Verständigung ruft nach Begegnung

Senatsempfang aus Anlass des 400. Geburtstags von Hiob Ludolf
Hamburg, 6. September 2024



„Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30) – Diese Frage steht am Beginn eines folgenreichen Dialogs vor bald 2000 Jahren. Da traf Philippus, ein Mitglied der christlichen Urgemeinde, auf einen Kämmerer aus Äthiopien. So erzählt es die Apostelgeschichte. Über ein Wort aus dem Prophetenbuch Jesaja kommen die beiden ins Gespräch, an dessen Ende der weitgereiste Äthiopier entscheidet, sich taufen zu lassen. Anschließend „zog er seine Straße fröhlich“, heißt es im biblischen Text.
Ganz offensichtlich war es eine gute Begegnung zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur. Der freundliche Austausch begann mit der Verständigung über einen heiligen Text, für den sich beide interessierten, den sie zu achten und zu respektieren wussten.
Begegnung ruft nach Verständigung. Verständigung ruft nach Begegnung. Diese Erfahrung hatte auch Hiob Ludolf gemacht, dessen 400. Geburtstag uns in diesem Jahr Anlass ist, den hohen Wert der Äthiopien- und Nordostafrikastudien in Hamburg zu würdigen. 1649 traf Hiob Ludolf den abessinischen Priestermönch Abba Gregorius in Rom. Und diesmal war es wohl der Äthiopier, der fragte: „Verstehst du auch, was du liest?“ – Abba Gregorius vermittelte Hiob Ludolf, der sich schon während seines Studiums in Erfurt grundlegend mit den Sprachen des Alten Orients und dem Altäthiopischen auseinandergesetzt hatte, eine profunde Kenntnis seiner Sprache. Gemeinsam studierten Hiob Ludolf und Abba Gregorius später am Hofe des Freund und Förderers Herzog Ernst von Sachsen-Gotha Bücher und Berichte über Abessinien (wie Äthiopien damals in Europa genannt wurde). Die Erträge dieses gemeinsamen Studierens erschlossen all jenen in Europa, die sich für Religion, Kultur und Wissen Äthiopiens sowie die Ideen und Auffassungen seiner Menschen interessierten, neue Welten.
Mit Recht gilt Hiob Ludolf als Begründer der modernen Äthiopistik in Europa. Staunend können wir heute auf sein umfassendes Werk blicken, das für Generationen von Philologen Maßstäbe setzte und bis ins 19. Jahrhundert den Standard in der Äthiopistik legte. Doch zugegeben: Nicht jedermann ist die Gabe für solche Blütenlese in die Wiege gelegt. Was uns aber allen eine Lehre sein kann und soll, ist die Haltung jenes Universalgelehrten: Er war neugierig auf Afrika, auf die fremden Welten, die sich ihm durch die Beschäftigung mit der äthiopischen Literatur erschlossen. Er war offen für Begegnung, Austausch, wechselseitiges Lernen. Und er war zeitlebens um echtes Verstehen eifrig bemüht.
Dass wir mit Neugierde, Offenheit und auch einer gesunden Portion Ehrgeiz und Eifer die Begegnung mit unserem Nachbarkontinent Afrika und den Menschen, die auf ihm leben, suchen – das wünsche ich mir.
Wenn wir heute von Afrika in unseren Zeitungen lesen, dann sollten wir uns ernsthaft die biblische Frage stellen: „Verstehst du auch, was du liest?“ – Wie steht es um unser Wissen über Afrika, über die große Vielfalt an Völkern, Kulturen, Religionen und Sprachen des Kontinents? Was ahnen, was wissen wir von dem, was die Menschen dort umtreibt, was sie sich erträumen und erhoffen? Kennen wir das Potential und die Chancen, die Afrika, der Kontinent mit der größten Jugendbevölkerung der Welt, bereithält?
Allein Äthiopien bildet in sich einen ganzen Kosmos ab: Rund 123 Millionen Einwohner zählt der bevölkerungsreichste Binnenstaat der Welt, etwa 90 verschiedene Ethnien leben im Land und es gibt mehr als 70 anerkannte Regionalsprachen in Äthiopien. Die Menschen in Äthiopien dürfen mit Stolz auf eine jahrtausendealte Kulturgeschichte blicken: Neun UNESCO-Weltkulturerbestätten finden sich im Land. Und in Äthiopiens 22 Nationalparks lässt sich eine atemberaubende Flora und Fauna entdecken. Wissen wir darüber?
