Zur bleibenden Bedeutung der Kriegsgräberfürsorge

Parlamentarischer Abend Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
Berlin, 21. Juni 2023



„Weit in der Champagne im Mittsommergrün
Dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blüh’n
Da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht
Im Wind, der sanft über das Gräberfeld streicht
Auf deinem Kreuz finde ich, toter Soldat
Deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat
Die Zahl neunzehnhundertundsechzehn gemalt
Und du warst nicht einmal neunzehn Jahre alt“
Die gerade zitierten Verse stehen am Beginn eines Liedes von Hannes Wader. Er nimmt uns darin mit an eines von Millionen Kriegsgräbern. Und wer einmal eine der vielen Kriegsgräberstätten des Ersten Weltkriegs besucht hat, wird sich erinnern: an den Schauer, der einem über den Rücken fährt, wenn man in die schier endlosen Reihen von Kreuzen oder einfacher Grabsteine blickt. An das Erschrecken angesichts viel zu kurz gelebter Leben, die durch Krieg und Gewalt ein jähes Ende fanden. Allenfalls ihre Namen, das Jahr ihrer Geburt und ihres Todes zeugen noch von ihrer Existenz. Die oft malerischen Landschaften und die Ruhe, in die die Gräberfelder gebettet sind, stehen in anklagendem Widerspruch zu dem, was einst an diesen und um diese Orte geschah: Damals war kein Friede, damals waren Krieg und Gemetzel.
Der Liedermacher Hannes Wader überschrieb seine Strophen mit dem Titel: „Es ist an der Zeit“. Das war im Jahr 1980. Es war die Zeit, in der sich in Westdeutschland eine in ihrem Ausmaß ungeahnt große Friedensbewegung formierte, die entschieden gegen den NATO-Doppelbeschluss und die atomare Aufrüstung in Europa und den USA protestierte. Hunderttausende gingen damals auf die Straßen. – Aus Sorge, dass aus dem Kalten Krieg ein Heißer Krieg werden könnte, dessen Folgen angesichts atomarer Bewaffnung noch viel fataler als die beider Weltkriege wären. Sollte die Welt zu einem einzigen Gräberfeld werden?
Die Katastrophe blieb aus. Was am Beginn der 1980er Jahre von vielen als eine Bedrohung für den Frieden wahrgenommen wurde, wird heute von manchen als ein Schlüssel für den Fall des Eisernen Vorhangs betrachtet. Auf das massive Wettrüsten in den 1980er Jahren folgte – in West wie Ost – ein breites Abrüsten. Eine Welt ohne atomare Bedrohung, ein goldenes Zeitalter des Friedens und internationaler Verständigung schien greifbar.
Der Optimismus von damals aber ist verflogen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt dazu, die Frage, was es für verlässliche Sicherheit und dauerhaften Frieden in Europa braucht, neu und dringlicher zu stellen. Eine erste Antwort gab schon wenige Tage nach dem 24. Februar des vergangenen Jahres Bundeskanzler Olaf Scholz, als er im Deutschen Bundestag von einer „Zeitenwende“ sprach und ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr ankündigte. – „Es ist an der Zeit“: Deutschland muss bereit sein, mehr als bislang in die Erhaltung seiner Wehrfähigkeit zu investieren. Dabei geht es aber nicht nur um Investitionen im Rüstungsbereich, also um die „Hardware“ für die Truppe. Nein: Es geht auch um die „Softpower“, die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr als „Staatsbürger in Uniform“ (Wolf Graf von Baudissin) ebenso wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land brauchen: Die Wehrfähigkeit unserer Demokratie und unseres Staates lebt auch und besonders von der Besinnung auf die Werte, die uns wichtig sind, vom Gewahrsein, woher unsere Demokratie kommt und welche Gefahren ihr drohen und von einer klaren Vorstellung, welche Ziele unser Staat verfolgt: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit, ein Leben in Würde für alle, die hier wohnen.
