„Vertrauen ist Gemeinschaftswerk“, Gedanken zum Thema Vertrauen in die Führungseliten der Gesellschaft
19. Wittenberger Gespräch
Lutherstadt Wittenberg, 14. März 2012
I.
Es ist schön, wieder einmal in Wittenberg zu sein – auch wenn die Aufgabe ziemlich anspruchsvoll ist, die mir die Wittenberger Gespräche heute stellen.
Mein Thema lautet „Vertrauen in die Führungseliten der Gesellschaft“. Das sind gleich vier Hauptwörter, denn in den „Führungseliten“ stecken ja die Begriffe Führung und Elite. Über jeden einzelnen der vier Begriffe sind ganze Bibliotheken geschrieben worden, über alle vier wird seit langem debattiert, zu jedem gibt es säckeweise Definitionen, Theorien und Kontroversen. Wer wie ich heute gleich über alle vier auf einmal sprechen und diskutieren soll, der tut gut daran, zunächst einmal zu überlegen, welches Verständnis von den Vieren er selber hat; und im Gespräch muss er dann möglichst auch noch herausfinden, welche Vorstellungen die anderen haben.
Wenn nämlich mehrere über das Vertrauen zu den Führungseliten der Gesellschaft reden, dann kommen sehr schnell sehr viele Kombinationen von Begriffsverständnissen und von Annahmen über die Wirklichkeit zusammen. Es entsteht dann leicht so etwas wie ein Spiegelkabinett, in dem die Gesprächspartner sich selbst und die anderen mal hier, mal dort erblicken, in dem sie sich gelegentlich tatsächlich begegnen und in dem sie sich vielleicht manchmal auch wundern darüber, in welchen Biegungen und Brechungen ihre eigenen Gedanken zurückgeworfen werden. Deshalb will ich, als derjenige, der den Einführungsvortrag hält, zunächst darüber sprechen, was meines Erachtens unter Gesellschaft, Elite, Führung und Vertrauen überhaupt zu verstehen ist.
Ich bin zuversichtlich, dass solche Arbeit am Begriff fast wie von selbst zu Fragen führt wie: Warum braucht ein Land Vertrauen in seine Führungseliten? Wie steht es mit diesem Vertrauen in Deutschland? Was lässt sich tun, um die Voraussetzungen für dieses Vertrauen zu bewahren und zu stärken? Und ich bin überzeugt davon, dass die Qualität der Antworten darauf auch davon abhängt, wie sehr wir uns vorher um die Begriffe bemüht haben.
Mehr als bemühen kann ich mich freilich nicht. Ich habe weder eine ausgefeilte Gesellschaftstheorie zu bieten noch eine Dogmatik des Vertrauens, noch nicht einmal eine selbstgebastelte Führungsphilosophie. Ich kann Sie nur einladen, anzuhören, wie ich laut über unsere vier Begriffe nachdenke. Das 19. Wittenberger Gespräch beginnt also sozusagen mit einem Selbstgespräch.
II.
Damit nun also zum Begriff Gesellschaft. Margret Thatcher soll einmal gesagt haben: „So eine Sache wie Gesellschaft gibt es überhaupt nicht; es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien.“ Und es stimmt ja: „Die Gesellschaft“ hat keine Telefonnummer. Manche halten die Gesellschaft für eine Erfindung der Soziologie, und manche Soziologen wollen inzwischen auf das Wort verzichten, weil sich die Wirklichkeit allzu sehr verändert habe, die das Wort vor mehr als 100 Jahren bezeichnet hat.
Tatsächlich fällt es schwer, bündig zu beschreiben, was Gesellschaft, was unsere Gesellschaft heute ist, wodurch sie geprägt wird. Es fallen mir da zunächst einmal eine Reihe von Sätzen ein, die zeigen, was unsere Gesellschaft nicht oder nicht nur ist:
» Unsere Gesellschaft wird zum Beispiel geprägt und zusammengehalten nicht nur von Menschen, sondern auch von Technik, von Medien, von Institutionen.
» Wir haben in unserer Gesellschaft keinen Oberpriester, keinen König und auch keine Partei, um allgemeinverbindlich zu bestimmen, was als wahr, gut und gerecht gelten soll. Bei uns herrschen Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt.
» Unsere Gesellschaft wird auch nicht zusammengehalten von Ordnungen und Bindungen, wie sie früher, in der Standesgesellschaft, herrschten. Sie erkennt Geburtsadel nur noch als Namenszusatz an, nicht als Vorrecht und Privileg besonderer Chancen. Jede und jeder ist frei, die eigenen Interessen und Neigungen zu verfolgen und des eigenen Glückes Schmied zu sein – im Rahmen der geltenden Gesetze natürlich.
» Unsere Gesellschaft ist nicht nur auf Deutschland begrenzt, denn unser Land pflegt unüberschaubar viele Beziehungen mit Europa und der ganzen Welt und ist unüberschaubar vielen Einflüssen aus Europa und der ganzen Welt ausgesetzt, denken Sie nur an die Europäische Union und an die Vereinten Nationen, aber auch an den Tourismus, wo wir Deutsche ja sowohl Reiseweltmeister als auch gute Gastgeber sind, und denken Sie an das Internet.
» Unsere Gesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft allein der Deutschen, denn natürlich sind etwa die japanische Kolonie in Düsseldorf oder die in Berlin lebenden Menschen mit österreichischem Pass geschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft.
» Unsere Gesellschaft ist schließlich auch nicht nur die Summe aller Lebensbereiche wie etwa Bildungswesen, Wirtschaft, Bundeswehr und Kulturszene. In denen vollzieht sich Gesellschaft, aber die Gesellschaft umfasst alle diese Bereiche und ist doch mehr als sie.
