Vom Objekt zum Subjekt geopolitischer Diskurse: Afrika 140 Jahre nach der Berliner Konferenz
Eröffnung 140 Jahre Berliner Konferenz
Berlin, 29. Januar 2025
I.
Lässt sich über Afrikas Geschicke verhandeln, wenn Afrika selbst nur in Gestalt einer Wandkarte vertreten ist? Was heute undenkbar erscheint, war vor 140 Jahren gelebte diplomatische Praxis. – Mitten in Berlin. Keine 700 Meter Luftlinie von hier entfernt. Dort trafen sich im Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße zwischen November 1884 und Februar 1885 die Vertreter dreizehn europäischer Mächte, der USA und des Osmanischen Reichs. Eingeladen hatte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck.
Die Generalakte zur Berliner Konferenz spricht vom „Geiste guten gegenseitigen Einvernehmens“. Der wehte offenbar von den USA über den europäischen Kontinent bis ins Osmanische Reich und nach Russland. Über das Mittelmeer sollte er nicht ziehen.
Afrika in seiner Vielgestaltigkeit war auf der Berliner Konferenz 1884/85 allein Verhandlungsmasse, nicht im entferntesten Verhandlungspartner. Und auch wenn man die – wie es in der Generalakte heißt – „Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften“ auf dem afrikanischen Kontinent wohlfeil als Ziel formulierte und sogar eine internationale Verständigung über die Beendigung des Sklavenhandels zu erzielen vermochte, war doch klar: Triebfeder für die diplomatischen Bemühungen um Einigung war keineswegs Anteilnahme am Schicksal der Menschen in Afrika, sondern vielmehr die Furcht vor kriegerischer Konfrontation und Auseinandersetzung zwischen Europas Mächten.
Wenn man in der Berliner Konferenz einen Erfolg erkennen mag, dann lag er vor allem darin, dass den Europäern untereinander in seltener Harmonie Verständigung über Afrika gelang. Verständigung mit Afrika kam weder ihnen, noch den beteiligten Vertretern aus den USA oder dem Osmanischen Reich, in den Sinn.
Die in Berlin getroffene Einigung auf den Grundsatz effektiver Herrschaft als Voraussetzung für die Anerkennung kolonialer Ansprüche in Afrika, sollte Streit und Zank zwischen den Kolonialmächten verhindern. Zugleich bildete sie für knapp drei Jahrzehnte den Ausgangspunkt für einen expansiven Wettstreit um Macht und Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent. Dieser brachte zahlreiche als territoriale Verwaltungsstaaten organisierte Kolonien hervor. Keine von ihnen hat die afrikanischen Befreiungskämpfe des 20. Jahrhunderts überlebt. Ihre Grenzen aber prägen die politische Landkarte Afrikas bis heute.
II.
Die Berliner Konferenz, die vor 140 Jahren in ihre Schlussphase ging, ist Geschichte. Der von ihr ausgehende „scramble for Africa“ lässt sich aber nicht ad acta legen. Denn er bestimmt bis heute mehr als nur die Grenzverläufe in Afrika. Er bestimmt europäisches Denken über Afrika sowie afrikanisches Denken über Europa und die Beziehungen zwischen beiden Kontinenten. Das 140. Jubiläum der Berliner Konferenz ist ein guter Anlass, um dies kritisch zu reflektieren.
Wir sind freilich nicht die Ersten, die dies tun. Der Politologe, Historiker und Afrikawissenschaftler Franz Ansprenger resümierte vor 40 Jahren die Ergebnisse einer Reihe von Veranstaltungen zum 100. Jahrestag der Berliner Konferenz. Er stellte damals fest, dass das historische Wissen über die Geschehnisse 1884/85 kaum vertieft wurde. Ferner beklagte er, dass immer noch viel zu wenig darüber bekannt sei, „Was die Menschen Westafrikas damals um 1884/85 taten und wie sie über all das dachten, was mit ihnen geschah[…].“ – Wissen wir in Europa heute mehr über afrikanische Perspektiven?
Ich bin den Initiatorinnen dieses Symposiums – der Deutschen Afrika-Stiftung, der Universität Daressalam und dem Farafina Afrika-Haus Berlin – sehr dankbar, dass sie sich ganz entschieden darum bemühen, dass dieses Symposium mehr als die Bühne für einen Binnendiskurs europäischer Afrika-Experten sein will. Der heutige Abend und der morgige Tag sollen uns in einen fruchtbaren Dialog miteinander bringen.