Aktuell liefert Deutschland, gemeinsam mit vielen weiteren NATO-Partnern, Waffen in die Ukraine, damit diese sich gegen den Aggressor Russland zur Wehr setzen kann. Ich halte diese Unterstützung für geboten und für notwendig. Die Entscheidung für Waffenlieferungen verpflichtet aber auch dazu, an diejenigen zu denken, die diese Waffen zum Einsatz bringen und ebenso an jene, die ihre Opfer werden. Wolf Graf von Baudissin, einer der geistigen Väter der Inneren Führung der Bundeswehr schrieb 1954: „Je tödlicher und weitreichender die Waffenwirkung wird, um so notwendiger wird es, daß Menschen hinter den Waffen stehen, die wissen, was sie tun. Ohne die Bindung an die sittlichen Bereiche droht der Soldat zum bloßen Funktionär der Gewalt und Manager zu werden […]. Er wird zum Legionär, d.h. zum Diener jedes Regimes und damit zur Gefahr für die Gemeinschaft.“
Wie diese „Legionäre“ von heute aussehen, zeigt ein Blick auf das Morden der Söldnertruppe Wagner. Hier scheint das von Baudissin geforderte geistige Rüstzeug, „die Bindung an die sittlichen Bereiche“, völlig zu fehlen. Für solche Bindung braucht es ethisch-moralische Bildung, braucht es ein Verständnis vom unbezahlbaren Wert von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von der Würde des Menschen und dem Wert jedes einzelnen Lebens. – Die Militärseelsorgen der beiden Kirchen leisten hier einen unverzichtbaren Beitrag. – Und es braucht Orte, an denen wir erkennen und einsichtig werden, welche Folgen jeder Krieg hat. Kriegsgräberstätten sind solche Orte.
Wenn ich heute zu Ihnen über die Bedeutung der Kriegsgräberfürsorge im Lichte der Zeitenwende spreche, dann deshalb, weil ich überzeugt bin, dass die Arbeit des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die angesprochene „Softpower“, d.h. für die ethisch-moralische Bildung einer wehrhaften Demokratie von großer Bedeutung ist. Lassen Sie mich dies im Folgenden ausführen, wenn ich auf die Geschichte des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge blicke und die Erfolge und den Wert dessen Arbeit einzuordnen versuche.
Die sterblichen Überreste im Krieg gefallener Soldaten, auch der zivilen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, angemessen zu bestatten und ihre Gräber zu schützen und zu pflegen, ist eine zivilisatorische Errungenschaft der Moderne. Es mag uns heute selbstverständlich erscheinen, dass denen, die – oft auf grausame Weise – im Krieg ihr Leben lassen, wenigstens im Tod Zuwendung und Sorge widerfahren, dass die Angehörigen einen Ort finden, an dem sie ihren schmerzlichen Verlust betrauern können. Doch wozu Respekt vor den Verstorbenen und Anstand gegenüber den Hinterbliebenen gleichermaßen auffordern, war und ist keine Selbstverständlichkeit. Die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Kriegsgräberfürsorge überhaupt möglich werden kann, ist ein Akt humanitären Fortschritts.
Eine Verpflichtung zum Schutz von Soldatengräbern findet sich erstmals im Vertrag zum „Frieden von Frankfurt“, der im Mai 1871 formell den Deutsch-Französischen Krieg beendete. Dort heißt es in Artikel 16: „Beide Regierungen, die Deutsche und die Französische, verpflichten sich gegenseitig, die Gräber der auf ihren Gebieten beerdigten Soldaten respektieren [sic] und unterhalten zu lassen.“
Der Erste Weltkrieg konfrontierte dann die Nationen Europas und der Welt mit einem bis dahin nie gesehenen Massensterben. Zwischen 1914 und 1918 fanden mehr als 17 Millionen Menschen den Tod, darunter etwa sieben Millionen Zivilisten. Soldaten aus Europa und Übersee ließen ihr Leben, zivile Männer und Frauen, Mütter und Väter, Söhne und Töchter. Die Bilder von zerfetzten Leibern und entstellten Gesichtern von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs haben sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Der gewaltsame Tod der vielen Opfer, die dieser durch „Schlafwandler“ (Christopher Clark) ausgelöste Krieg forderte, hatte nichts von einem würdigen Sterben. Familien und Angehörige blieben über das Schicksal ihrer Lieben an der Front oft in zermürbender Ungewissheit. Der schonungslose Stellungskrieg ließ viele versehrt in die Heimat zurückkehren, tot aber nur in Einzelfällen. Es war unmöglich, bisweilen auch verboten, die Leichname der Gefallenen in ihre Städte und Dörfer zu überführen, sofern sich ihre Überreste überhaupt identifizieren ließen.
