Vom Stadtgespräch zum Weltgespräch

Rede anlässlich der Veranstaltung ‚Auf dem Weg zum Humboldt-Forum‘
Berlin, 30. Juni 2014



I. Phantomschmerz

Kann uns etwas schmerzen, das gar nicht da ist? Ja. Die Medizin nennt das Phantomschmerz. Kann uns auch etwas schmerzen, das vielleicht noch niemals da war? Wahrscheinlich. Vielleicht hat es noch niemals einen Dialog der Kulturen gegeben, wie ich ihn mir wünsche. Aber jedenfalls habe ich ihn oft schmerzlich vermisst.

Als Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, als Chef der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds und als Bundespräsident war ich eine Art Weltreisender in Sachen zwischenstaatliche Zusammenarbeit und nachhaltige Entwicklung. Ich habe ungezählte Projekte, Strategien, Konflikte und Verhandlungen erlebt und mich ständig damit beschäftigt, welche Gründe dabei über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Im Lauf der Zeit habe ich gelernt: Ob etwas gelang, das hing bei weitem nicht nur von Faktoren ab, die sich zählen und messen lassen. Es kam auch auf die Mentalität der Beteiligten an, auf ihren Umgang miteinander, auf die örtlichen Traditionen, auf Vorverständnisse und Lebensweisen. Es gab, lernte ich, keine Patentrezepte und erst recht keine Schnellrezepte – was sich in dem einen Teil der Welt, in dem einen Kulturkreis bewährt hatte, das konnte in einem anderen völlig unangemessen sein und scheitern. Wo, um ein Beispiel zu nennen, in dem einen Land Bewässerungssysteme aus Beton das Non plus ultra waren, da zerstörten sie in einem anderen Land die örtlichen Gemeinschaften, weil deren Zusammenhalt von der Aufgabe abhing, die – aus moderner Sicht „primitiven“ – Bewässerungskanäle gemeinsam instandzuhalten.

Mehr als einmal saß ich am Konferenztisch Menschen aus anderen Kulturkreisen gegenüber und dachte mir: Eigentlich sollten wir uns erst einmal einige Tage lang aus unserem Leben erzählen, eigentlich müssten wir uns erst einmal gegenseitig berichten, was wir zu wissen glauben und was wir erhoffen, was wir erleben und erstreben, worauf wir stolz sind und was uns ärgert. Eigentlich sollten wir erst dann mit den Verhandlungen beginnen. Vielleicht hat schon dieser Wunsch meine eigene Verhandlungsführung und den Gang der Gespräche im Laufe der Zeit ein wenig verbessert. Aber der leise Phantomschmerz war trotzdem immer da.

Auch das Humboldt-Forum im Berliner Schloss verdankt seine Entstehung einem Phantomschmerz: Die gestalterisch und gedanklich leere Mitte der Stadt schmerzte alle, die es gut mit ihr meinten. So, wie es war, konnte es nicht bleiben. So, wie es gewesen war, konnte und sollte es nicht wieder werden. Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, der Stadt die Gestalt des Schlosses wiederzugeben und dieser Gestalt mit dem Humboldt-Forum einen neuen Sinn und Lebensatem einzuhauchen. Ich hoffe zuversichtlich: Die Tage unseres Phantomschmerzes sind gezählt.

II. Eisbrecher

Sie alle kennen das Segelschiff „Alexander von Humboldt“ – es ist nämlich das Schiff mit den grünen Segeln aus einer jahrelang ausgestrahlten Bierwerbung. Ich war schon einmal zu Gast an Bord – ohne Bierwerbung. Und ich kenne noch eine zweite „Alexander von Humboldt“. Das ist ein virtuelles Schiff, und es wirkt wie ein Eisbrecher.