Und zum Dialog gehört zuallererst: aufmerksam zuzuhören, sich für die Perspektive und die Interessen der anderen Seite zu öffnen. Besonders freue ich mich, dass Sie, verehrte Exzellenz Johnson-Sirleaf, verehrter Herr Minister Prof. Dussey, gleich zu Beginn dieses Symposiums ihre Worte an uns richten.
Wo wir, Europäer und Afrikaner, einander aufmerksam wahrnehmen, werden immer auch die Wunden der Vergangenheit und die Narben der Gegenwart sichtbar und fühlbar sein. Angesichts der langen Schatten, die die Berliner Konferenz von 1884/85 warf, steht es den Kolonialmächten von einst gut an, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Und das heißt: Gemeinsam mit Afrikanerinnen und Afrikanern geschehenes Unrecht zu erinnern, anzuerkennen und aufzuarbeiten. Das ist Vergangenheitsbewältigung, gewiss. Aber es ist auch Arbeit an einer besseren Welt von morgen.
Die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit, das Identifizieren kolonialer Kontinuitäten und Denkmuster bedeutet für uns Europäer kritische Selbstreflexion. Diese ist zunächst kein Dienst an den Menschen unseres Nachbarkontinents, sondern notwendige Beschäftigung, um unsere eigene Geschichte, zu der die Kolonialgeschichte nun einmal gehört, und ihre Folgen zu verstehen. Wo wir die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit aber ernst nehmen, da ist sie auch Ausdruck einer Haltung des Respekts gegenüber Afrika, seinen Ländern und seinen Menschen. Diese Haltung des Respekts, die etwas anderes meint, als sich schamhaft weg zu ducken, brauchen wir, wenn eine neue Partnerschaft mit Afrika eine Chance haben soll.
Ich komme noch einmal zurück auf Franz Ansprenger. Er mahnte vor vierzig Jahren mit Recht, dass Kolonialgeschichte „kein exotisches Reservat für Afrikanologen bleiben“ dürfe. Vielmehr gehöre sie „gerade für Europäer zum Erfahrungshintergrund der eigenen Gesellschaft, vor dem Chancen und Gefahren aktueller sowie künftiger Politik sich deutlich abheben.“ Und geradezu auf unsere aktuelle Situation gemünzt liest sich, was Ansprenger 1985 als „Hauptgefahr der Zukunftspolitik“ beschrieb: Die Hauptgefahr sei, „daß wir im 21. Jahrhundert, wenn es auf der Erde ziemlich eng sein wird, genau so borniert unsere Überlegenheits- und Inferioritätskomplexe pflegen und darüber die notwendige Zusammenarbeit verderben werden, wie die Generation vor uns das um 1900 im kolonisierten Afrika (und anderswo) getan hat.“
III.
Wenn die Politik in Deutschland und in Europa heute davor bewahrt wird, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, dann ist dies ganz wesentlich ein Verdienst der Politik der afrikanischen Staaten. Die Stimmen Afrikas in der Welt sind heute hörbarer denn je. Sie sind kräftig und zurecht ungeduldig. Eine von ihnen ist die des Präsidenten Sierra Leones. Julius Maada Bio benannte in einer Debatte des UN-Sicherheitsrats im vergangenen August die Tatsache, dass die 54 afrikanischen Staaten noch immer über keinen einzigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verfügen als „profound historical injustice“.
Wie viele andere fordert er eine angemessene Repräsentation der 1,3 Milliarden Afrikanerinnen und Afrikaner in den Organen der internationalen Staatengemeinschaft. Mit Recht.
Über Frieden und Sicherheit in der Welt zu debattieren, ohne dass auch nur ein einziger Afrikaner oder eine einzige Afrikanerin mit am Verhandlungstisch sitzt?! Das darf nicht länger sein! „African voices, African insights, and African participation must be brought to bear across the Council’s deliberations and actions.” – So die Forderung von UN-Generalsekretär António Guterres, die ich mit Nachdruck unterstütze.
Zur Mitte dieses Jahrhunderts wird etwa ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika leben. Am Ende dieses Jahrhunderts werden es etwa 40 Prozent sein und die Hälfte aller Kinder weltweit wird in Subsahara-Afrika zur Welt kommen. Schon heute ist Afrika der Kontinent mit der größten Jugendbevölkerung weltweit.
Wo es um Akzeptanz und Glaubwürdigkeit von Entscheidungen geht, die die Zukunft unseres Planeten betreffen, müssen und werden die Menschen Afrikas mitreden.