Die Frage, wie mit den Gräbern der Toten, die oft fernab ihrer Heimat starben, umzugehen sei, bewegte alle Kriegsparteien, die Politik und noch viel mehr die Bevölkerungen. So überrascht nicht, dass auch der Versailler Vertrag Regelungen zum Umgang mit den Kriegsgräbern enthält. In ihm verpflichteten sich die Regierungen beider Seiten, dass „die Grabstätten […] mit Achtung behandelt und instandgehalten werden“ (Art. 225) und Informationen über die Identität der Verstorbenen, ihre Zahl und ihre Gräber ausgetauscht werden (vgl. Art. 226). Damit war zwar eine völkerrechtlich bindende Regelung geschaffen, die den Schutz der Kriegsgräber auch im Ausland garantierte. Es blieb jedoch unklar, welche staatlichen Stellen der Aufgabe der Kriegsgräberfürsorge nachkommen könnten und wie die in so vielen Bereichen stark geforderte Regierung der jungen Weimarer Republik dazu Ressourcen bereitstellen könnte.
In dieser Situation wurde im Dezember 1919 hier in Berlin der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. gegründet. Er setzte sich zum Ziel, staatliche Stellen darin zu unterstützen, die Gräber der deutschen Kriegstoten im Ausland zu erfassen, zu erhalten und zu pflegen. Wie sehr dieses Ziel Anerkennung fand, zeigt das rasante Wachstum des Vereins: In den ersten zehn Jahren seines Bestehens wuchs die Zahl der Mitglieder des Volksbunds auf über 133.000. Aus einer in den Anfängen privaten Initiative wurde eine beachtliche „Bewegung von unten“. Heute würden wir von bürgerschaftlichem Engagement sprechen, dem sich der Volksbund verdankt. Seit jeher finanzierte sich der Verein maßgeblich über Mitgliedsbeiträge und Spenden.
Kriegsgräberfürsorge ist für den modernen Staat, der seine Bürger zum Kriegsdienst ruft, keine Wahloption, sondern ein Gebot der Menschlichkeit. Auch der Staat steht in der Pflicht, das Andenken an die Opfer von Krieg und Gewalt zu bewahren. Wo er in dieser Aufgabe durch Kirchen oder Vereine wie dem Volksbund unterstützt wird, ist er ihnen zu Dank verpflichtet. Die Arbeit des Volksbunds ist ein gelungenes Beispiel für Subsidiarität: Der Staat muss und soll nicht alle Aufgaben für die Gemeinschaft übernehmen. Er kann, darf und soll mit der partnerschaftlichen Unterstützung durch Kirchen, Vereine und Verbände rechnen und er tut gut daran, diese wertzuschätzen.
Wir Deutsche haben in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zweimal erlebt, wohin es führt, wenn ein Staat für sich beansprucht, möglichst alle Bereiche des Lebens zu durchdringen und den Einfluss unabhängiger Akteure zurückzudrängen. Die Folgen waren sowohl im nationalsozialistischen Staat als auch in der DDR fatal.