Entdeckt habe ich es, eher zufällig, als IWF-Chef in Südamerika. Dort ist „Working for the Yankee Dollar“ mehr als bloß eine Zeile aus einem Song der Andrew Sisters, der selbst nicht unbedingt von kultureller Einfühlsamkeit zeugte. Dort hat man den Yankee Dollar oft genug mindestens so sehr als Fluch erlebt wie als Segen, und wenn nun ich als Repräsentant der Washingtoner Finanzinstitution IWF Gespräche führte, dann war die Atmosphäre gelegentlich eisig, weil ich oft genug Unterstützung nur im Tausch gegen unbequeme Reformen anbot und weil der IWF in dem Ruf abstrakter Besserwisserei stand. Als ich dann aber einmal erwähnte, Alexander von Humboldt habe doch auch dieses Land bereist, habe seine Schönheit geschildert und seine Flora und Fauna beschrieben, habe die Sitten und Gebräuche seiner Einwohner aufgezeichnet und manches Abenteuer hier erlebt – da brach das Eis. Humboldt hatte ihre Heimat und ihre Vorfahren ernstgenommen, hatte sich ihnen unvoreingenommen genähert, hatte sie zu verstehen gesucht, ohne sie beherrschen oder ausbeuten zu wollen. Wer wie ich davon wusste und daran erinnerte und noch dazu aus Humboldts Heimat kam, der war womöglich doch kein kalter Finanz-Technokrat, der brachte womöglich mehr mit als Forderungen und Auflagen, den wollte man aufgeschlossen anhören. So erreichten wir Zimmertemperatur im Verhandlungssaal, und ich war dankbar für den virtuellen Eisbrecher und bekam eine Ahnung davon, wie nahe Humboldt dem Ideal gekommen sein muss, dass die Kulturen der Welt einander respektieren und voneinander und miteinander lernen sollten.

III. Durst

Seeleute wissen: Durst ist schlimmer als Heimweh. Das gilt offenbar auch für den Wissensdurst, und er hat die Gebrüder Humboldt niemals verlassen. Bei Alexander verursachte er sogar das Gegenteil von Heimweh, Fernweh; aber kein touristisches, sondern ein wissenschaftliches und ein vor allem am Zusammenhang der Erscheinungen und Kräfte interessiertes Fernweh. Sein Forschungsansatz wirkt fächerverbindend, während damals die akademischen Fächer schon auseinander zu streben begannen, und er hat als einer der letzten Gelehrten versucht, im „Kosmos“ noch einmal eine Gesamtsicht von Erde und Weltall aus einer Hand zu geben. Eine solche Gesamtschau ist heute mindestens so wünschenswert wie damals, nur dass sie heute allein als interdisziplinäre und transdisziplinäre Leistung möglich ist. Darum sollten auf dem Humboldt-Forum alle beteiligten Wissenschaften danach streben, die Erscheinungen und Zusammenhänge der Kulturen weniger zu trennen als zu verbinden, und sie sollten Brücken schlagen zwischen den Disziplinen und zwischen Experten und Laien, zwischen Labor und Wohnstube. Das alles wünsche ich mir.

Alexander von Humboldt hat bei seinen Reisen die Menschen und Kulturen als einen Teil der Natur ihrer Länder begriffen – während heutzutage die Dialektik der Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Kultur meist eher zu kurz kommt. Er hat sich mit den geschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der von ihm bereisten Neuen Welt so gründlich auseinandergesetzt wie mit ihren geographischen, physikalischen und biologischen Eigenheiten. Humboldt schrak dabei auch vor Werturteilen nicht zurück, zum Beispiel in seiner Kritik an der Sklaverei und in seiner Sympathie für die Befreiung Lateinamerikas vom Kolonialismus. Und er kritisierte nicht nur, er suchte auch zu bessern, von seinen sozialen Reformen für die fränkischen Bergleute bis zur staatsbürgerlichen Emanzipation der Juden in Deutschland und bis zu seinem erfolgreichen Einsatz dafür, dass Preußen nach britischem Vorbild jedem Sklaven per Gesetz die Freiheit gab, sowie er das Land betrat. Auch das sind gute Gründe dafür, das Forum nach den Humboldts zu benennen. Der Dialog der Kulturen soll sich um Unvoreingenommenheit und Offenheit bemühen, er lebt zuallererst vom unbefangenen gegenseitigen Zuhören und vom genauen Hinschauen. Aber zu diesem Dialog gehört nach meiner Überzeugung am Ende auch die Bewertung, welche Traditionen die Zukunft der Menschheit mitprägen sollten – und welche lieber nicht.