Über die Probleme Äthiopiens sind wir meist besser informiert, denn sie bestimmen unsere Nachrichtenlage: Furchtbare Bilder sahen wir von dem Tigray-Konflikt, der ab November 2020 zwei Jahre im Norden des Landes tobte, von ungeheurer Brutalität geprägt war und Hunderttausende das Leben kostete. Seit November 2022 herrscht ein fragiler Friede in Tigray, doch in anderen Regionen des Landes reißen die Gräben zwischen Konfliktparteien immer wieder auf. Besorgniserregende Berichte über die Menschenrechtslage in Äthiopien erreichen uns. Millionen im Land sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Ja, es gibt reichlich Grund mit Sorge auf Äthiopien zu blicken. Doch es wäre falsch dabei die positiven Potentiale dieses Landes zu übersehen. Wir tun gut daran, in Sachen Afrika sprachfähig zu werden. Wir brauchen mehr als nur ein Gefühl für afrikanische Belange, sondern solides Wissen um die komplexen Realitäten Afrikas.
Doch die Zahl der Orte in Deutschland, an denen eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Afrika möglich ist, die zum intensiven Studium von Sprache, Geschichte und Kultur, aber auch der den Kontinent betreffenden Gegenwartsfragen einlädt, ist beschränkt. Hier in Hamburg finden Studierende einen solchen Ort am Hiob Ludolf Zentrum für Äthiopistik mit seinem Fokus auf dem Gebiet der Äthiopien- und Nordostafrikastudien. Wer das Horn von Afrika, Nordostafrika in den Blick nimmt, tut dies nicht unter dem Mikroskop. Die wenigen eben von mir zu Äthiopien zusammengetragenen Fakten zeigen bereits, dass es einen weiten Blick braucht. Darum taugt für die hier in Hamburg über Jahrzehnte aufgebaute Forschung und Lehre auch nicht der Begriff des „Orchideenfachs“. Was hier in den Blick kommt, ist kein Forschungsgegenstand, der regungslos unter der Lupe liegt. Wo immer wir Afrika verstehen wollen, müssen wir Afrika begegnen. Und das bedeutet auch: Wir müssen mit Afrikanerinnen und Afrikanern in Dialog treten. Wo Afrika Gegenstand von Forschung und Lehre ist, muss es zugleich auch handelndes Subjekt in Forschung und Lehre sein. Wo über Afrika gesprochen wird, müssen Afrikanerinnen und Afrikaner auch selbst zu Wort kommen. Und das nicht nur am Rande.
Und so freue ich mich besonders, dass es dank des Engagements der Deutsch Äthiopischen Stiftung gelungen ist, hier in Hamburg neben der Hiob-Ludolf-Gastprofessur eine Junior-Stiftungsprofessur für aktuelle Äthiopienstudien und Gegenwartsfragen Nordostafrikas einzurichten. Mit Frau Prof. Dr. Hewan Semon Marye konnten Sie im vergangenen Jahr eine junge Äthiopierin gewinnen, die nun in akademischer Freiheit ihre Perspektiven auf die Geschichte des modernen Äthiopien fortentwickeln und mit den Studierenden teilen kann. Eine Wissenschaft, die sich mit Eifer und Ehrgeiz um echtes Verstehen bemüht, kommt nicht ohne Dialog aus. Mit Blick auf die Äthiopistik stehen Gespräch und Begegnung zwischen Hiob Ludolf und Abba Gregorius dafür beispielhaft.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kritischen Einwurf: Dialog und Austausch dürfen nicht an einer restriktiven Vergabepraxis von Visa für Studien- und Forschungsaufenthalte in Deutschland scheitern. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, damit Begegnung zwischen Wissenschaftlern und Studierenden aus Deutschland und Afrika überhaupt möglich werden kann.
Die Junior-Stiftungsprofessur am Hiob Ludolf Zentrum zielt darauf, mit jungen Akademikerinnen und Akademikern aus Äthiopien heute ins Gespräch zu kommen, aber sie bedenkt auch das Morgen und fragt danach: Wie können wir über den Aufenthalt des wissenschaftlichen Nachwuchs in Hamburg hinaus im Dialog bleiben? Das ist wichtig, denn die Erfahrung zeigt: Wo man über Jahre miteinander im Gespräch bleibt, da wachsen Beziehungen, Bindungen und Vertrauen von unschätzbarem Wert.
Deutschland kann auf eine jahrhundertelange Geschichte des Austauschs und der Begegnung mit Äthiopien zurückblicken. Nur zwei Momente aus dieser langen Geschichte seien erwähnt: Vor 120 Jahren schloss Kaiser Wilhelm II., vertreten durch den Orientalisten Friedrich Rosen, mit dem abessinischen Kaiser Menelik II. einen Freundschafts- und Handelsvertrag. Dieser legte die Grundlage für einen freien Handel im gegenseitigen Interesse beider Länder. An der Modernisierung Äthiopiens waren fortan auch deutsche Experten beteiligt, etwa beim Bau von Bahnstrecken oder der Gründung der Nationalbank. Und es war kein Zufall, dass Theodor Heuss vor 70 Jahren, im November 1954, den äthiopischen Kaiser Haile Selassie zum ersten Staatsbesuch nach dem Zweiten Weltkrieg begrüßen durfte. – Der Besuch endete übrigens hier in Hamburg.
