Nicht nur über Afrika, sondern mit Afrika forschen

Video-Statement zur Eröffnungsfeier des Afrika-Zentrums für Transregionale Forschung
Freiburg, 4. Mai 2020



Ich freue mich, dem neuen Afrika-Zentrum für Transregionale Forschung wenigstens auf diesem Wege einen guten Start zu wünschen. Die Corona-Pandemie macht derzeit auf brutale Weise klar, wie sehr die menschlichen Existenzen auf unserem Planeten miteinander verbunden sind. Transregionale Forschung tut not. Wir brauchen mehr Wissen und mehr Bewusstsein über die globalen Abhängigkeiten, die unser aller Leben prägen. Das neue Afrikazentrum in Freiburg will einen Beitrag dazu leisten, Verflechtungen sichtbar zu machen und globale Wissensasymmetrien abzubauen. Und es will nicht nur über Afrika, sondern mit Afrika forschen. Ich bin sicher, das wird uns neue, wichtige Erkenntnisse bringen.
Noch wissen, hören und verstehen wir viel zu wenig von Afrika – und vergeben dadurch viel. Kein anderer Kontinent wird für die Zukunft Europas wichtiger sein als Afrika. Mit keinem zeigen sich mehr Asymmetrien, und in diesen Asymmetrien mehr Potenzial – zum Guten wie zum Schlechten. Hier unsere alternden Gesellschaften mit ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität – dort die größte Jugendbevölkerung in der Menschheitsgeschichte, mobiler denn je, begierig auf Veränderung und Mitgestaltung, auf Bildung und Jobs. Hier unser vielfach saturierter, ressourcenfressender Lebensstil – dort vielerorts die eklatante Notwendigkeit, elementare Lebensbedingungen zu schaffen. Hier große Sparaufkommen, die kaum noch Erträge bringen – dort ein immenser realwirtschaftlicher Investitionsbedarf. Hier kaum Auseinandersetzung mit unseren historischen Verstrickungen in Afrika und eher wenig Neugier auf die dortigen Transformationen – dort Europa immer noch wichtiger Bezugspunkt und Widerpart; allgegenwärtig in den Landessprachen und -grenzen, in politischen Institutionen und Entwicklungs-Blaupausen.
Vor allem die immer drängendere Frage der afrikanischen Jugend nach Perspektiven ist eine Frage an die ganze Welt. Die Antworten hierauf werden mitentscheiden über Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Sollten wir nicht viel mehr wissen wollen über die Motive und Absichten der jungen Afrikaner, die anderswo nach Perspektiven suchen? Der Ökonom John Kenneth Galbraith sagte schon vor über vier Jahrzehnten: “Migration is the oldest action against poverty”. Müssen wir nicht viel offener nach Schnittmengen suchen, nach Lösungen im beiderseitigen Interesse? Und ist die Wissenschaft nicht als erste aufgerufen, ein differenziertes Wachstumsmodell für die Weltwirtschaft zu formulieren, das dem globalen Zielkatalog der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen unterlegt werden kann? Wäre das nicht auch eine Chance, über den Begriff des Fortschritts nachzudenken, und über das, was wahrhaft Wohlergehen und Sinn stiftet?
Antworten auf solche Fragen finden wir nur im Dialog mit selbstbewussten afrikanischen Partnern, die ihr Eigenes einbringen. Und hier tut sich was in Afrika. In Dakar zum Beispiel treffen seit einigen Jahren Intellektuelle verschiedenster Disziplinen im Rahmen der „Ateliers de la Pensée“ zusammen. In den Beiträgen ihres Forums erscheint der Kontinent als „eines der großen Laboratorien, aus denen neue Formen des sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und künstlerischen Lebens hervorgehen werden“. Mitbegründer Felwine Sarr schreibt selbstbewusst: „L’Afrique n’a personne à rattraper (Afrika hat niemanden einzuholen).“ Die Forderung nach Eigenem bestimmt auch Inhalt und Ton eines aktuellen offenen Briefes zu COVID-19 von über 100 afrikanischen Intellektuellen an ihre politischen Führungen: „(…) it is essential to remember that Africa has sufficient material and human resources to build a shared prosperity on an egalitarian basis and in respect of the dignity of each and everyone. The dearth of political will and the extractive practices of external actors can no longer be used as excuse for inaction. We no longer have a choice: we need a radical change in direction.“ Nimmt der globale Norden solche Stimmen wahr? Vielleicht überfordert uns ja die Gleichzeitigkeit von Not und Aufbruch, von Beharrung und Innovation, die heute auf dem afrikanischen Kontinent herrscht. Aber gerade deshalb ist es so dringend wie bereichernd, die Lücken zu schließen zwischen unseren alten Bildern von Afrika und den neuen vielfältigen Entwicklungen.