IV. Tupi

Tupi, Lule und Massachusetts – das ist Futter für Kreuzworträtsel. Es sind die Namen dreier ausgestorbener Sprachen, die Wilhelm von Humboldt erforscht hat. Auch sein Wissensdurst war ganzheitlich orientiert. Er war überzeugt davon, dass die „Geisteseigentümlichkeit“ und die Sprachgestaltung eines Volkes untrennbar miteinander verbunden seien, dass also alle Kulturen Zeugnisse der Sprachenvielfalt sind und diese Vielfalt der Ausdruck des immer gleichen menschlichen Geistes in seiner unendlichen Erfindungskraft. Vielfalt aus Gleichheit – das ist mehr als ein schöner Gedanke. Wenn wir die zugrundeliegende Gleichheit ernst nehmen, dann wird es zu einem Gebot, die Vielfalt zu pflegen; und wenn die Kulturen grundsätzlich so gleich sind wie die Menschen und die Sprachen, die sie hervorgebracht haben, dann ist das ein weiteres Argument dafür, eine Weltordnung anzustreben, die allen lebenden Kulturen die Chance gibt, zu bleiben, zu lernen und sich zu entwickeln. Zugleich muss sich dann jede Kultur auch die Frage gefallen lassen, ob sie selbst eigentlich ausreichend auf Nachhaltigkeit angelegt ist oder ob sie ihre eigenen materiellen und geistigen Grundlagen aufzehrt – und die von anderen Kulturen womöglich gleich mit. Das könnten spannende Themen sein auf dem Humboldt-Forum, und vielleicht hier und da unbequeme. Was aber Wilhelm von Humboldt und seine Sprachphilosophie anlangt, kann ich mir keinen besseren Ort für den Dialog der Kulturen vorstellen als Berlin, wo zum Beispiel auch wunderbare Schall-Archive zusammengetragen worden sind. Ich könnte mir hier auch eine rege Zusammenarbeit mit Instituten wie der École du Patrimoine Africain in Benin vorstellen, wo afrikanische Sprachen und Dialekte gesammelt, konserviert und erforscht werden, um die Wurzeln der eigenen kulturellen Identität besser zu verstehen. Es wäre doch schön zu erleben, wie sich hier in Berlin die Kulturen einander bitten können: Sprich, dass ich Dich sehe (Sokrates).

V. Comprehendere

In den Bonner Rheinauen gibt es einen Blindengarten. Seine Anlage und seine Pflanzen werden den Besuchern in Blindenschrift erläutert. Dort steht eine Skulptur über den menschlichen Erkenntnisprozess: Eine Gruppe Blinder erkundet einen Elefanten – der eine hält den Rüssel, die andere befühlt ein Bein, der nächste betastet ein Ohr. Sie werden zu ganz unterschiedlichen Befunden kommen, wie denn das Tier wohl aussieht, das sie vor sich haben – schlangenartig? Säulenhaft? Segelförmig? Sie alle wissen etwas über die Wirklichkeit, aber alle nur einen Teil. Am besten sprechen sie miteinander darüber, was sie gelernt haben, und tasten sich durch alle Eindrücke hindurch und vergleichen ihre Erkenntnisse, dann kommen sie dem, was wir Wahrheit nennen, am nächsten.