Zwar blieb der Volksbund in der dunklen Ära des Nationalsozialismus formal unabhängig von der NSDAP, aber er verknüpfte seine Arbeit bereitwillig mit nationalsozialistischer Ideologie wie dem Heldenkult. So wurden etwa in Straßengefechten der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg getötete Nationalsozialisten als „Blutzeugen“ gehuldigt und hörbarer Widerspruch blieb aus, als der in der Weimarer Zeit als nationaler Gedenktag etablierte Volkstrauertag von Nationalsozialisten in „Heldengedenktag“ umbenannt und für propagandistische Zwecke missbraucht wurde. Nicht unbegründet war also die Entscheidung der Alliierten, den Volksbund unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, zu einer Zeit, wo seine Arbeit eigentlich dringend gebraucht wurde, aufzulösen.
Heute stellt sich der Volksbund diesem dunklen Kapitel seiner Geschichte im Nationalsozialismus und wirkt an dessen Aufarbeitung mit. Dies kann er selbstbewusst tun, gerade auch mit Blick auf die Leistungen nach seiner Neugründung in den drei westlichen Besatzungszonen ab 1946. Binnen weniger Jahre legte der Volksbund mehr als 400 Kriegsgräberstätten in Westdeutschland an. Ab 1954 übernahm er dann im Auftrag der Bundesregierung die Suche nach den Gräbern deutscher Soldaten im Ausland, ihre Umbettung sowie die Errichtung und Pflege der Kriegsgräberstätten im Ausland.
Diese wichtige Arbeit war dem Volksbund in der Zeit des Kalten Krieges in der DDR und in den Staaten des Ostblocks verwehrt. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte das wiedervereinigte Deutschland mit einer ganzen Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten bilaterale Kriegsgräberabkommen treffen, die die Voraussetzung schufen, damit der Volksbund auch dort seine Arbeit aufnehmen konnte. Sage und schreibe 331 Friedhöfe des Zweiten Weltkriegs und 188 Anlagen aus dem Ersten Weltkrieg konnte der Volksbund seit 1991 in
Ost-, Mittel- und Südosteuropa wiederherrichten oder neu anlegen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zwei aktuelle Beispiele nennen, die verdeutlichen, dass die Fürsorge für Kriegstote, der sich der Volksbund widmet, auch heute noch von Bedeutung ist.
Ende Mai stießen Bauarbeiter beim Ausheben einer Baugrube in Auchy-les-Mines, einer Gemeinde im Nordwesten Frankreichs, auf Teile eines deutschen Soldatenfriedhofs aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Der Volksbund stellte binnen weniger Tage ein Team zusammen, das einen französischen Archäologen und zwei britische Anthropologinnen vor Ort bei der „Notausbettung“ der Gebeine unterstützte. Deutsche, Franzosen und Briten, die sich in der Geschichte immer wieder feindlich gegenüber standen, arbeiten dort jetzt zusammen, um die Überreste der Verstorbenen zu bergen, zu identifizieren und sie andernorts würdig zu bestatten.
Beispiel zwei: Im vergangenen Jahr wurden – trotz des gegenwärtigen Krieges – allein in Russland und der Ukraine die Überreste von 6.700 Wehrmachtssoldaten geborgen, davon 5.000 auf russischem und 1.700 auf ukrainischem Gebiet. – Sie, lieber Herr Schneiderhan, wissen davon zu berichten, dass ukrainische Soldaten beim Ausheben eines Schützengrabens auf die Gebeine deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg stießen und diese Überreste dem Volksbund übergaben. Hier und anderswo bleibt die Arbeit des Volksbunds und seiner mehreren tausend ehrenamtlichen sowie rund 500 hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefragt. – Eben nicht allein mit Blick auf die Erhaltung und Pflege bestehender Kriegsgräber, sondern noch immer auch mit Blick auf die Bergung, Identifizierung und ggf. Umbettung von Kriegstoten beider Weltkriege und die Aufklärung von Einzelschicksalen. Dies gilt insbesondere für die Arbeit des Volksbunds in den osteuropäischen Staaten, wo allein im Zweiten Weltkrieg etwa drei Millionen deutsche Soldaten starben.
