Reibung ist Energie

Ehrenessen anlässlich des 75. Geburtstags von Bundespräsident a.D. Horst Köhler
Berlin, Schloss Bellevue, 8. März 2018



Herr Bundespräsident, haben Sie herzlichen Dank für Ihre viel zu großzügigen Worte und diesen wundervollen Abend.

Ich gebe zu, ich bin bewegt. Es ist ein großes Geschenk und Privileg, hier mit so vielen Menschen zusammenzukommen, die ich wertschätze. Aus tiefem Herzen: Danke Ihnen und Euch allen für’s Dasein, nicht nur heute Abend.

Jede und jeder Einzelne von Ihnen und Euch ist ein kurzes oder langes Stück meines Lebens mit mir mitgegangen. Mit jedem Gesicht in diesem Raum verbinde ich Erlebnisse und Begegnungen, die mich bereichert haben: Geschichten des Lernens, des Suchens, des Hoffens; Geschichten des Gelingens, des Scheiterns, des Liebens.

Ich wäre fast geneigt, über jeden von Ihnen eine solche Geschichte zu erzählen, aber meine Ehrfurcht vor den strengen Kolleginnen des Protokollreferats hier im Präsidialamt ist bis heute nicht verblichen, sodass ich mich lieber an die Redezeit halte.

Meine Damen und Herren,

kurz vor meinem 75. Geburtstag habe ich den großen Schritt gewagt und mir neben meinem sehr langlebigen und zuverlässigen Nokia-Tastenhandy auch ein Smartphone zugelegt. Während ich mich noch quäle, die hohe Kunst des Wischens zu erlernen, fällt mir auf, wie viele Produkte, vom Auto zum Fernseher zum Herd, immer glattere, glänzendere Oberflächen bekommen. Und die meisten Kamera-Apps der Handys sind heute standardmäßig mit Schönheitsfiltern ausgestattet, welche die Fotos automatisch von Hautunreinheiten und Gesichtsfalten befreien.

Ich bin kein Soziologe, aber ich frage mich manchmal, ob diese Sehnsucht nach Glattheit, nach Makellosigkeit, dieser Drang der Finger, über eine widerstandslose Oberfläche zu gleiten, nicht auch eine Reaktion sind auf das zunehmende Zerbröseln unserer Gesellschaften, sozusagen ein ästhetischer Rückzug ins Glatte vor einer rauen Welt; einer Welt, die eben nicht von Klarheit und Reinheit geprägt ist, sondern von Komplexität und Ambivalenz.

Dementsprechend sind auch unsere virtuellen Refugien gestaltet: Auch die Algorithmen von Google oder Facebook schützen uns scheinbar vor Widersprüchen und wählen jene Beiträge für unsere Suchergebnisse oder Timelines aus, die am wenigsten inneren Widerstand in uns regen. Auch diese sogenannte „Blase“ ist etwas Glattes, Rundes.

Dabei sind es doch nicht die Glattheiten, sondern vor allem die Unebenheiten, die Brüche und die Widersprüche, die uns als Menschen und als Gesellschaften lernen und wachsen lassen. Nie galt das mehr als heute. Unsere Zeit produziert Konflikte und Widersprüche mit einer solchen Wucht und in einer solchen Dimension, dass unsere Zukunft ganz entscheidend von der Fähigkeit abhängt, produktiv mit Brüchen umzugehen.

Die Politik ist in ihrer Funktion des Interessensausgleichs dabei ganz neu gefordert. Denn im 21. Jahrhundert werden die Schicksale der Nationen durch die ökologische und soziale Interdependenz allen Geschehens auf diesem Planeten unwiderruflich miteinander verwebt. Das verändert fundamental jede politische Kosten-Nutzen-Rechnung, jede Gleichung nationaler Interessen. Und so darf eine Regierung, die das Wohl ihres Landes im Blick hat, nicht mehr nur die unmittelbaren, kurzfristigen Interessen des eigenen Wahlvolkes berücksichtigen, sondern muss auch fragen: Wie wirken sich unsere Entscheidungen (oder auch Nicht-Entscheidungen) auf die kommenden Generationen aus? Wie auf die Menschen anderer Erdteile?

Im Kern steckt darin ein unauflösliches Dilemma: Unser politisches System ist strukturiert nach Nationen und Wahlperioden und damit begrenzt in Raum und Zeit. Die Lösungen aber, die dieses System für eine gute Zukunft aller Menschen hervorbringen soll, müssen genau jene Grenzen überwinden.

Viele Menschen haben ein feines Gespür für diese Dilemmata, sie spüren das Aufkommen eines Epochenwandels, in dem manch gewohnte Ausgleichsmechanismen nicht mehr funktionieren. Sie sehnen sich nach Sicherheit und Klarheit, vielleicht auch: Glattheit. Die Neopopulisten der westlichen Demokratien und die neuen Autokraten aller Herren Länder bedienen diese Sehnsucht, indem sie eine widerspruchsfreie Politikoberfläche mit klarer Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Drinnen und Draußen, ja, sogar zwischen Rein und Unrein bieten. Sie geben Antworten, die erstens einfach, zweitens kurzfristig, und drittens national sind. Das ist absurd und gefährlich, denn die Herausforderungen dieses Jahrhunderts sind erstens komplex, zweitens langfristig und drittens global.