Vielleicht lässt es sich ja vorerst so ausdrücken: Die Gesellschaft ist das große Ganze, das uns alle umfasst, das alle betrifft, das alle angeht und das demgemäß auch alle interessieren sollte, egal ob sie nun Rentner sind oder Studierende, Wissenschaftler oder Bandarbeiter, Künstler oder Verkehrspolizisten.
Woran merkt man nun aber, dass eine Angelegenheit wirklich alle interessiert? Daran, dass über sie kommuniziert wird und dass sich an dieser Kommunikation Viele beteiligen. Dabei kann die Kommunikation unterschiedliche Formen haben – die Aussage in Art. 1 des Grundgesetzes zum Beispiel, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, stellt eine Kommunikation dar, an die wir immer wieder und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen erinnert werden, weil sie immer wieder aufgegriffen, bekräftigt und als Argument gebraucht wird. Durch diese Kommunikation über den Schutz der Menschenwürde macht unsere Gesellschaft sich und anderen klar, wie wichtig dieser Wert für sie ist und auch, dass sie sich dadurch möglicherweise von anderen Gesellschaften unterscheidet. Sie bekräftigt, dass über den Wert der Menschenwürde bei uns Konsens herrscht. Sie beschreibt sich damit selber, sie mißt sich daran, und sie grenzt sich damit von anderen ab.
Kommunikation führt natürlich nicht immer zum Konsens, und wir haben auch keine Konsensgesellschaft, aber Kommunikation führt in vielen Bereichen des Lebens zum Konsens über die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit. Dieser Konsens wird dann zum Beispiel in Gesetze, in Vorschriften, aber auch in ungeschriebene Regeln von Anstand und Sitte gegossen. Dafür ist längst nicht immer Einstimmigkeit nötig, denn man kann sich ja vorher darauf einigen, dass die Mehrheit entscheiden soll, und das geschieht ja auch oft, von der Eigentümerversammlung bis zur Mehrheitsbestimmung in der Verfassung.
Ohne all diesen auf Kommunikation beruhenden Konsens wäre es für uns alle fast unmöglich, unseres Glückes Schmied zu sein, denn dafür sind wir fast immer auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen, und diese Zusammenarbeit braucht ein solides Fundament. So gibt es in allen Lebensbereichen Regeln und Institutionen, die möglichst genau auf die Bedürfnisse des jeweiligen Bereichs zugeschnitten sind, ohne dabei die grundlegenden, gesamtgesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens außer Acht zu lassen. Und es gibt beständig Kommunikation darüber, ob alle Regeln ausreichend aufeinander abgestimmt sind oder fortentwickelt werden müssen.
Darum finde ich insgesamt die Ansicht ausgesprochen plausibel, dass unsere Gesellschaft überhaupt erst durch die Kommunikation über sich selbst entsteht und sich dadurch auch erhält. Gesellschaft ist ein ununterbrochenes Gespräch darüber, wer wir sind und wie wir – quer durch alle gesellschaftlichen Teilbereiche – zusammenleben wollen; ein Gespräch darüber, was uns ausmacht und wonach wir streben. Wir bringen durch dieses Gespräch die Gesellschaft selber hervor, in der wir leben. Es ist oft ein Streitgespräch, das wir führen, aber selbst ein Streitgespräch zeigt ja, dass die Beteiligten auf Augenhöhe miteinander umgehen und einander so nahe sind, dass sie sich mit ihren Argumenten und Gegenargumenten gegenseitig erreichen können. Das bedeutet auch: Wenn wir uns nichts mehr zu sagen hätten – weil wir keine
Gemeinsamkeit mehr sehen, weil wir uns fremd geworden sind, weil wir das Gefühl haben, nicht mehr in derselben Lebenswelt zuhause zu sein – dann wären wir gesellschaftlich am Ende.
Das gesellschaftliche Gespräch über Gesellschaft, über unser Zusammenleben insgesamt, ist unendlich vielstimmig. Wir alle dürfen daran teilnehmen, und wir alle sollten das auch, denn das hilft uns dabei, zu bekräftigen, was sich bewährt hat, und gute neue Antworten zu finden, wo das nötig ist. Unser Gespräch ist zugleich durchmischt von Stimmen aus aller Welt und antwortet auch auf Stimmen aus aller Welt. Dabei ist es in diesem weltweiten Konzert der Stimmen auf eine uns sehr vertraute Weise einzigartig. Wir mögen uns manchmal darüber wundern oder gar ärgern, wie hierzulande gesellschaftliche Debatten geführt werden. Aber es ist für uns mit diesen Debatten auch eine Art Heimatgefühl verbunden.
Meine Damen und Herren,
Kommunikation, wenn sie gelingen soll, setzt eine Menge voraus: bei Kommunikation durch Gespräch zunächst einmal ganz einfach, dass Worte überhaupt eine Bedeutung haben, die von möglichst allen Beteiligten gekannt und als Grundlage der Verständigung anerkannt wird. Wer die Worte dann mit anderem Sinn gebraucht, der wird entweder nicht verstanden oder falsch verstanden, und entweder kann er sich nicht ausdrücken, oder er will lügen und täuschen. Je klarer die Bedeutung der Worte feststeht und je mehr alle Beteiligten erwarten dürfen und darauf vertrauen können, dass niemand sie mit seinen Worten täuschen will, desto leichter gelingt ein Gespräch, und desto eher wird es auch fortgesetzt. Darum ist es eine gesellschaftliche Leistung und zugleich eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation, wenn alle in ihrer Sprache auf Klarheit und Wahrhaftigkeit achten.
Kommunikation setzt außerdem natürlich Interesse voraus, sie verlangt Wissenwollen und die Fähigkeit, mitgeteilte Informationen zu verstehen und richtig zu bewerten. Dabei hilft Bildung, und je besser die Bürger ihre eigene Gesellschaft und deren Ordnung kennen und verstehen, desto mehr Appetit werden sie darauf haben, über den Zustand und die Ordnung dieser Gesellschaft mitzureden. Daher ist für die Art von Kommunikation, die Gesellschaft stiftet, politische Bildung besonders wichtig und wertvoll. Wir sind angewiesen auf mündige Bürger, um mit Wirklichkeitssinn eine Kultur des Vertrauens zu hegen und zu pflegen und gegen Missbrauch zu verteidigen.