Einer von ihnen war übrigens August Waigel, der Bruder des ehemaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel. Sein Leben endete mit nur 18 Jahren am 30. September 1944 an der Westfront. Auf dem Soldatenfriedhof Niederbronn im Elsass fand er seine letzte Ruhestätte als einer von 15.000 Soldaten, die dort begraben liegen. Von Theo Waigel weiß ich, wie wichtig für seine Familie und ihn das Wissen war, dass es für den in Frankreich gefallenen Bruder einen Ort des Erinnerns und Gedenkens gibt. Auf dem Grabstein August Waigels finden sich übrigens immer wieder Euromünzen. Sie zeigen bekanntlich neben nationalen Symbolen auf der einen, stets Europa auf der anderen Seite. Darin bezeugt sich für mich auch eine Zustimmung zur europäischen Einheit als großes Friedensprojekt. Ob im Leben Theo Waigels oder Helmut Kohls: Für beide war die Erinnerung an den im Krieg gefallenen Bruder ein entscheidender, vielleicht sogar der entscheidende Grund, um vehement für die Idee eines geeinten Europa politisch zu streiten. Niemand behaupte, dass die Verstorbenen keine Stimme hätten! Ihre Botschaft gegen Krieg und Nationalismus war und bleibt unüberhörbar.
Der Krieg in der Ukraine zeigt erneut: Kriegsgräberfürsorge ist kein Relikt aus dem 20. Jahrhundert. „Es ist“ – leider wieder – „an der Zeit“, in Europa Kriegstote zu betrauern. Angesichts der vielen militärischen und zivilen Opfer, die der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schon gefordert hat und noch immer fordert, muss man kein Prophet sein, um festzustellen, dass das Wissen um die Errichtung und Pflege von Kriegsgräberanlagen und das Know-How für die pädagogische Nutzung dieser Orte als Lernorte der Geschichte in Zukunft weiter von Wert ist. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat sich seit vielen Jahrzehnten als hilfsbereiter und kompetenter Partner von Kriegsgräberfürsorgeorganisationen im Ausland bewährt. Die Expertise seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist gefragt und geschätzt.
Worin besteht diese Expertise? – Um es gleich vorweg zu nehmen: Sie geht weit über das Rasenmähen im Frühling und das Laubharken im Herbst hinaus. Denn schon lange sind die vom Volksbund betreuten Kriegsgräberstätten mehr als nur gepflegte Friedhöfe mit der Besonderheit eines dauernden Ruherechts.
Kriegsgräberstätten im In- und Ausland werden vielerorts dank der engagierten Arbeit des Volksbunds und seiner ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Orten des kollektiven Erinnerns und Gedenkens und des Lernens. Insbesondere die seit vielen Jahrzehnten vom Volksbund unter dem Motto „Versöhnung über den Gräbern“ initiierte Jugend-, Schul- und Bildungsarbeit spielt dabei eine sehr große Rolle. Die Arbeit mit internationalen Jugendgruppen auf Kriegsgräberstätten schafft ein Bewusstsein für den Wert des Friedens in Europa. Die Projekte bringen junge Menschen aus einst verfeindeten Staaten zusammen und lassen sie gemeinsam Gutes tun: „Arbeit für den Frieden“. In den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Deutschland unterhält der Volksbund vier eigene Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten, die seit Anfang der 1990er Jahre über 321.000 junge Menschen beherbergten und die allein im vergangenen Jahr fast 23.000 Übernachtungen zählten. Hier kommen Jugendliche aus allen Ländern Europas zusammen, Vorurteile werden abgebaut, gegenseitiger Respekt und Verständigung miteinander gefördert, Demokratie- und Friedensengagement gestärkt, internationale Netzwerke aufgebaut.