Und deshalb muss es andere Wege geben, die Spannungen zwischen dem Nationalen und dem Globalen, zwischen dem Sozialen und Ökologischen, zwischen Heute und Morgen zu adressieren.

Ich glaube, wir müssen die Widersprüche und Dilemmata unserer Zeit als Quelle politischer Reibung und damit Energie neu entdecken lernen. Paradoxe fordern unsere Fantasie heraus, weil sie uns auf Spuren führen jenseits von denkfaulem Entweder-Oder und Richtig-und-Falsch. Widersprüche sind das Lebenselixier der Demokratie, denn erst durch Alternativen entsteht Freiheit. Deshalb darf Politik nichts zukleistern und nichts glattmachen. Trauen wir den Menschen die schwierigen Wahrheiten zu, die komplexen Debatten und ja, die unfertigen Antworten. Bringen wir sie auf den Tisch!

Auf den Tisch damit, das brauchen wir beispielsweise in der Afrikapolitik, wo sich das formelhafte Beschwören der „Partnerschaft auf Augenhöhe“ in seiner Gönnerhaftigkeit selbst entlarvt. Wo wirklich Augenhöhe herrschte, müsste man sie weder anbieten noch einfordern. Die Formel der Augenhöhe ist der Versuch, etwas glatt zu machen, was nicht glatt ist. Denn natürlich gibt es ganz offensichtliche Asymmetrien zwischen Europa und Afrika, politische und ökonomische. Wir dürfen diese Asymmetrien nicht verschleiern, sondern müssen sie produktiv nutzen, für einen neuen globalen Sozialkontrakt zwischen den alternden, sparstarken Gesellschaften des Nordens und den jungen, investitionshungrigen Gesellschaften des Südens. Es sind hier in der letzten Legislaturperiode viele gute Initiativen entstanden, aber machen wir uns nichts vor: Die Migrationsbewegungen der letzten Jahre, von denen wir in Europa bisher lediglich die Ausläufer gespürt haben, sind kein geschichtlicher Ausrutscher, sondern Boten einer neuen Zeit, in der die krassen Wohlstandsunterschiede zwischen den Ländern von einer unruhigen und wachsenden Jugend im Süden nicht länger akzeptiert werden. Es ist möglich, dieser Jugend Perspektiven zu eröffnen. Die wirtschaftliche Transformation Afrikas kann aber nur in Wechselwirkung mit einer strukturellen Transformation Europas gelingen, einem radikalen und mutigen Neudenken europäischer Agrar-, Industrie- und Handelspolitik, und Migrationspolitik ohnehin. Das ist echte Partnerschaft!

Auf den Tisch damit, das brauchen wir auch bei den Zielkonflikten in der Umwelt- und Industriepolitik bei uns, wo die wirklich unbequemen Fragen nach der Zukunftsfähigkeit etwa der deutschen Automobil- oder Kohleindustrie viel zu lange weggeschoben wurden. Wer den Strukturwandel mit dem Verweis auf Arbeitsplätze heute verschläft, der gefährdet die Arbeitsplätze von morgen. Dabei haben Deutschland und auch Europa alles Zeug für eine zukunftsfähige Energie- und Mobilitätspolitik!

Auf den Tisch damit, das brauchen wir nicht zuletzt für die verheißungsvolle Mühsamkeit des Multilateralismus. Erst vor zweieinhalb Jahren haben sich alle Länder dieser Erde nach einem langen Diskussionsprozess, trotz aller Unterschiedlichkeiten und Konflikte, bei den Vereinten Nationen auf die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung geeinigt. Nehmen wir diese Agenda wirklich ernst. Sie ist die große strategische Alternative zum Klima des Verfalls in der Weltpolitik. Denn natürlich gibt es eine Antwort auf das Größte aller Dilemmata unserer Zeit, das da lautet, allen Menschen auf dieser Erde ein Leben in Würde zu ermöglichen, ohne den Planeten dabei zu zerstören. Diese Antwort liegt weder in der Hybris des Nullsummenspiels noch im Luxus des Zynismus. Nur durch Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen, so schwierig und widersprüchlich sie manchmal sein mag, lassen sich in unserer zusammengewachsenen Welt Lösungen finden, die der Komplexität der Probleme gerecht werden.

Meine Damen und Herren,

ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Demokratien in der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen unserer Zeit neu belebt werden können. Jeder und jede Einzelne von uns ist dazu aufgerufen, sich in diese belebende Auseinandersetzung einzubringen.

Und vielleicht gibt es doch eine Art von Einfachheit, mit der man auf die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit in einer komplexen Welt reagieren kann. Es ist nicht die Einfachheit der Antwort, aber die Einfachheit der Haltung.

Für mich heißt diese Haltung Wahrhaftigkeit. Sie strebt nicht nach Makellosigkeit, sondern danach, sich selbst und den anderen treu zu bleiben, in all der Brüchigkeit und Unebenheit, die unser Menschsein ausmacht.