Ist die Menschheit auf dem Weg dahin? Ich habe Zuversicht. Heute können alle wissen: Wir leben nicht allein in unserem abgegrenzten Teil von der Welt, wir leben alle zusammen in der einen Welt, in einer unteilbaren Ökosphäre, die uns von Kontinent zu Kontinent unterschiedliche Seiten zeigt, die aber ein zusammenhängendes Ganzes ist, in dem alle Teile von allen anderen beeinflusst werden – und wir mit ihnen. Wir leben außerdem gemeinsam in einer Welt, für die das Erdzeitalter des Anthropozän angebrochen ist, die Ära der menschengemachten Veränderung des Ganzen. Wird es ein Erdzeitalter sein oder bloß eine Episode? Das hat niemand allein in der Hand – aber wir alle gemeinsam. Im Lateinischen und in den davon beeinflussten Sprachen lautet das Wort für Verstehen Comprehendere, zusammen erfassen. Für die Menschheit stimmt das im doppelten Sinn: Wir müssen die Welt als ganze zu erfassen versuchen, um sie zu begreifen und um sie nicht zu zerbrechen; und wir müssen sie gemeinsam zu erfassen versuchen, denn wenn nur einige Nationen und Kulturen das Richtige erkennen und tun, dann reicht das wahrscheinlich nicht aus, um eine gute Zukunft für alle zu sichern, ja, dann reicht es womöglich nicht einmal für die „einigen“.

Alle Kulturen der Welt sind aus dem Versuch entstanden, die Welt als ganzes und die Stellung des Menschen in ihr zu erfassen, zu deuten und zu gestalten. Jede Kultur ist ein „Weltdeutungszentrum“, Europa war immer nur eines unter vielen dieser Zentren, wenn auch streckenweise ein besonders selbstbezogenes. Kulturen neigen vermutlich von Haus aus dazu, sich für klüger, reicher und gottnäher als andere zu halten. Sie sollten lernen, sich als gemeinsam Suchende zu verstehen. Auf dem Humboldt-Forum sollte darum die Multipolarität der Welterfahrung und der Weltdeutung sichtbar werden, und wahrscheinlich werden wir dabei die eine oder andere Überraschung erleben. Ein laienhaftes Beispiel: Selbst der Cargo-Kult auf Melanesien – der Glaube, man müsse nur die Flugplätze und Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg aus Sand und Stroh nachbauen und sich die Kopfhörer der Fluglotsen aus Holz nachbasteln und überstülpen, dann werde es wieder alliierte Versorgungsgüter vom Himmel regnen – selbst dieser Cargo-Kult deutete die Welt und erhoffte sich von symbolischen Ersatzhandlungen Konsum im Überfluss, die Rückkehr der Ahnen-Götter, ein gutes Leben. Nur: Hängen nicht auch die westlichen Industrienationen einem Cargo-Kult an und erwarten von immer mehr Gelddrucken und Produktion die Erlösung im Konsum?

Jedenfalls haben alle Kulturen es verdient, ihre Antworten auf die Welt zu studieren und zu vergleichen; und alle Kulturen sind gut beraten, sich bei den anderen umzusehen. Das Humboldt-Forum Berlin sollte ein Ort sein, an dem sich die Kulturen über ihr Weltwissen und das Weltwissen der anderen unterrichten können; ein Ort, an dem sie nachvollziehen können, wie sie wurden, was sie sind, und mit welchen Errungenschaften sie gemeinsam weiterbauen können, um die Welt zu bewahren und zu verbessern. Das Humboldt-Forum könnte so etwas sein wie ein Global Common Good: Eine aufgespeicherte und gerettete Fülle von Kulturzeugnissen, ein Erbe der Menschheit, das für alle bewahrt wurde und nun allen offensteht und sich durch das Interesse, das Studium und den Dialog Aller vermehrt. Das Forum bietet tausend Chancen, um sich besser kennenzulernen und ein friedliches und produktives Miteinander einzuüben. Ich verspreche mir zum Beispiel auch viel von einem herrschaftsfreien Dialog, wie die Kulturen jeweils mit öffentlichen Gütern wie Wasser, Weideland und Rechtssicherheit umgehen. Und von da eröffnen sich dann vielleicht auch neue Zugänge zu der Frage, wie sie künftig gemeinsam die globalen öffentlichen Güter wie Klima, Artenreichtum, Trinkwasser, Menschenrechte und Frieden wahren und vermehren können. Comprehendere kann auch bedeuten: gemeinsam anpacken.

