für jene Organisation, die das Instrument darstellt, welches für ihren Kampf zur Verfügung steht – ein Instrument, das zerstört werden kann, aber das, falls dies passiert, wiederaufgebaut würde und sicherlich wird, wieder und wieder“. Ich danke Ihnen.