Jede Kommunikation ist auf Medien angewiesen, und die Qualität der Kommunikation hat viel mit der Qualität dieser Medien zu tun. Aus den Medien erfahren wir, was andere als interessante Information betrachten, und können uns darüber unsere eigene Meinung bilden. Es gibt Länder, in denen man aus den Medien wenig oder nichts über den Zustand der Gesellschaft erfährt – sei es, weil sie nur Unterhaltung bieten, sei es, weil sie nur Propaganda oder Werbung machen. In unserer Gesellschaft ist das so nicht der Fall, aber auch die Medien hierzulande kennen durchaus die Versuchung und auch den Druck, sich auf Unterhaltung, Werbung und Propaganda zu beschränken. Die Nachrichtenmedien beschreibt zum Beispiel Peter Sloterdijk auch bei uns „als tägliches Menü von Erregungsvorschlägen“. Die beste Versicherung gegen solche Entwicklungen sind wache Bürger, die mehr verlangen.
Meine vorläufige Bilanz zum Begriff Gesellschaft lautet also: Sie ist das, was uns alle umfasst, dessen Zustand uns alle betrifft und angeht, an dem wir alle uns handelnd und unterlassend, redend und schweigend beteiligen und das wir alle hervorbringen durch Kommunikation und Konsens darüber, wie wir zusammenleben und zusammenarbeiten wollen. Die Ergebnisse dieses beständigen gesellschaftlichen Dialogs zeigen, wer wir sind, wer wir sein wollen, wodurch wir uns als Gesellschaft auszeichnen. Und die Qualität dieser Ergebnisse – und damit unseres gesellschaftlichen Miteinanders – die Qualität all dessen also hängt in hohem Maße ab von einem allseitigen Bemühen um die Klarheit und Wahrheit und den Gehalt unserer Kommunikation und ist angewiesen auf Interesse und Bildung und verantwortungsbewusste Medien.
III.
Wenn in Deutschland das Wort „Elite“ fällt, dann beginnt bei Vielen vor dem geistigen Auge ein kleines Warnlicht zu blinken. Das liegt daran, dass wir Deutsche mit einigen unserer Eliten extrem schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Eliten in Deutschland furchtbar versagt – allen voran die politischen, aber nicht die allein, denn auch in anderen Lebensbereichen haben besonders während der Nazizeit zu viele von jenen, die Spitzenpositionen innehatten und Orientierung hätten geben können, Unrecht hingenommen oder gar mitbegangen. Es ging auch anders, dafür gibt es Beispiele, ich erinnere an Bischof von Galen. Aber diese Beispiele blieben Ausnahme.
Nur: Diese schlechte Erfahrung nimmt uns nicht die Verantwortung dafür ab, auf unsere heutigen Eliten zu achten. Denn selbst wenn wir das nicht täten, wir entgingen ihnen nicht. Jedes Land hat Eliten, ob es das will oder nicht, und seien es auch nur Positionseliten, d.h. Menschen, die die Spitzenpositionen bloß besetzt halten, statt sie auszufüllen.
Das Bemühen um „echte“ Eliten zielt darauf, Menschen zu finden und voranzubringen, die diese Spitzenpositionen in allen Bereichen der Gesellschaft wirklich ausfüllen, mit Leistung und mit Sinn für ihre Verantwortung auch der Allgemeinheit gegenüber. Das kommt uns allen zugute, genauso wie leistungsschwache oder verantwortungslose Eliten uns allen schaden.
Darum gibt es auch keine Wesensfeindschaft zwischen Demokratie und Elitenbildung. Die Demokratie ist ja keineswegs auf die Fiktion gebaut, alle Bürger seien gleich stark, gleich klug und gleich geschickt, und darum sei es gleichgültig, wer nun welche Position einnehme. Wenn es so wäre, bräuchten wir keine Sozialpolitik und kein Bemühen um Chancengerechtigkeit mehr. Die Demokratie lebt aber von der Gleichberechtigung ihrer Bürger, und für die Gleichberechtigung muss man auch bei der Förderung und Auswahl von Eliten etwas tun, damit möglichst alle entsprechenden Talente Aussicht haben, an die Spitze zu kommen. Das stärkt zugleich die Voraussetzungen dafür, dass unsere Eliten in unserem Gemeinwesen fest verwurzelt sind, dass sie Leute bleiben „wie Du und ich“, statt abzuheben und sich abzukapseln.
Solche Eliten machen es übrigens auch den extremen Populisten viel schwerer. Zu deren Standardrepertoire gehört es, auf die „abgehobenen Eliten“ zu schimpfen, die angeblich „das Volk bevormunden“. Diese Denunziation funktioniert nicht, wenn die Bürger wissen: Unsere Eliten zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie zugänglich und durchlässig sind für neue Talente.
Was meine ich nun mit „echten“ Eliten? Das Wort „Elite“ gibt schon den ersten Hinweis, denn es bedeutet Auslese. In eine Elite, wie sie heute für unsere Gesellschaft nötig ist, wird man nicht hineingeboren, sondern man gehört ihr aufgrund einer Auslese an. Diese Auslese sollte möglichst objektiv erfolgen. Sie darf zum Beispiel nicht davon abhängen, ob jemand seiner Herkunft oder seinem Habitus nach denen ähnelt, die bisher die Spitzenpositionen innehaben, und erst recht darf sie nicht allein den aktuellen Eliten überlassen bleiben, denn sonst wird sie zur Brutpflege und befördert nur den eigenen Nachwuchs nach vorne. Die Auswahl darf selbstverständlich auch nicht davon abhängen, ob jemand männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Entscheidend sein sollen allein – wie es so schön im deutschen Beamtenrecht heißt – Eignung, Leistung und Befähigung.