Ich selbst konnte diese Friedensarbeit erleben, als ich im September 2005 gemeinsam mit dem damaligen Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff, die vom Volksbund geführte Jugendbegegnungsstätte Golm auf Usedom besuchte. Die Begegnungsstätte liegt unweit der letzten Ruhestätte von über 20.000 Menschen, die beim Bombenangriff auf Swinemünde im März 1945 ihr Leben verloren. An diesem Ort traf ich polnische Pfadfinder und Sportler, die sich dort gemeinsam mit jungen Menschen aus Deutschland ehrenamtlich engagierten. Ich erlebte – trotz Sprachbarriere – Verständigung über den Gräbern.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier charakterisierte die Kriegsgräberfürsorge beim Empfang zum 100. Jubiläum des Volksbundes im Juni 2019 als „Beziehungspflege“: „Beziehungspflege mit unseren Nachbarstaaten in Europa, die Deutschland einst überfallen hat.“ Viele der deutschen Kriegsgräberstätten, die der Volksbund betreut, liegen in Ländern, in denen wir Deutsche im Krieg schreckliche Verbrechen begangen haben. Wir hatten kein Recht, die Grenzen dieser Länder zu missachten und unsagbares Leid über ihre Bevölkerung zu bringen. „Kann man da überhaupt öffentlich der eigenen Opfer des Krieges gedenken?“, mag man kritisch fragen. Ich meine: Ja, man kann und man soll. Und weiter antworte ich mit den Worten des evangelischen Theologen Richard Schröder: „Auch wer sich schuldig gemacht hat als Kriegsverbrecher bei Erschießungskommandos, in Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung, durch Gewalt gegen Gefangene, hätte so nicht sterben sollen. Er hätte lebend vor seinen irdischen Richter gehört. Wir werden ihn nicht ehren, aber doch auch über ihn trauern. Auch er war ein Mensch wie wir. Die Trauer wird sich hier allerdings verbinden mit der Frage: Warum hast du das getan? Warum hast Du die Würde des Menschen mit Füßen getreten – die Würde des Opfers und deine eigene Würde?“
Kriegsgräberstätten im In- und Ausland geben Anlass über die Würde des Menschen nachzudenken, über die Würde der Lebenden, aber auch über die Würde der Verstorbenen. Sie zeigen, dass wir es ernst meinen mit dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes, der alle staatliche Gewalt zu Schutz und Achtung der Würde des Menschen verpflichtet. Überdies spiegeln die deutschen Friedhofsanlagen in ihrer zumeist bescheidenen Schlichtheit im Ausland auch etwas von den Stärken, die wir als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen haben: Dazu gehört sicher unsere Bereitschaft, alle Opfergruppen der Kriege in den Blick zu nehmen und auch die Fähigkeit, eigenes Versagen und unsere Schuld an den verheerenden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu benennen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass die Arbeit des Volksbunds und seiner ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für unser Land von hohem Wert ist. Sagen will ich heute Abend aber auch: Diese Arbeit ist kein Selbstläufer und sie führt zu Kosten. Zu mehr als zwei Dritteln finanziert sich der Volksbund aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat der Volksbund rund 750 Millionen Euro an Spendengeldern für seine Kernaufgabe, die Kriegsgräberfürsorge, eingeworben. Doch der Verein kämpft seit langem mit einem kontinuierlichen Mitgliederschwund. Zählte der Volksbund in den 1960er Jahren noch knapp 700.000 Mitglieder, so sind es heute nur noch rund 70.000. Tendenz fallend. Und auch das Spendenaufkommen geht zurück.
Für die dauerhafte Pflege und Betreuung von mehr als 830 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten, auf denen rund 2,8 Millionen Kriegstote bestattet wurden, benötigt der Volksbund langfristige Finanzierungssicherheit. Der Bundestag hat im Jahr 2002 für die Auslandsarbeit des Volksbunds angemessene Unterstützung zugesagt, die durch Zuwendungen des Auswärtigen Amtes auch erfolgt. Dringlich aber ist angesichts eines schwindenden Spendenaufkommens nun auch eine institutionelle Sicherung der Arbeit des Volksbunds im Inland und insbesondere Hilfe bei der Finanzierung der bundesweiten Gedenk- und Bildungsarbeit auf den heimischen Kriegsgräberstätten.