VI. Schloss Kurzweil

Als die Humboldts noch junge Burschen waren, lebte die Familie in Berlin. Sonntags ritt man auf den Herrensitz nach Tegel. Alexander nannte ihn „Schloß Langweil“. Einer meiner Wünsche an das Humboldt-Forum lautet: Schloss Kurzweil, bitte!

Das heißt: Keine Musealisierung im schlechten, angestaubten Sinn, und keine Ästhetisierung von Kulturgütern, weil diese Artefakte nicht wegen ihres Dekors gebraucht und verehrt wurden, sondern wegen ihres Gebrauchs und ihrer Verehrung verziert. Das Humboldt-Forum soll die Kulturen möglichst lebendig zeigen und als lebendig erweisen, denn Kultur ist Leben. Es soll die Besucher zu Ahs und Ohs hinreißen, denn Emotion hilft lernen, und Staunen steht am Anfang aller theoretischen Neugier. Ich bin kein Fachmann für museumspädagogische Fragen, aber es geht mir wie dem englischen Lordrichter mit dem Elefanten (um noch einmal auf dieses Thema zurückzukommen). Der Richter soll gesagt haben: Ich kann einen Elefanten nicht gut beschreiben, aber ich weiß, wenn einer im Saal ist. So ähnlich geht es mir mit Präsentationen – und glauben Sie mir, ich habe einige erlebt, schon weil viele Staats- und Arbeitsbesuche auch ein „Kulturprogramm“ haben, das dann gern in Ausstellungen und Besichtigungen aller Art führt. Also: Ich kann nicht beschreiben, wie eine Verlebendigung ferner und alter und fremder und vertrauter Kulturen aussieht – aber ich weiß es genau, wenn sie gelungen ist, und solchen Erfolg wünsche ich mir auch vom Humboldt-Forum.

VII. Weltgespräch

Die Neuerrichtung des Schlossgebäudes, die teilweise Wiederherstellung seiner historischen Fassaden, der Bestimmungszweck des Neubaus in der alten Mitte Berlins – das alles war jahrelang Stadtgespräch. Es ist darum so lange und intensiv gerungen worden, dass mancher nur halb im Spaß meinte, des Schlosses bedürfte es gar nicht mehr, die Debatte stehe dafür. Es war ein ernsthaftes Stadtgespräch, und es fand Aufmerksamkeit über die Stadtgrenzen hinaus, aber es blieb doch vor allem eine Sache der Hauptstadt, des Landes Berlin und der hier versammelten Bundesorgane und der Kulturkorrespondenten der Hauptstadtpresse. Das ist nicht wenig – ein kleiner Tiger ist auch ein Tiger, sagen die Franzosen zurecht.