Eine in diesem Sinne objektive Auslese setzt natürlich voraus, dass von Kindesbeinen an möglichst gleiche Bildungschancen bestehen, und zwar auf einem hohen Niveau, nicht etwa dadurch, dass die Anforderungen an alle gesenkt werden und alle eine Eins bekommen, denn das entwertet nur alle Zeugnisse und erleichtert es den Einflussreichen sogar, ihre Verwandten und Bekannten in Spitzenpositionen nachzuziehen.
Von dem Ideal einer solchen Elitenauslese, die bei gegebener Chancengleichheit auf dem gesamten Bildungs- und Berufsweg am Ende allein auf Eignung, Leistung und Verantwortungsbewusstsein abstellt, von diesem Ideal sind wir in Deutschland noch weit entfernt, das belegen viele Untersuchungen. Diese Studien zeigen aber auch, dass Deutschland im internationalen Vergleich in Sachen Fairness der Elitenbildung durchaus mithalten kann. Der Zugang zu Spitzenpositionen steht einem vergleichsweise großen Kreis offen.
Anders als manche anderen Nationen hat Deutschland nach meinem Eindruck nicht eine einzige, durch zentrale Bildungseinrichtungen oder wenige „große“ Familien in ihrem Denken und Auftreten einheitlich geprägte Elite, sondern wir haben unterschiedliche Eliten, die auf unterschiedlichen Wegen Karriere gemacht haben. Es gibt auch hierzulande wissenschaftliche Versuche, diese Eliten zu quantifizieren – da wird dann ihre Gesamtgröße zum Beispiel auf 4000 Personen oder auch nur auf 300 Personen festgesetzt, und alles darüber hinaus wäre dann also wohl so eine Art 2. Bundesliga. Es gibt auch Versuche, die Eliten nach ihren Aufgaben und Leistungen zu unterteilen, beispielsweise in eine Machtelite, eine Verantwortungselite, eine Wertelite, eine Führungselite und was dergleichen mehr ist.
Was die Quantifizierung anlangt, so glaube ich: Wir sollten das Gütesiegel „Elite“ nicht zu sparsam verwenden, denn es bekundet Hochachtung und wirkt ermutigend, und es hilft die Eliten zu „erden“, damit sie sich nicht gar zu exklusiv vorkommen. Für mich zählt zum Beispiel auch ein Handwerksmeister zur Elite, wenn er seinen Betrieb erfolgreich leitet und seinen Kunden ausgezeichnete Qualität bietet, wenn er Ausbildungsplätze schafft und dadurch Nachhaltigkeit sichert und sich in seiner Region gesellschaftlich engagiert, ob nun im Kirchenchor, in der Freiwilligen Feuerwehr oder sonst wie. Und was die Einteilung in Einfluss- und Wert- und Funktionseliten und dergleichen anlangt: Solche Unterscheidungen sind mir zu unscharf. Wer wirklich zur Elite zählt, der muss viele dieser Qualitäten mitbringen und Rollen ausfüllen. Und wer das tut, wird immer auch führen. Aber was heißt nun eigentlich Führen, was ist eigentlich Führung?
IV.
In einer von der Stiftung Wissenschaft und Politik veröffentlichen Studie heißt es: „Führung ist wie Liebe: Sie lässt sich leichter erleben als erklären und erfassen.“
Lassen Sie mich trotzdem versuchen, zu beschreiben, was ich unter Führung verstehe. Dazu möchte ich sie zunächst abgrenzen von den Begriffen Steuerung und Regelung.
Führen bedeutet, andere Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Und zwar im Wesentlichen nicht durch Befehl und Gehorsam, sondern indem die anderen dazu motiviert werden, das gesetzte Ziel möglichst selbstständig und unter Einsatz der eigenen Fantasie zu erreichen. Während Steuerung gewissermaßen ständig irgendwelche Knöpfe drückt und von Schritt zu Schritt im Klein-Klein befangen bleibt, setzt Führung viel mehr auf die Zustimmung, Intelligenz und Kreativität der Geführten. Führung und Steuerung haben aber auch etwas gemeinsam: das hohe Maß an sichtbarer persönlicher Verantwortung desjenigen, der die Ziele setzt. Das unterscheidet meines Erachtens beide von der Regelung – bei ihr wirken mehrere Gleichberechtigte zusammen, ohne dass man so genau sagen kann, wer die Verantwortung für die Ziele trägt, die sie vereinbaren, und für den Erfolg oder Misserfolg, den sie am Ende haben.
Alle Führung beginnt mit der Prüfung, welche Ziele mit den gegebenen Mitteln und angesichts der herrschenden Umstände realistischerweise überhaupt erreicht werden können. Führung versucht erst gar nicht, allgegenwärtig zu erscheinen oder gar zu sein und Lebensbereiche zu prägen, die ihren eigenen Gesetzlichkeiten folgen und sich nicht wirksam beeinflussen lassen. Beispielsweise ist politische Führung gut beraten, nicht etwa das Familienleben der Bürger oder das ganze Wirtschaftsleben dirigieren zu wollen. Wenn die politische Führung das dennoch versucht, führt das nur zu einer problematischen Staatsgläubigkeit (und einer übergroßen Staatsquote) oder womöglich zur Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft; und in der Familienpolitik führt es dazu, dass man am Ende fast 200 familienpolitische Maßnahmen hat, aber nicht weiß, ob und was sie eigentlich bewirken und ob sie sich womöglich sogar konterkarieren – in dieser Lage ist hierzulande die Familienpolitik seit Jahren. Führung setzt Grenzen – zuallererst sich selbst, aber nicht allein sich selbst. In der Wirtschaftspolitik zum Beispiel beruht unser ganzes Modell der Sozialen Marktwirtschaft darauf, dass der Staat dem Wettbewerb Spielregeln gibt und diese Regeln dann auch strikt beaufsichtigt und durchsetzt, ohne selber mitzuspielen. Das ist ein Paradebeispiel für nötige und segensreiche Führung, die sich zu beschränken weiß.