Heute ist Äthiopien für Deutschland ein wichtiges Partnerland der Entwicklungszusammenarbeit. Doch deutsche Privatinvestitionen lassen in Äthiopien und in Afrika insgesamt auf sich warten. Schaut man auf den gesamten Kontinent so beträgt der Anteil des Bestands deutscher Direktinvestitionen 2023 lediglich 1,3 Prozent an allen ausländischen Direktinvestitionen in Afrika. Mehr als dreimal so hoch ist der Bestand chinesischer Direktinvestitionen. Die deutsche Zurückhaltung bei Direktinvestitionen lässt sich nicht allein mit der vielerorts in Afrika anzutreffenden volatilen Sicherheitslage, Defiziten in der rechtsstaatlichen Governance oder korrupten Eliten begründen.
Während China (oder auch Russland) unseren Nachbarkontinent längst auch als Betätigungsfeld für geopolitische Ambitionen sehen, verharren Deutschland und Europa noch immer in einer Art wohlmeinenden Paternalismus gegenüber Afrika. Viele politische und geistige Köpfe in Afrika bewerten dies als Geringschätzung und wenden sich eher von Europa ab. Das ist keine gute Entwicklung. Mein Rat an die deutsche und europäische Politik und nicht zuletzt auch an die deutsche und europäische Wirtschaft ist: Afrikas Zukunftspotential ernst zu nehmen, im Guten wie im Schlechten. Und auch hier kann es dann heißen: „It’s the economy, stupid!“ (Bill Clinton) Ich wünsche mir nicht zuletzt mehr Ideen und Ehrgeiz von der deutschen Wirtschaft, ihr enormes Potential auch als „market maker“ und damit Wachstumstreiber in Afrika einzusetzen. Mit ihrer Ausbildungskompetenz sowie mit ihrem Know-how für technologisches Leapfrogging und industrielle Clusterbildung kann sie gewichtig dazu beitragen, dass in Afrika eine eigene, breite, verarbeitende Industrie entsteht und Arbeitsplätze für seine zunehmend wütende Jugend geschaffen werden.
Deutschlands und Europas Engagement in Afrika sollten nicht aus Angst vor aktuellen und künftigen Migrationsströmen geboren sein, sondern aus der Erkenntnis, dass Respekt und Zusammenarbeit Zukunftsinvestitionen für beide Seiten sind.
Wenn Europa angesichts neuer geopolitischer Realitäten ein enger Partner Afrikas sein und bleiben will, dann darf es sich im geopolitischen Wettrennen um Investitionsmöglichkeiten in Afrika nicht von der engagierten Konkurrenz aus China, Russland, der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten abhängen lassen. Jetzt ist die Zeit, um in Afrika zu investieren!
Als eine solche Zukunftsinvestition in Afrika betrachte ich auch die Unterstützung der Deutsch Äthiopischen Stiftung, die seit nunmehr einem Vierteljahrhundert Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Äthiopien- und Nordostafrikastudien fördert.
Dem großen und fortwährenden Engagement von Ihnen, lieber Herr Professor Uhlig, und Ihren Mitstreitern ist es zu verdanken, dass das Studienangebot der traditionellen Äthiopistik in Hamburg mit der Hiob-Ludolf-Gastprofessur um die Behandlung aktueller, sozial- und politikwissenschaftlicher Fragestellungen zu Nordostafrika erweitert werden konnte. Ohne Sie wäre die Einrichtung der bereits erwähnten Junior-Stiftungsprofessur nicht denkbar gewesen und ebenso wenig die Vergabe zahlreicher Stipendien an Studierende und Promovierende aus Afrika und Europa.
Die Früchte dieses Engagements hätten unseren Jubilar Hiob Ludolf ganz sicher glücklich gemacht. Er wusste: Verständigung braucht Begegnung. Und: Begegnung braucht Förderung. Für die Förderung der Arbeit der Deutsch Äthiopischen Stiftung möchte ich heute entschieden werben. Denn ich bin überzeugt: Jeder Euro ist hier gut angelegt.
Übrigens: Der eingangs erwähnte Kämmerer aus Äthiopien und Philippus begegneten sich nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte auf dem Weg, der von Jerusalem nach Gaza führt. „Ausgerechnet dort!“, mag man heute denken. Wir alle wissen: Das beste Rezept für die Vermeidung und Lösung von Kriegen, Krisen und Konflikten sind Bildung, Begegnung, Austausch und gegenseitige Verständigung. Lassen Sie uns daran mittun!