Afrika darf nie wieder Verhandlungsmasse, sondern muss Verhandlungspartner sein!
Afrika ist nicht Objekt, sondern Subjekt geopolitischer Diskurse!
IV.
Wir leben in einer sich rasant wandelnden Welt. Auf unserem Planeten ändert sich nicht nur das Klima. Auch die geopolitischen Parameter verschieben sich derzeit – hin zu einer multipolaren Weltordnung. Wir erleben einen neuen Wettlauf der Großmächte um Macht- und Einflusssphären. Auf der geopolitischen Bühne begegnet uns neben weiteren aufstrebenden Volkswirtschaften auch eine Reihe von afrikanischen Staaten zunehmend selbstbewusst. Ein erstarkendes panafrikanisches Bewusstsein ist spürbar. Die Afrikanische Union gewinnt an Profil und Selbstvertrauen.
Afrika mit seinem Reichtum an natürlichen Ressourcen und Energiequellen und mit seinem gewaltigen demographischen Potential ist heute ein gefragter Partner. Und das beileibe nicht nur für Europa. Während der Westen insgesamt an Glaubwürdigkeit und Strahlkraft einbüßt und Europas Einfluss in Afrika spürbar sinkt, wächst die Prägekraft Russlands und Chinas auf dem Kontinent. Europa ist schon längst nicht mehr der exklusive Partner für Afrika. Afrika hat eine Wahl. Und das ist auch gut so.
Wo stehen wir? Wohin wollen wir? Wen wissen wir als Freund an unserer Seite? Vor wem haben wir uns in acht zu nehmen? – Diese Fragen stellen sich Regierungen in Europa und in Afrika gleichermaßen. Hier wie dort bietet die sich geopolitisch neu strukturierende Welt Chancen und Risiken.
Ich bin weiterhin überzeugt: Die größte Chance auf Veränderungen zum Wohle aller Menschen bietet – bei allem Reformbedarf – die multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen und internationaler Organisationen. Eine Feindschaft zwischen neuen „Blockmächten“ oder zwischen Nord und Süd kann sich die Welt nicht leisten. Wir müssen lernen, die Ressourcen unseres Planeten fair miteinander zu teilen. Die Große Transformation wird in den kommenden Jahrzehnten nur gelingen, wenn auf allen Erdteilen nachhaltige Entwicklung eine Chance hat.
Afrika hat die Wahl, mit wem es Seite an Seite in die Zukunft gehen will. Und die Menschen in Afrika sollten hinsichtlich jeder Zusammenarbeit, Chancen und Risiken kritisch prüfen. Europa, davon bin ich überzeugt, wäre eine gute Wahl für Afrika!
Europas Regierungen sind nun gefragt, mit Wort und Tat zu verdeutlichen, warum dies so ist. In den Köpfen vielfach noch immer gepflegte Traditionen kolonialer Einflusssphären gilt es aufzugeben, um zu einer gemeinsamen Afrika-Politik zu finden. Was vor 140 Jahren unter negativen Vorzeichen gelang, sollte heute unter positiven Vorzeichen möglich sein: Dass sich Europa im Geiste guten gegenseitigen Einvernehmens verständigt: Nicht über Afrika, sondern mit Afrika.
Wir Europäer müssen zeigen, dass wir mehr sein wollen und können als hochnäsige Lehrmeister in Sachen Werte und Moral. Wir müssen uns als zupackende Unterstützer bei der Umsetzung konkreter Projekte, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort und beim Aufbau fairer Lieferketten und Ausbildungsangebote erweisen. Über pragmatische „Deals“ hinaus müssen wir zeigen, dass wir verlässliche, strategische, langfristig orientierte Wegbegleiter sind.
Eine Haltung des Respekts gilt aber für beide Seiten. Wo von afrikanischer Seite Europas Werte, etwa das Eintreten für die Rechte von Homosexuellen, für die Pressefreiheit oder für die Souveränität der Grenzen der Ukraine vorschnell als „neokolonial“ gebrandmarkt werden, ist dies berechtigter Anlass für offene und ehrliche Kritik und Auseinandersetzung.
Zu einer guten Partnerschaft gehört es, füreinander aufmerksam zu sein, einander zu achten und auch: voneinander zu lernen. Heute freuen wir uns über Stimmen aus Afrika in Berlin – laut, kräftig, vielleicht auch ungeduldig oder wütend. Sie haben uns viel zu sagen. Hören wir gut zu!