Lassen Sie mich abschließend drei Wünsche formulieren:
Erstens: Helfen Sie mit, die komplexen afrikanische Realitäten in Deutschland und Europa sichtbarer zu machen. Informieren Sie über die innerafrikanischen Debatten, von denen wir hierzulande oft gar nicht ahnen, dass es sie gibt, zum Beispiel durch die Befragungen von Afro-Barometer oder die Diskussionen beim Governance-Weekend der Mo-Ibrahim-Foundation. Seien Sie ansprechbar für all jene, die erkannt haben, dass unser Nachbarkontinent nicht nur finanzielle, sondern vor allem politische Investitionen braucht. Dazu gehört auch, unseren eigenen Anteil an globalen Asymmetrien zu durchleuchten, zum Beispiel in Fragen der internationalen Besteuerung (die Unfairness von „Base Erosion and Profit Shifting“), bei der Bekämpfung von Korruption und illegalen Kapitalabflüssen aus Afrika oder auch beim Schutz von „Infant Industries“. Werfen Sie Steine in öffentliche Debatten! Setzen Sie mutig Themen! Und nicht zuletzt: Wecken Sie die Neugier auf Afrika!
Mein zweiter Wunsch lautet: Klammern Sie sich nicht an tradierte Deutungshoheiten. Noch sind wir es ja gewohnt, Debatten nach unseren Perspektiven zu strukturieren und allenfalls zusätzlich ein paar afrikanische Antworten zuzulassen. Zur wissenschaftlichen Freiheit gehört aber, die eigenen Fragen fragen zu können und nicht nur die der anderen beantworten zu müssen. Diese Freiheit ist auch ein wichtiger Bestandteil des Selbstfindungsprozesses, der in Afrika im Gange ist. Und transregionale Forschung erscheint mir prädestiniert, die Weltsicht der jeweils anderen in ihrer eigenen Rationalität ernst zu nehmen. Dieser Ansatz und die Kooperationen, die hier in Freiburg geplant sind, können so auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Afrika und seine Menschen nicht mehr nur als Objekte, sondern endlich als Subjekte wahrzunehmen. Auch für uns wird der Gewinn groß sein, wenn wir aufhören, den Kontinent vor allem darüber zu definieren, was ihm im Vergleich zu Europa fehlt, und umgekehrt zu fragen beginnen, was wir respektieren müssen und am Ende lernen können. So können wir Europäer eine neue Haltung gewinnen, jenseits von arroganter Selbstüberschätzung oder vorauseilender Selbstanklage. Wenn wir Zweifel an den eigenen Antworten zulassen, treten wir nicht als Belehrende auf, sondern als gemeinsam Lernende.
Dabei sollten wir – mein dritter Wunsch – den Prozess der Zusammenarbeit so wichtig nehmen wie die Antworten selbst. Beim Thema der geraubten Kulturgüter etwa hat jede Seite ihre eigenen Fragen an das Thema: Hier geht es darum, sich der Verantwortung für unsere lange verschüttete Kolonialgeschichte zu stellen – dort um die Wiederannäherung an lange verlorene Objekte und die Rückgewinnung kultureller Identität. Indem wir miteinander über unsere Vergangenheiten und Zukunft sprechen, werden auch Vertrauen und Vertrautheit wachsen können, die wir so dringend brauchen. Wir müssen in Beziehungsarbeit investieren. Dafür möchte ich aber auch das anmerken: Oft stecken weder mangelnder Wille noch Arroganz dahinter, wenn hierzulande die afrikanischen Stimmen fehlen, sondern schlicht praktische Gründe wie verweigerte Visa. Da müssen wir gemeinsam Alarm schlagen! Denn Wissenschaft kann nicht leben ohne Begegnung und Austausch.
Meine Damen und Herren, mehr Begegnung, mehr Wissen, mehr Demut: Dazu kann das neue Afrika-Zentrum in Freiburg beitragen. Ich wünsche ihm, dass es ein lebendiger und produktiver Ort für den Dialog wird. Wir brauchen solche Orte dringend, um eine wirkliche Partnerschaft mit Afrika zu erreichen.