Führung lässt sich an ihren realistischen Zielen auch messen. Sie erklärt, was erreichbar ist, sie wirbt dafür, sich auf das Erreichbare zu beschränken und für das Erreichbare anzustrengen, und sie versucht die Grenzen des Erreichbaren manchmal ein wenig hinauszuschieben, um die bestmögliche Leistung herauszuholen. Und am Ende des Tages lässt sie sich auch ehrlich daran messen, ob sie angepackt hat, was wirklich wichtig ist, und was dabei erreicht wurde.
Führung sucht nämlich Verantwortung. Sie will bewertet werden, und zwar nicht allein hinsichtlich ihrer Ergebnisse, sondern auch mit Blick darauf, wie sie sie erreicht hat. Und wer selbstbewusst führt, der will für seine Leistung auch angemessen behandelt werden: entweder belohnt, oder – abgelöst.
Führung braucht Zeit, schon allein, um ihre Ziele und die Wege dahin zu durchdenken. Wenn der Zeitdruck zu groß wird, der zum Beispiel von den europäischen Entscheidungsmechanismen oder von der Orientierung der Aktienmärkte an Quartalsberichten ausgeht, dann wird aus Führung leicht ein bloßes Getrieben-Sein. Dann schwindet die Fähigkeit, in Alternativen zu denken, dann wird die Entscheidungsmaschinerie nur noch bedient, und dann wird bald nur noch kommentiert, was ohnehin geschieht, und die Kategorien der individuellen Verantwortung, der Alternativen und der nachhaltigen Problemlösung verflüchtigt sich.
Echte Führungspersönlichkeiten empfinden das als einen wahren Graus. Sie brennen dafür, Alternativen zu entwickeln und sie zur Wahl zu stellen. Sie brennen darauf, sich und anderen erstrebenswerte Ziele zu setzen, dafür notfalls auch gegen den Strom zu schwimmen, die jeweils beste Lösung zu erreichen und sich für all das Lob oder Tadel einzuhandeln, für das eigene Tun persönlich einzustehen.
Meine Damen und Herren,
aus dem Gesagten ergeben sich wohl auch einige Umrisse der gesellschaftlichen Bedingungen, die für gute Führung förderlich sind:
» Es ist förderlich, wenn Führungseliten nicht auf unrealistische Erwartungen treffen und auch keine Anreize haben, unrealistische Erwartungen zu wecken, weil ihre Mitbürger allzu leichtgläubig und anspruchsvoll sind. Es hilft Führungseliten, wenn von ihnen nicht alles Mögliche zugleich erwartet wird, sondern Konzentration auf das Wichtige. Es hilft ihnen, wenn sie nicht allen alles versprechen müssen, um führen zu dürfen. Es dient auch der Unterscheidbarkeit der Führungsangebote, wenn sie sich auf Schwerpunkte konzentrieren können.
» Es hilft Führungskräften, gute Arbeit zu leisten, wenn ihr Handeln mit Realismus verfolgt, bewertet und belohnt oder eben nicht belohnt wird. Dafür brauchen wir guten Journalismus, bürgerschaftliche Aufmerksamkeit und ein gesamtgesellschaftliches Gespür dafür, wie viel gute Führung wert ist – viel, sehr viel sogar, aber Boni-Exzesse dürfen auch abgelehnt werden.
» Es sichert gute Führung, wenn Führungsversagen mit wirksamen und empfindlichen Konsequenzen rechnen muss – von der persönlichen Haftung bis zur Abwahl. Darum muss beispielsweise immer wieder darüber nachgedacht werden, wie solche Haftung bei Managern aussehen kann, die anders als Familienunternehmer nur auf Zeit antreten und schnell ungreifbar werden, wenn sie versagt und Schaden angerichtet haben. Und darum sollte das geltende Wahlrecht immer auch unter dem Aspekt betrachtet werden, ob es klare Mehrheiten und eine entsprechend klare Verantwortungsübernahme ermöglicht und ob es die Wähler in die Lage versetzt, einzelne Politiker, die sich nicht bewährt haben, auch wirklich abzuwählen – beispielsweise durch Kumulieren und Panaschieren.
» Es trägt zu guter Führung bei, wenn wir alle miteinander nicht erwarten oder gar verlangen, dass jeden Tag „eine neue Sau durchs Dorf gejagt wird“. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht mehr so leicht von all den Sensatiönchen und Skandälchen ablenken lassen, die uns die Medien täglich auftischen, dann bleibt den Führungskräften auch mehr Zeit, sich auf ihren eigentlichen Job zu besinnen, und dann geraten sie auch weniger in Versuchung, nach demselben Rezept wie die Medien und in Symbiose mit ihnen um unsere Aufmerksamkeit zu buhlen. Wenn das öffentliche Urteil über Führungspersönlichkeiten weniger von ihrer Präsenz in den Medien abhängt, dann bleibt vermutlich mehr Zeit für wirkliche Führung.
Doch genug davon. Das sind alles wertvolle Erleichterungen und Stützen für gute und erfolgreiche Führung. Aber die wichtigste Bedingung für den größtmöglichen Erfolg aller Führung ist Vertrauen.
V.
Vertrauen ist zunächst einmal so eine Art Gefühl. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, Vertrauen zu empfinden. Wir haben es gelernt, von frühester Kindheit an. Es ist uns vermittelt worden: von unseren Eltern, von Freunden. Niemand kann unser Vertrauen erzwingen, nicht einmal wir selbst. Aber wir spüren, wenn es da ist, wenn wir meinen, jemandem vertrauen zu können.