Aber die Zeit des Stadtgesprächs liegt hinter uns, und das ist auch gut so. Jetzt sollte das Weltgespräch beginnen, jetzt sollte Berlin zum Fundus und zur Bühne werden für das Miteinander der Kulturen. Ich erwarte mir davon eine unerhörte Steigerung der vitalen Kräfte dieser Stadt und unseres Landes. Ich erwarte mir davon ein ideelles Gegengewicht gegen einen Zugriff auf die Welt, der hauptsächlich auf Macht, Geld und Einfluss aus ist – und dessen Versuchung Berlin ja auch erlegen ist zwischen Kongo-Konferenz (1884/85) und der Befreiung vom Nationalsozialismus (1945). Aus der Mitte Berlins kann ein neuer „Fluss entspringen“, ein Strom von Aussagen und Eindrücken und Erkenntnissen. Hier werden Schätze ausgebreitet sein, deren Studium ungeahnte neue Einsichten verspricht, wie der Mensch lebt und welche Stellung in der Welt ihm frommt. Hier werden wir durstig gemacht werden, wissensdurstig, und hier können Eispanzer gebrochen werden, die dem offenen Gespräch und dem gemeinsamen Lernen den Weg versperren. Hier werden Bilder und Gedanken so lebhaft zirkulieren, wie es im Zeitalter der Globalität nötig ist, um mit dieser Globalität innerlich Schritt zu halten und in ihrem Wirbel eben gerade nicht schwindlig zu werden, sondern Bodenhaftung zu behalten. Denn interkulturell geprägt werden wir alle nolens, volens seit langem – dafür sorgt schon der Kapitalismus allerorten; aber die gewollte, bedachte, lernende Interkulturalität, die muss aufholen. Planetarische Markennamen mit weltweit hohem Wiedererkennungswert und planetarische Wertschöpfungsketten gibt es längst, aber ein weltweites Bewusstsein vom Wert der Kulturen, von ihrer Vielfalt und von den gemeinsamen, planetarischen Aufgaben, vor denen sie stehen, ein solches Bewusstsein fehlt noch, eine solche geistige Wertschöpfungskette entsteht erst. Die Arbeit daran wird alle an ihr Beteiligten verändern, aber Mahatma Gandhi hat mit Recht gesagt: „No culture can live if it attempts to be exclusive.“ Wir brauchen den Dialog der Kulturen für die weltweite Transformation hin zur Nachhaltigkeit und zur Verwirklichung der Menschenrechte für alle, ohne die das Anthropozän eine zerstörerische Episode sein wird. Wir brauchen das Weltgespräch der Kulturen, um die internationalen Beziehungen mit einem Geist der Partnerschaft zu erfüllen, ohne die es keine gute globale Entwicklung geben kann.

 

Im vergangenen Jahr habe ich in einer internationalen Arbeitsgruppe mitgearbeitet, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen berufen hatte. Wir sollten kühne und doch praktikable Zielvorstellungen vorschlagen für eine gute Entwicklung der Welt (Post-2015 Agenda). In der Diskussion wurde uns bewusst: „business as usual“ reicht nicht mehr aus. Nötig ist vielmehr ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik. Wir verstehen darunter einen neuen Geist der Solidarität, der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht. Diesen Geist oder dieses neue Leitmotiv in der internationalen Politik haben wir als globale Partnerschaft bezeichnet. Es ist die logische Konsequenz: materiell aus der Angewiesenheit aller Nationen auf die Erhaltung unserer Ökosphäre, rechtlich aus der universellen Geltung der Menschenrechte, ethisch aus der weltweiten Anerkennung der Goldenen Regel, nicht anderen zuzufügen, was man selber nicht erleiden will, kulturell: aus der Erkenntnis, dass die Vielfalt der Kulturen Ausdruck der Einheit der Menschlichkeit und der Menschheit ist. Wir hätten alles das auch mit einem Wort Wilhelm von Humboldts begründen können, das Alexander im „Kosmos“ zustimmend wiederholt hat: „Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist; wenn irgendeine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher missverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist: so ist es die Idee der Menschheit, das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln. Es ist dies das letzte, äußere Ziel der Geselligkeit und zugleich die durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte Erweiterung seines Daseins.“ Die Humboldts beschreiben damit den Kerngedanken der epochalen Transformation, die nötig und möglich ist, um im 21. Jahrhundert eine gute Zukunft für alle zu gewinnen.

 

Überfrachte ich das Humboldt-Forum, wenn ich von ihm einen wichtigen Beitrag zu einer solchen neuen, menschheitlichen Bewusstseinsbildung erhoffe? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass zu dem Schiff mit den grünen Segeln und zu meinem virtuellen Eisbrecher hier in Berlin ein drittes Gefährt hinzukommen kann, ein Gefährt, auf dem die Kulturen miteinander die Segel setzen in der schönen und aufregenden Erkenntnis: Wir sind alle in einem Boot!