Wollen wir als Gesellschaft, dass der Volksbund seinem wichtigen Auftrag auch in Zukunft noch uneingeschränkt nachkommen kann? Wollen wir neben der Kriegsgräberfürsorge auch die Bildungs- und Jugendarbeit langfristig sichern? Wollen wir Kriegsgräber im In- und Ausland als Orte des Erinnerns und Gedenkens, des Mahnens, aber auch als Orte der Begegnung, des Lernens und Begreifens, bestenfalls sogar der Versöhnung erhalten? Diesen Fragen sollten sich Bundesregierung und Deutscher Bundestag stellen, wenn sie über die Mittelzuweisungen für den Volksbund beraten und über eine neue Architektur der Kriegsgräberfürsorge nachdenken. Und ich begrüße Ihren Vorschlag, lieber Herr Schneiderhan, dass sich eine interfraktionelle Arbeitsgruppe des Bundestages mit diesen und weiteren Fragen die Kriegsgräberfürsorge betreffend beschäftigt. Denn auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten auf Grundlage des 1952 vom Bundestag verabschiedeten Gräbergesetzes und bilateraler Kriegsgräberabkommen viel für die Kriegsgräberfürsorge im In- und Ausland getan werden konnte, zeigten sich in den vergangenen Jahrzehnten doch deutliche Schwachstellen im System: Ich nenne als Beispiele nur den Flickenteppich an Zuständigkeiten für die etwa 12.000 Kriegsgräberstätten im Inland, die zumeist bei regionalen Trägern, den Kommunen und Gemeinden, liegen. Während die Gesetzgebungszuständigkeit beim Bund liegt, haben die Länder die Verwaltungskompetenz. Ausländische Kriegsgräberorganisationen suchen oft vergeblich nach zentralen Ansprechstellen für ihre Anliegen in Deutschland. Der Volksbund übernimmt in dieser Hinsicht häufig eine wichtige Vermittlungsfunktion, doch erstreckt sich sein Mandat allein auf die Kriegsgräberfürsorge im Ausland. Seine Inlandsarbeit und dies betrifft auch die so wertvolle Bildungs- und Jugendarbeit wird bis heute nicht gefördert. Wünschenswert wäre auch ein zentrales Auskunftsregister für die in Deutschland bestatteten Kriegstoten, das immer noch fehlt.
Die hier zum Schluss meiner Rede nur angedeuteten Schwachstellen im System der deutschen Kriegsgräberfürsorge lassen sich durchaus beheben, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Ich bin mir sicher, dass der Volksbund als erfahrener Partner den Parlamentariern mit Rat und Tat zur Seite stehen wird.
Meine Damen und Herren, „es ist an der Zeit“: Knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und während auf den Schlachtfeldern von einst in der Ukraine erneut ein Krieg tobt, müssen wir neu darüber nachdenken, was die wehrhafte Demokratie braucht.
Fürsorge für die Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft kennt keinen Schlussstrich. Sie bleibt unverzichtbar. Die Gräber der Kriegstoten brauchen nicht nur physisch greifbare Orte in unserer Welt, sondern auch einen festen Ort in unserem kollektiven Gedächtnis. Und: Die sorgende Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt ist nicht allein Sache von Familien und Freunden. Sie geht unser ganzes Volk an – nicht nur mit Blick auf die Toten der beiden Weltkriege, sondern auch mit Blick auf die in Auslandseinsätzen der Bundeswehr ums Leben gekommenen Soldatinnen und Soldaten. Es sagt viel über uns aus, wie wir unsere Toten behandeln. Und es sind die Toten, die uns Lebenden Mahnung sind. So bleibt der Aufruf, den Bundespräsident Theodor Heuss einst formulierte, aktuell: „Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, daß Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.“
Im Refrain von Hannes Waders Lied „Es ist an der Zeit“ heißt es von dem unbekannten Soldaten: „Und du hast ihnen alles gegeben, Deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.“ – Was sind wir, was ist unsere Demokratie heute bereit, für das Andenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und das Lernen aus Krieg und Gewaltherrschaft zu geben? Meine Damen und Herren Abgeordnete, ich bitte Sie um Ihre Unterstützung für die Arbeit des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge und um ein offenes Ohr für dessen Anliegen. Es ist Friedensarbeit.