Dabei vertrauen wir nicht blindlings. Wir haben Gründe, wenn wir jemandem vertrauen, und wir können sie nennen, wenn wir danach gefragt werden. Wir räsonieren nur nicht lange, ehe wir vertrauen – das Vertrauen wächst einfach.
Vertrauen verzichtet auf Überwachung. Es entlastet uns von der Anstrengung, soviel wie möglich zu überwachen und zu kontrollieren. Wir vertrauen aber nicht gedankenlos immer weiter, egal, was geschieht. Vertrauen ist wachsam. Es ist sensibel für Anzeichen, die es erschüttern. Es geht leicht verloren. Dann schlägt unser Vertrauen nicht gleich in Misstrauen um, aber wir halten den anderen nicht länger für verlässlich. Dann fällt es uns schwer, wieder Vertrauen zu ihm zu fassen, und ihm, es wiederzugewinnen.
Oft verbindet uns mit demjenigen, dem wir Vertrauen schenken, eine Vorgeschichte, eine längere Zeit der Bekanntschaft. Wir vertrauen aber auch Fremden und sogar technischen Einrichtungen und Institutionen. Wir vertrauen zum Beispiel darauf, dass uns das Flugzeug und sein Pilot sicher zum Ziel bringen werden. Dabei kennen wir ihn gar nicht. Wir vertrauen aber darauf, dass hinter der Konstruktion, der Zulassung und der Wartung des Flugzeuges und hinter der Prüfung und der Beaufsichtigung des Piloten vernünftige, das Vertrauen der Passagiere schützende Regeln stehen – und Menschen, die diese Regeln ernst nehmen und einhalten; und wir gehen, solange wir keine Hinweise für das Gegenteil haben, auch beim Piloten von dem Können und der Gewissenhaftigkeit aus, die unseren Flug sicher machen. Wir vertrauen Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht – einfach, weil wir wissen, dass es seit Jahrzehnten bei unseren Mitbürgern großes Vertrauen genießt, und weil wir (bis auf weiteres) annehmen, dass auch die aktuell dort tätigen Richter die Qualifikation und das Ethos haben, die dem Gericht zu solchem Ansehen verholfen haben.
Wir vertrauen nicht um des Vertrauens willen, nicht aus bloßer Freude am Vertrauen. Sondern wir wollen mit unserem Vertrauen etwas erreichen. Der andere soll etwas für uns tun. Wir vertrauen dem anderen etwas an, vom Briefkastenschlüssel bis zur Wahrung unserer Interessen. Dadurch erweitern wir unseren eigenen Handlungsradius – wir können zum Beispiel in Urlaub fahren, und wir müssen uns in der Bürgerversammlung nicht selber zu Wort melden.
Wir erweitern zugleich den Handlungsradius dessen, der unser Vertrauen empfängt – er kann unsere Post in Empfang nehmen und in der Versammlung für uns mitsprechen. Wir erwarten allerdings, dass er dabei auf unsere Belange angemessen Rücksicht nimmt.
Vertrauen ermöglicht Kooperation, es macht die Beteiligten stärker. Diese Möglichkeit wird von beiden Seiten gewählt. Wenn wir keine andere Option hätten, dann würden wir dem anderen nicht vertrauen, sondern uns in das Unvermeidliche fügen und ihn um Hilfe bitten. Wenn er keine andere Option hätte, dann würde er nicht das ihm angetragene Vertrauen annehmen, sondern er würde sich unserem Wunsch unterordnen. Vertrauen beruht auf beiden Seiten auf Freiwilligkeit, auf freiwilligem Miteinander.
Wir wissen, unser Vertrauen kann enttäuscht werden. Wir setzen uns diesem Risiko aus, obwohl es uns verletzbar macht. Das setzt eine Portion Selbstvertrauen voraus: Wir trauen uns zu, mit einer solchen Verletzung unseres Vertrauens fertigzuwerden. Aber diese Vertrauensverletzung – der Briefkasten quillt über, und von unseren Interessen war in der Versammlung nicht die Rede – würde uns enttäuschen und empören. Vermutlich würden wir anderen darüber berichten und dabei davon ausgehen, dass sie unsere Enttäuschung und Empörung teilen, auch wenn es gar nicht um ihren Briefkasten und um ihr Anliegen für die Versammlung ging. Das liegt daran, dass auch diese Dritten gelernt haben, was Vertrauen bedeutet, wozu es die Beteiligten verpflichtet und wie es sich anfühlt, in seinem Vertrauen verletzt zu werden. Sie können sich in unsere Enttäuschung und Empörung einfühlen. Einfühlungsvermögen ist in vielen Zusammenhängen wichtig. Es hat hier eine sittliche Qualität, weil es von der Schutzwürdigkeit berechtigten Vertrauens ausgeht und Solidarität stiftet mit dem, dessen Vertrauen enttäuscht worden ist.
Eine Vertrauensbeziehung verpflichtet. Darum können wir auch niemandem unser Vertrauen so einfach aufdrängen – der andere kann es auch ausschlagen, zum Beispiel weil es ihm lästig oder zu beschwerlich ist, im Sinne unseres Vertrauens zu handeln. Wenn er es annimmt, dann auch deshalb, weil er sich auch selber etwas davon verspricht: eine künftige Gefälligkeit unsererseits vielleicht, größere Gestaltungsmöglichkeiten, mehr öffentliche Wirkung oder auch, dass er in der Nachbarschaft als vertrauenswürdig und hilfsbereit gilt. Denn vertrauenswürdig sein, das gilt in unserer Gesellschaft als Auszeichnung. Schon Thomas Hobbes schrieb: „Einem anderen glauben, vertrauen und sich auf ihn verlassen heißt ihn ehren, da dies ein Zeichen ist, dass wir ihm Wert und Macht zuschreiben. Einem misstrauen oder nicht glauben heißt entehren.“
Darin liegt zugleich eine Sicherung gegen Vertrauensbruch: Auch der Vertrauensempfänger hat ja gelernt, wie sehr enttäuschtes Vertrauen schmerzt und dass sogar unparteiische und unbeteiligte Dritte über einen Vertrauensbruch empört sind, der sie eigentlich gar nicht betrifft. Er betrifft sie aber doch! Sie fühlen sich mitverletzt, weil sie finden, dass man so nicht miteinander umgehen darf. Das diszipliniert den Vertrauensempfänger, denn er will vor seinesgleichen und meinesgleichen nicht als jemand dastehen, der kein Vertrauen verdient.
Ein Vertrauensverhältnis verpflichtet auch den Vertrauenden: Niemand kann uns zwingen, jemandem zu vertrauen, aber dieser kann uns anbieten, ihn als Vertrauensperson anzunehmen, er kann um unser Vertrauen sogar werben, und wenn wir dann auf dieses Werben eingehen und ihm ein Anliegen anvertrauen, dann müssen wir ihn auch im gesteckten Rahmen gewähren lassen und ihm ein gewisses Ermessen bei der Ausfüllung dieses Rahmens zubilligen.
Meine Damen und Herren,
so ungefähr ist das mit dem Vertrauen. Und es wird daran, glaube ich, schon spürbar, wie sehr Vertrauen auch eine kulturelle und gesellschaftliche Gemeinschaftsleistung ist. Es ist eine Gemeinschaftsleistung, ein Klima des Vertrauens zu stiften – dadurch, dass viele Vertrauensverhältnisse gelingen und intakt bleiben und dadurch, dass derjenige auf breite Empörung, auf den Tadel auch von dritter Seite und sogar auf Strafe trifft, der das Vertrauen Anderer verrät.
Vertrauensbeziehungen zehren darum auch immer von einer kollektiv geschaffenen und gepflegten Ressource. Je mehr intaktes Vertrauen und je weniger Vertrauensbrüche es in einer Gesellschaft gibt, desto mehr Bereitschaft zu vertrauen wird in ihr herrschen; und je stärker derjenige in öffentlichen Misskredit gerät, der Vertrauen enttäuscht oder missbraucht, desto besser sind das individuelle Vertrauen und das allgemeine Klima des Vertrauens geschützt. Vertrauen ist Gemeinschaftswerk.
Führungseliten der Gesellschaft nun leben von Vertrauen. Sie brauchen es untereinander, um ihre Ziele zu erreichen, denn diese Ziele erfordern in unserer arbeitsteiligen und internationalisierten Welt von heute fast immer Zusammenarbeit. Wenn dieses Vertrauen verlorengeht oder gar in Misstrauen umschlägt, dann sind die Folgen schnell katastrophal – von der Vertrauenskrise zwischen Banken, die zur allgemeinen Kreditklemme führt, bis zum Staatenkonflikt.
Führungseliten der Gesellschaft brauchen aber neben ihresgleichen auch das Vertrauen möglichst aller anderen Mitbürger. Sie brauchen zunächst einmal das Vertrauen derer, die sie unmittelbar führen wollen – die müssen ihnen nicht gleich ihre Briefkastenschlüssel übergeben, aber sie müssen das Gefühl haben: Die Führung nimmt auch auf meine Interessen Rücksicht. Dieses Gefühl haben zum Beispiel die Belegschaften von börsennotierten Unternehmen längst nicht immer.
Die Führungseliten brauchen darüber hinaus auch das Vertrauen derer, auf die das Ergebnis ihrer Führung zielt: das Vertrauen der Verbraucher zum Beispiel, die ein Produkt kaufen oder auch nur dessen Herstellung in ihrer Nachbarschaft dulden sollen.
Die meisten Führungseliten bemühen sich darum sehr aktiv um das Vertrauen einer möglichst großen Zahl ihrer Mitmenschen, weil es andernfalls gar nichts mehr zu führen gäbe – ohne Käufer keinen Betrieb mehr, ohne Studierende keine Universität mehr, ohne Wähler keine Regierung, keine Fraktion und am Ende wohl auch keine Partei mehr.
Das alles hebt Führungseliten in Sachen Vertrauen besonders hervor. Sie brauchen besonders viel Vertrauen, und wie sie damit umgehen, das betrifft besonders viele Menschen. Darum ist das Handeln der Führungseliten besonders wichtig für das allgemeine Klima des Vertrauens in unserer Gesellschaft, und darum verfolgt die Öffentlichkeit mit besonderem Interesse, wie sich die Führungseliten verhalten und ob sie das empfangene Vertrauen rechtfertigen oder enttäuschen. Darin liegt eine zusätzliche große Verantwortung dieser Eliten, denn wir wissen ja: Vertrauen wächst allmählich, aber es ist schnell zerstört, und dann lässt es sich nur schwer zurückgewinnen.
Wenn Führungskräfte das von vielen Menschen in sie gesetzte Vertrauen brechen, dann ist das spektakulär und dann geht das uns alle an, denn dann droht das die allgemeine Bereitschaft der Menschen zu verschlechtern, sich gegenseitig zu vertrauen. Wenn Führungseliten Vertrauen verspielen, dann denken viele Bürger: Da sieht man’s mal wieder, überall wird man betrogen. Und sie ziehen sich zurück und sind weniger bereit, zu vertrauen. Und wenn Führungskräfte es sogar darauf anlegen, das Vertrauen anderer zu missbrauchen – indem sie absichtlich Schundpapiere als Wertpapiere verkaufen lassen zum Beispiel – dann stellen diese Führungskräfte die Systemfrage: Dann stellen sie das Fundament unseres vertrauensvollen Zusammenlebens in Frage.
Das alles hat viel mit der Kommunikation über Gesellschaft zu tun, von der ich anfangs gesprochen habe. Ich hatte erwähnt, dass schon Kommunikation an sich auf Wahrhaftigkeit angewiesen ist, denn wenn wir nicht darauf vertrauen können, dass der andere meint, was seine Worte bedeuten, dann wird die Kommunikation schwierig. Auch das Vertrauensklima in unserer Gesellschaft beruht auf Kommunikation – zwischen Vertrauensgeber und Vertrauensempfänger und zwischen denen, die als Dritte erleben und kommentieren, ob Vertrauensverhältnisse intakt bleiben oder zerstört werden. Auch der gute Umgang mit Vertrauen ist also eine Gemeinschaftsleistung, eine gesellschaftliche Errungenschaft, ein Teil dessen, was uns Schutz und Heimat gibt.
Darum ist es so wichtig, auf die Bedingungen zu achten, die Vertrauen ermöglichen und intakt halten.
Ich will nur einige davon ansprechen, denn das Thema wird heute gewiss noch vertieft:
» Wer um Vertrauen wirbt, sollte nicht zuviel versprechen, denn sein Wort gilt. Und umgekehrt: Wer sein Vertrauen gibt, sollte nicht auf jede Anpreisung hereinfallen, sondern nüchtern bedenken, was der andere überhaupt zu leisten vermag. Dann wird der eine nicht überfordert und der andere nicht enttäuscht, und beide verhalten sich ein wenig erwachsener. Eine gute Praxis des Vertrauens achtet darauf, Versprechen auf ihren Realismus zu überprüfen, erst dann zu vertrauen und dann den Rechenschaftsbericht des Vertrauensempfängers darauf zu überprüfen, ob tatsächlich unkalkulierbare und unbeeinflussbare Faktoren die Erfüllung des Auftrags unmöglich gemacht haben – denn das ist eine sehr beliebte Ausrede, wenn es nicht geklappt hat.
» Wir sollten darauf beharren, dass es um uns persönlich geht, wenn wir vertraut haben und enttäuscht werden. Wir sollten uns innerlich dagegen wehren, abgebrüht zu sein. Es gibt inzwischen bei Vielen von uns eine Art Entschlossenheit, sich von den Führungseliten nicht mehr enttäuschen und damit verletzen lassen zu wollen, so etwa nach dem Motto: „Nur die Dummen vertrauen denen da oben überhaupt noch“. Das ist die falsche Einstellung, denn sie entlastet die Führungseliten von der Verantwortung, die sie für unser Vertrauen übernommen haben. Nein, wir sollten es sehr persönlich nehmen, wenn jemand erfolgreich um unser Vertrauen geworben hat und dann nichts oder gar nur Schlechtes damit anzufangen wusste. Empören wir uns! Das hilft auch denen, die unser Vertrauen rechtfertigen.
» Empörung allein reicht aber nicht. Nötig sind Kontrollen, damit Vertrauen nicht völlig in den Graben geritten wird, und nötig sind Sanktionen, damit Vertrauensentzug auch Positionsverlust bedeutet. Diese Kontrollen und Sanktionen sind so tausendfach unterschiedlich wie die Lebensbereiche, in denen sie nötig sind. Die parlamentarische Opposition ist zum Beispiel eine, und die Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Da ist quasi das Misstrauen in die Institutionen eingebaut, damit sie umso mehr unser Vertrauen verdienen. Und die Kontrolle braucht Zähne – vom Untersuchungsausschuss bis zur Möglichkeit, einzelne Politiker und ganze Regierungen abzuwählen.
» Wir sollten darauf bestehen, dass diejenigen, die wir zu Wächtern und Vermehrern des Gemeinwohls bestellt haben, besonders allergisch auf spektakuläre Vertrauensbrüche reagieren, egal, wo die sich ereignen. Unsere Abgeordneten und Minister sind von Amts wegen dazu verpflichtet, für ein gutes Vertrauensklima einzutreten. Darum können wir von ihnen verlangen, dass sie Führungspersonen tadeln, die das in sie gesetzte Vertrauen missachten. Sonst machen sie sich eins mit denen und dürfen dann nicht überrascht sein, wenn sie auch selber an Vertrauen verlieren.
» Wenn jemandem vertrauen bedeutet, ihn zu ehren, und jemandem zu misstrauen, ihn zu entehren, dann sollten wir das im Umgang miteinander beherzigen. Wir haben heute in den Medien eine Sparte, die vom leichtfertigen Verdacht und von der entehrenden Unterstellung lebt. Früher hatten die Medien vor allem Spezialisten für das genaue Verständnis, für das Lesen und Verstehen auch zwischen den Zeilen. Heute haben sie immer mehr Spezialisten für das bewusste Missverstehen und die ehrenrührige Schnödigkeit. Daran sollten wir keine Freude haben und das sollten wir nicht nachfragen – nur dann wird es uns nicht immer mehr angeboten.
» Und schließlich: Unsere Gesellschaft darf sich nicht so sehr auseinanderentwickeln, dass die Führungseliten und diejenigen, die ihnen vertrauen sollen, gar nicht mehr in derselben Lebenswirklichkeit zuhause sind. Vertrauen lebt von gleicher Augenhöhe: Man muss sich in die Augen blicken können, und man sollte gezwungen sein, sich immer wieder in die Augen zu blicken, weil es ein Wiedersehen gibt. Das gibt es aber nur da, wo es auch ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit gibt und an Miteinander – in der Parteiversammlung, im Sportverein, in der Kirchengemeinde: an Gleichheit und Miteinander zwischen denen, die unmittelbar am Vertrauensverhältnis beteiligt sind, und mit den Dritten, die als unparteiische Betrachter verfolgen, wie sich das Verhältnis entwickelt, und die es stabilisieren, weil ihre Anerkennung winkt und ihre Empörung droht.
Intaktes Vertrauen setzt also ein intaktes gesellschaftliches Miteinander voraus. Und zu diesem Miteinander tragen wir bei, indem wir über unsere Gesellschaft und über ihr Vertrauensklima offen sprechen – wie hier und heute, wie beim Wittenberger Gespräch. Herzlichen Dank.